Rangeln mit Respekt: Judo im Ganztag : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Wer die Werte und Effekte des Judosports kennt, kann sehr gut nachvollziehen, warum er ein bereicherndes Element des Ganztags ist. Oliver Pietruschke, Schulsportreferent des Deutschen Judo-Bundes, im Interview.
Online-Redaktion: Was antworten Sie einem Judoverein, der fragt, warum er sich in einer Ganztagsschule engagieren soll?
Oliver Pietruschke: Zunächst einmal: Unser Bundesverband und alle Landesverbände verstehen sich als Dienstleister der Vereine. Das heißt, wir nutzen unsere Kontakte und Netzwerke, um Türen zu öffnen. Die Vereine entscheiden aber selbstständig über ihre Angebote. Als Verband sind wir überzeugt, dass Ganztagsschulen als der Lebensmittelpunkt der jungen Generation eine riesige Chance darstellen, die eigene Sportart interessant zu machen, Bewegung zu fördern, aber auch neue Mitglieder zu gewinnen. Sportvereine, auch in unserer Sportart Judo, sind inzwischen ein fester Bestandteil der Bewegungsangebote von Schulen. Ich würde also antworten, dass jeder Verein diese Möglichkeit unbedingt nutzen sollte, Angebote für Schulen zu machen. Bei Fragen dazu unterstützen wir unsere Vereine gerne.
Online-Redaktion: Sehen die Vereine das auch so?
Pietruschke: Das Wissen darum existiert eigentlich schon lange. Doch viele Vereine entschieden sich gegen eine Kooperation mit Ganztagsschulen, weil sie zum einen nicht wussten, wie sie auf die Schulen zugehen sollten. Zum anderen wurden sie von der Sorge umgetrieben, dass sie zwar gerne gesehene Anbieter beispielsweise von Arbeitsgemeinschaften sein sollten, dass sie als Verein aber selbst davon nichts hätten.
Online-Redaktion: Und diese Sicht hat sich verändert?
Pietruschke: Auf jeden Fall. Viele Vereine haben erkannt, dass sie ihren Nachwuchs und neue Mitglieder dort abholen müssen, wo sich Kinder und Jugendliche täglich aufhalten. Viele haben sich auch stärker ihres gesellschaftlichen Auftrags besonnen, der da lautet, Kinder und Jugendliche in Bewegung zu bringen und damit auf lange Sicht ein wichtiges Glied einer gesundheitlichen Präventionskette sein zu können.
Online-Redaktion: Was bieten der Bundesverband und die Landesverbände den Vereinen konkret an?
Pietruschke: Wir bemühen uns, unsere Vereine durch Fortbildungsangebote und Impulse unserer Landesverbände darauf vorzubereiten, auf die Ganztagsschulen ihrer Region zuzugehen. Dabei zeigen wir ihnen auch auf, warum sie mit dem Gedanken, sie könnten ausgenutzt werden, eher falschliegen. Da wäre es übrigens sehr hilfreich, wenn Fördermittel für die Kooperation mit Vereinen, die ehrenamtliche Kräfte einsetzen, leichter zugänglich wären. Häufig stehen für den Einsatz ehrenamtlicher Personen die Fördermittel nur zeitlich und vom Umfang deutlich begrenzter als für Hauptamtliche zur Verfügung.
Wenn aber kleine Vereine mit Übungsleiterhonoraren und Fahrtkosten aufgrund von Zeit und Entfernung übermäßig belastet werden, wird eine Kooperation zur Frage des Rechnens. Weiterhin halten wir mehr Flexibilität im Umgang mit Kooperationen für erforderlich, das heißt, ein Nachmittagsangebot sollte zum Beispiel auch im Kontext des nahegelegenen Vereinsangebotes möglich sein. Dies könnte deutliche Synergieeffekte für Schulen und Vereine bewirken. Hier geht es um rechtliche Fragen.
Unsere Fortbildungen dienen in erster Linie dazu, den Unterschied zwischen Schul- und Vereinssport und mögliche Schnittstellen zu verdeutlichen. Im Verein steht naturgemäß der leistungssportliche Gedanke im Vordergrund, in der Ganztagsschule geht es eben auch darum, die Kinder in Bewegung zu bringen und sie dabei auch für die Sportart Judo zu begeistern.
Online-Redaktion: Ist das eine Einbahnstraße, dass nur die Vereine auf die Ganztagsschulen zugehen, nicht umgekehrt die Schule auf den Verein?
Pietruschke: Häufig ist das leider so. Erst wenn bereits Kontakte bestehen, ändert sich das. In Nordrhein-Westfalen wird jedes Jahr der „Tag des Judo“ ausgerufen. Schulen schließen sich zusammen und veranstalten kleine Judo-Sumo-Turniere. Dabei geht es nur darum, auf einfachen Matten, manchmal sogar auf einer abgesteckten Fläche auf dem Hallenboden die Partnerin oder den Partner von der Matte oder eben der Fläche zu schieben oder zu ziehen. Es gibt kleine Klassen- oder Schulwettbewerbe. Mittlerweile beteiligen sich bundesweit Vereine am „Tag des Judo“, im ersten evaluierten Jahr waren 54.000 Kinder in der Schule beteiligt. Viele Schulen erkennen dabei den Mehrwert des Judosports.
Online-Redaktion: Wo liegt der Mehrwert?
