Leichtathletik und Ganztagsschule: „Es lohnt sich“ : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Der Deutsche Leichtathletik-Verband erfüllt mit dem Engagement in Ganztagsschulen einen gesellschaftlichen Auftrag – und hat die Chance, Talente zu finden. DLV-Jugendausschuss-Mitglied Andrea Zemke im Interview.
Online-Redaktion: Als begeisterte Leichtathletin und Sportlerin muss Ihnen doch bei der jüngsten Europameisterschaft das Herz aufgegangen sein…
Andrea Zemke: Das können Sie wohl sagen. Deutschland hat gezeigt, dass wir große, nachhaltige Multisportveranstaltungen stemmen können. Wir haben Europas Sportlerinnen und Sportler friedlich gemeinsam bewundert, beklatscht und bejubelt. Wir haben Sport und Kultur zusammengebracht. Und das alles mit einer großartigen Atmosphäre und natürlich auch mit tollen Erfolgen. Das war beste Werbung. Für mich als ehemalige Mittelstreckenläuferin war es wunderbar zu erleben, welche Begeisterung unsere Leichtathletinnen und Leichtathleten auslösen können. Das ist mir wichtiger als ein glänzender Medaillenspiegel. Die Leichtathletik, wir als Deutscher Leichtathletik-Verband, aber auch alle Landesverbände und Vereine, hat schließlich einen gesellschaftlichen Auftrag.
Online-Redaktion: Der da lautet?
Zemke: Wir müssen bedauerlicherweise feststellen, dass es immer mehr Kinder und Jugendliche gibt, denen es an wichtigen motorischen Fähigkeiten mangelt. Es wäre zu einfach, das nur als Folge der Coronazeit abzutun. Diese Entwicklung beobachten wir schon länger. Wir müssen unseren Beitrag dafür leisten, dass sich das ändert.
Online-Redaktion: Wird die Jugend zu bequem?
Zemke: So pauschal möchte ich dem nicht zustimmen. Ich arbeite nun seit über 20 Jahren mit Kindern und Jugendlichen, im Verein, aber auch als Lehrerin. Und es ist richtig, dass es heutzutage ein vielfältiges Querangebot gibt. Die Möglichkeiten, sich jenseits des Sports sozial zu agieren, sind erheblich vielfältiger geworden. Natürlich lockt auch das Internet die jungen Menschen vor den Bildschirm. Doch es gibt immer noch sehr viele Kids und Teens, die ihrem natürlichen Bewegungsdrang nachgehen, die, intrinsisch motiviert, Ziele erreichen wollen und das auch gern im Wettbewerb mit anderen. Ich glaube, dass es die Verantwortung von uns Erwachsenen ist, den jungen Menschen Rahmenbedingungen für Bewegung zu schaffen und sie zu begeistern.
Online-Redaktion: Wie kann das gelingen?
Zemke: Wir brauchen Angebote, die die Jugendlichen ansprechen. Gerade in Zeiten mit einem großen Konkurrenzangebot an anderen Sportarten, auch neuer sogenannter Trendsportarten, muss die Sportart Leichtathletik sich so attraktiv wie möglich präsentieren. Ich kann zum Beispiel Begeisterung auslösen, wenn ich große Vorbilder gedanklich und doch spielerisch und nicht als reales Ziel, an die Wand male: „Rennen wie Europameisterin Gina (Lückenkemper)“ oder „Werfen wie Diskus-Olympiasieger Robert Harting“. Vorbilder spielen eine große Rolle. Das gilt übrigens auch für uns selbst. Wenn ich selbst nur bequem auf dem Sofa sitze, darf ich nicht erwarten, dass meine Kinder sportlich aktiv sind. Wir sind Bewegungsvorbilder für unseren Nachwuchs.
Online-Redaktion: Sind Sie ein Bewegungsvorbild?
Zemke: Aber natürlich! Ich war wohl schon pränatal sportlich aktiv, das hat sich bis heute nicht geändert. In meiner Familie spielt Bewegung eine ganz große Rolle. Und am liebsten gemeinsam. Wir haben einen Toberaum, in dem mal gekickt, mal geturnt oder auch mal getanzt wird. Das Wohnzimmer wird auch gerne mal zur Bewegungsbaustelle umfunktioniert.
Aber auch außerhalb der Familie ist es mir wichtig, Bewegungsvorbild zu sein: Zum Beispiel habe ich schon vor Corona mit meinem Heimatverein, dem TSV Klein-Umstadt im östlichen Teil des südhessischen Landkreises Darmstadt-Dieburg, mit der lokalen Grundschule eine Kinderleichtathletik-AG etabliert. Wir haben die Kinder dort abgeholt, wo sie standen und das war gewiss nichts Leistungsmäßiges. Das Ergebnis gab uns recht. Plötzlich kamen Eltern und Lehrkräfte und stellten staunend über Schülerinnen und Schüler fest: „Sie können ja plötzlich über Kreuz laufen…“ Und das hatte noch viel mehr Vorzüge: Wir haben gewissermaßen Werbung für das Angebot unseres Vereins gemacht – und die Kids waren auch noch 1,5 Stunden länger sehr gut betreut.
Online-Redaktion: In der Schweiz wurden in Kooperation zwischen Leichtathletikverband und Schulen eine Millionen Kinder und Jugendliche auf ihr Talent für die Leichtathletik beobachtet. Es wurden viele gefunden. Nutzt der Deutsche Leichtathletik-Verband die Möglichkeit, die Kooperationen mit Ganztagsschulen bieten, ausreichend?
Zemke: Als Bundesverband haben wir keinen direkten Einfluss auf die Vereine. Bundesverband, Landesverbände, Vereine und Schulen müssen hier zusammenarbeiten. Und das ist die Stellschraube, an der wir drehen können. Mit den Landesverbänden müssen wir gemeinsam auf die Chancen und die Wichtigkeit von Kooperationen hinweisen, gemeinsam Rahmenbedingungen schaffen, qualifizieren und informieren. Und natürlich dürfen es deutlich mehr Kooperationen sein, da muss ich noch nicht einmal sportverrückt sein.
Online-Redaktion: Woran hapert es?
Zemke: Häufig sind es die Strukturen. Der Leichtathletikverein, der nur ehrenamtliche Trainerinnen oder Trainer hat, die ganz normal beruflich tätig sind, während die AGs in den Schulen am Nachmittag angeboten werden, hat natürlich Schwierigkeiten, sich in der Ganztagsschule optimal zu engagieren. Fehlende Hallen- und Platzkapazitäten, manchmal auch die fehlende Ausstattung in den Schulen gibt es auch. Dabei ist Letzteres meines Erachtens noch am leichtesten zu lösen. Allgemeines Training gelingt auch mit ausrangierten Fahrradreifen und Bananenkisten. Dafür bedarf es allerdings des entsprechenden Know-hows. Und man muss bereit sein, auf die Schulen zuzugehen.
Online-Redaktion: Es ist also Kreativität gefragt?
Zemke: In vielen Fällen mit Sicherheit. Gerade, was die Suche nach qualifizierten Trainerinnen und Trainern angeht. Studentinnen und Studenten könnten zum Beispiel eine AG anbieten oder Menschen wie ich, die während der Elternzeit einspringen. Ich kann allen Vereinen nur zurufen: Es lohnt sich. Mehrere Kinder meiner AG sind inzwischen Mitglied bei uns im Verein, dem TSV Klein-Umstadt, geworden. Zwei unterstützen mich mittlerweile bei meiner Trainertätigkeit, dort sogar schon als Assistentinnen. Sie haben den kleinen Trainerschein erworben.
Online-Redaktion: Sehen die Vereine die Chancen, die die Kooperation mit Ganztagsschulen bieten?