Pietruschke: Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass unsere Sportart Ende des 19. Jahrhunderts als Teil eines Erziehungskonzeptes entworfen wurde. Einerseits diente Judo der körperlichen Ertüchtigung, gleichzeitig fördert das gemeinsame Üben soziale Kompetenzen, beispielsweise Verantwortung für sich und sein Gegenüber zu übernehmen. Damals wie heute trägt Judo dazu bei, spielerisch eigene Grenzen, aber eben auch die Grenzen des Gegenübers zu erfahren und zu akzeptieren. Es stärkt die Selbstwahrnehmung. Darüber hinaus kommt es dem Bedürfnis zu raufen und rangeln, das heute meines Erachtens zu häufig unterbunden wird, entgegen. Beim Judo können Kinder und Jugendliche mit viel Freude unter sicheren und klaren Regelbedingungen ihre Kräfte messen.
Online-Redaktion: Mitunter werden Sportarten als zu gefährlich und verletzungsanfällig eingestuft und deshalb von Schulen, aber auch Eltern gemieden. Ist das eine berechtigte Sorge?
Pietruschke: Die Bedenken sind nur dann berechtigt, wenn sich nicht an die Regeln gehalten wird. In Arbeitsgemeinschaften von Ganztagsschulen geht es aber weniger um die Wettkampfform als um das spielerische „miteinander Ringen“. Wir stellen den Vereinen für die Arbeit in Schulen eine Fülle von einfachen Übungen zur Verfügung, erläutern diese in unseren Fortbildungen und ermöglichen so selbstverständlich einen ungefährlichen Zugang zur Sportart. Hier geht es eher um eine behutsame vertrauensvolle Kontaktaufnahme und geeignete Spielformen, die bestimmte, auf Regeln basierte Bewegungsprinzipien, auch für den Körperkontakt, beinhalten.
Online-Redaktion: Sie sprechen von sozialen Kompetenzen, die der Judosport fördert. Welche sind das?
Pietruschke: Es geht auch um Werte. Wir sprechen beispielsweise bewusst nicht von der Gegnerin oder dem Gegner, sondern von der Partnerin und dem Partner. Die Sicherung und Übernahme von Verantwortung stehen im Vordergrund, weniger Sieg und Niederlage, wobei dies natürlich im Wettkampf das Ziel ist. Es werden zumeist positive Formulierungen gewählt. Wir betonen, wenn etwas gut funktioniert. Die Sprache spielt eine wichtige Rolle. So heißt es bei uns auch nicht: „Du darfst nicht“, sondern: „Alles ist erlaubt, außer es tut weh.“
Online-Redaktion: Wer legt fest, was „weh tut?“
Pietruschke: Ein ganz wichtiger Aspekt. Denn wir besprechen mit den Mädchen und Jungen, dass sie lernen sollen, „Stop“ zu sagen. Das ist die Grenze. Und dann geht man miteinander in den Austausch, erklärt, warum an einem bestimmten Punkt „Stop“ gesagt wurde. So nimmt man eigene Grenzen sowie die des Gegenübers wahr, lernt sie zu achten und zu respektieren. In diesem Prozess spüren alle, dass alle individuell unterschiedliche Grenzen haben und jeder das Recht hat, seine Wünsche zu formulieren und dass diese akzeptiert werden.
Wir erleben immer wieder, dass, wenn diese Grundhaltung verinnerlicht wurde, von außen nicht aufs Geschehen auf der Matte eingegriffen werden muss, Schülerinnen und Schüler, die durch Judo die Bedeutung von Fairness und Miteinander erfahren, können diesen unschätzbaren Wert auch im Miteinander, sei es im Unterricht, im Ganztag, in der Freizeit, in der Familie oder unter Freunden leben und transportieren. Judo wirkt inklusiv und dass nicht nur, weil es uns gelingt, Kinder mit geistiger oder körperlicher Beeinträchtigung in unsere Arbeitsgemeinschaften und Vereinsarbeit zu integrieren. Judo eignet sich eben für alle.
Online-Redaktion: Sie erwähnten den „Tag des Judo“. Welche Projekte empfehlen Sie Ganztagsschulen und Vereinen darüber hinaus?
Pietruschke: Besonders aktuell ist die Verleihung des weiß-gelben Gürtels. Mit dem neuen Graduierungssystem entstand die Idee der zusätzlichen Qualifikation und Motivation von Schülerinnen und Schülern sowie der Lehrkräfte. Der weiß-gelbe Gürtel kann in Fortbildungen, Unterrichtseinheiten und AGs verliehen werden. Zusätzlich haben wir die Qualifizierung der Lehrerinnen und Lehrer als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, sodass sie selbst den weiß-gelben Gürtel verleihen können.
Für die Verleihung ist ein Kooperationspartner, also ein Verein oder Verband, nötig, der die entsprechenden Urkunden bereitstellt. Dieses Projekt soll dazu führen, noch mehr Lehrkräften Mut zu machen, Kämpfen, Raufen und Rangeln im unterrichtlichen Kontext zu gestalten und möglichst vielen Schülerinnen und Schülern einen nachhaltigen Zugang zum Judo zu ermöglichen. Die Vereine können wiederum Mitglieder über einmalige oder langfristige Kooperationen für sich gewinnen.
Demnächst beginnen auch wieder unsere temporären Projekte wie der „Judo-März 2023“, mit dem die einzelnen Landesverbände auf einer Schulsportreferententagung für Schulen und Vereine verschiedene Angebote zum Thema „Judo als Schulsport“ initiieren werden. Darüber hinaus gibt es die Aktion „200 Judoanzüge für Schulen“, für die sich Schulen bewerben und einen Satz von der Europäischen Judo-Union EJU bereitgestellter Judoanzüge für die Sportfachschaften beziehen können.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Kategorien: Kooperationen - Umweltbildung und Nachhaltigkeit
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