Zemke: Viele haben sich schon auf den Weg gemacht, wenn auch sicher noch nicht flächendeckend. Doch in vielen Vereinen herrscht immer noch das Vorurteil, dass man von einer Kooperation „ja nichts hat". Eine solche Zusammenarbeit bringe ja keine Medaillen. Wenn wir aber, mal abgesehen von unserem bereits erwähnten gesellschaftlichen Auftrag, mehr „Spitze“ haben wollen, brauchen wir zunächst einmal mehr „Basis“. Unsere erfolgreichen EM-Teilnehmerinnen Gina Lückenkemper und Alexandra Burghardt haben jüngst in sozialen Medien erzählt, dass sie bei Bundesjugendspielen aufgefallen waren. Welche eine Chance für uns. Und um es noch einmal zu betonen: Wir haben eine Verantwortung, für Bewegung zu sorgen. Das kann auch einen erheblichen Mehrwert schaffen für Inklusion und gesundheitliche Prävention.
Online-Redaktion: Wie werden die Bundesjugendspiele zur Talentsichtung genutzt?
Zemke: Das wurden und werden sie sicher nicht systematisch. Aber es gibt zwei Aspekte. Wenn ich als Verein mit einer Schule kooperiere, ist es ein Leichtes, bei den Bundesjugendspielen die Augen aufzuhalten. Wenn ich mich mit den Sportlehrerinnen und Sportlehrern zudem in regelmäßigem Austausch befinde, sollte wohl der ein oder andere Name fallen.
Viele wissen es noch nicht, aber unser Konzept „Kinderleichtathletik“ hat nach intensiven Gesprächen im Ausschuss für die Bundesjugendspiele und in der Kommission Sport der Kultusministerkonferenz im März dazu geführt, dass ab dem kommenden Schuljahr alle Grundschulen verpflichtend sind, die Wettbewerbsform der Bundesjugendspiele durchzuführen. Das heißt, der vielen aus der Schulzeit bekannte Wettkampf mit seinem 50-Meter-Sprint, dem Schlagballwurf, dem Weitsprung und dem 800-Meter-Lauf wird dann erst ab der 5. Klasse möglich sein. Damit wird mit der Wettbewerbsform der Bundesjugendspiele auch die entwicklungsgemäße Kinderleichtathletik Einzug in die Grundschulen halten. Maßband und Zeitmessung spielen hier eine untergeordnete Rolle, und es bleibt mehr Zeit für Bewegung.
Online-Redaktion: Das heißt konkret?
Zemke: An einem kleinen Beispiel festgemacht: Wenn beim Weitsprung nicht mehr zentimetergenau gemessen und anschließend gerechnet werden muss, was pro Sprung etwa anderthalb Minuten dauern kann, sondern nur noch die Zone abgelesen werden muss, in welche das Kind gesprungen ist, dann bleibt eine Minute mehr Zeit. Bei 200 Kindern, die an dem Tag ihre Bundesjugendspiele absolvieren, ist das eine Menge Zeit. Zeit, die für mehr Sprungversuche und zusätzliche Bewegungsstationen verwendet werden kann.
Nicht zu vergessen, die vielen helfenden Eltern, für die das Ablesen der Weite sehr viel einfacher umzusetzen ist als beim Abmessen mit dem Maßband [lacht]. Kindgemäße Übungen, die im Sportunterricht vorbereitet werden, bringen den Kindern mehr Spaß und Erfolgserlebnisse. Eindrücke, die sie am Ende möglicherweise in den nahegelegenen Verein bringen. Alle Informationen zu den Bundesjugendspielen gibt es auf der offiziellen Internetseite.
Wir als Deutscher Leichtathletik-Verband unterstützen die Lehrkräfte mit Informationsmaterialien, Videos und Fortbildungen und mit leichtathletikspezifischen Informationen auf unserem DLV-Verbandsportal.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
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