„Gemeinschaftserlebnis Sport“ im Stuttgarter Ganztag : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Das „Gemeinschaftserlebnis Sport“ ist fest in den Ganztagsschulen der Landeshauptstadt Stuttgart verankert. Es soll, so Programmleiter Thomas Krombacher, besonders die soziale und emotionale Entwicklung fördern.
Online-Redaktion: Wer verbirgt sich hinter dem „Gemeinschaftserlebnis Sport“?
Thomas Krombacher: Wir sind ein Programm in Trägerschaft des Sportkreises Stuttgart e.V. und der Landeshauptstadtstadt Stuttgart. Der Sportkreis ist mit der Geschäftsführung beauftragt. Er vertritt als Dachorganisation die Interessen von knapp 300 sporttreibenden Vereinen mit rund 265.000 Mitgliedern der Landeshauptstadt gegenüber der Politik, der Stadtverwaltung und anderen Organisationen. Der Sportkreis wiederrum ist die regionale Untergliederung des Württembergischen Landessportbundes.
Online-Redaktion: Welche Ziele verfolgen Sie und Ihr Team?
Krombacher: Allgemein gesprochen sind wir präventiv, integrativ, sozial, bildend und gesundheitsfördernd tätig. Das Programm „Gemeinschaftserlebnis Sport“, kurz GES, wurde vor knapp 30 Jahren gegründet. Unser Ziel ist es, Kindern und Jugendlichen Sport- und Bewegungsangebote zu unterbreiten. Dabei geht es uns nur am Rande darum, spezielle sportliche Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entwickeln oder gar auf Talentsuche für Sportarten und die jeweiligen Vereine zu gehen. Wir fördern die soziale und emotionale Entwicklung und dies in einer engen Vernetzung mit Schulen sowie der Kinder- und Jugendhilfe.
Unter Berücksichtigung bildungs-, jugend- und sportpolitischer sowie gesellschaftlicher Herausforderungen arbeitet das GES kontinuierlich an verschiedenen Themen. Wir wollen Integration und Inklusion befördern, indem wir Teilnahme- und Teilhabemöglichkeiten schaffen. Wir fördern Toleranz und Respekt und stärken das Selbstwertgefühl der Kinder und Jugendlichen, aber auch ein sozial kompetenteres Verhalten, bis hin zur Gewaltprävention. Letztlich sehen wir unser Programm als Beitrag zu mehr Chancen- und Bildungsgerechtigkeit: vor allem in der Lebenswelt von benachteiligten Kindern und Jugendlichen.
Online-Redaktion: Mit wem arbeiten Sie konkret zusammen?
Krombacher: Zu unseren wichtigsten Partnern zählen Ganztagsschulen und die entsprechender Träger der Kinder- und Jugendhilfe in Stuttgart. Mit 21 Schulen, darunter zahlreichen Grundschulen und einigen Förderschulen, haben wir Kooperationsverträge abgeschlossen. Dort bieten wir sportpädagogische Arbeitsgemeinschaften an. Die AGs schneiden wir ganz auf die Bedürfnisse und Notwendigkeiten vor Ort zu. Es gibt also nicht die eine Blaupause, die wir über alles legen. Durch unsere kontinuierliche und verlässliche Zusammenarbeit schätzen die Ganztagsschulen das, was die gemeinsame Bewegung und die Freude am Sport für den Klassenverband, aber auch für die Einzelnen und deren möglichst gelingende Bildungsverläufe bewirken können.
Online-Redaktion: Was können Bewegung und Sport bewirken?
Krombacher: Viele Dinge beeinflussen das Lernen, die Bildung. Mal geht es um Persönliches, mal sind es Gruppenprozesse in einer Klasse, die den Bildungsverlauf hemmen. Wir erhalten manchmal Anfragen oder Hinweise wie „Meine Klasse ist nicht mehr zu unterrichten…“, „Die Kids haben keinen Bock…“, „Wie kann ich mit meinem Unterricht speziell auch die Mädchen erreichen…“ Ich finde, dass allein schon die Bereitschaft, sich solchen Situationen zu stellen und Unterstützung von außen zu erfragen, viel Positives über die Reflexionsfähigkeit von Lehrkräften aussagt. Gemeinsam suchen wir dann einen pädagogischen Ansatz, wie wir durch Bewegung soziale und emotionale Prozesse anstoßen können.
Online-Redaktion: Wie laufen Ihre Arbeitsgemeinschaften an Schulen ab?
Krombacher: Jeder von uns hat zwar seine eigenen Wege, doch gemeinsam ist, dass wir sozusagen aus Kindersicht agieren. Gemeinsam mit einer Fachkraft des Ganztags gehen wir in die Gruppe, stellen uns vor. Für viele Schülerinnen und Schüler sind wir allerdings aufgrund unserer langjährigen Präsenz in den Ganztagsschulen sofort erkennbar. Wir tragen alle knallgrüne T-Shirts oder Pullover. Das ist ein unverwechselbares Erkennungsmerkmal. Zu Beginn der Stunde gestalten wir ein sogenanntes offenes Setting: Die Schülerinnen und Schüler dürfen zeigen, was sie können.
Einige schnappen sich einen Ball, andere bauen Geräte auf, manche laufen, andere lassen die Ringe von den Turnhallendecken herunter und versuchen sich daran. Es wirkt erst einmal ein wenig wie Anarchie und ungeordnet. Die Kinder und Jugendlichen kommen sich in die Quere, müssen sich arrangieren, sich organisieren und ausprobieren. Dann folgt eine Pause. Die Halle muss aufgeräumt werden, und es wird abgestimmt, was gemeinsam gespielt werden soll. Die einzige Bedingung lautet: Es müssen alle mitmachen.
Online-Redaktion: Was erreichen Sie mit diesem Vorgehen?
Krombacher: Zum einen fördern wir das freie Spielen. Es ist enorm wichtig, doch viele Schülerinnen und Schüler schaffen es einfach nicht, sich im freien Spiel selbst zu organisieren. Gerade der Fußball ist eskalativ. Es wird wild. Dann ist es wichtig, dass es die Gruppe schafft, sich auf Regeln zu verständigen. Es entwickeln sich wie auch bei der Entscheidung und Durchführung des gemeinsamen Spiels am Ende gruppendynamische Prozesse. Plötzlich schlüpfen Kinder, die im Unterricht eher zurückhaltend sind, in eine ganz andere Rolle, bringen sich ein, übernehmen Verantwortung für sich und andere.
Im optimalen Falle überträgt sich das, was sie in unseren AGs lernen, auf den normalen Unterricht und wirkt sich schließlich positiv auf individuelle Bildungsverläufe aus. Zudem werden die Schülerinnen und Schüler von den sie begleitenden Erwachsenen auch einmal aus ganz anderer Perspektive erlebt, und Potenziale werden überhaupt erst sichtbar.
Online-Redaktion: Das erfordert aber Bereitschaft und Möglichkeit zur Kommunikation.
Krombacher: Dessen sind sich alle bewusst. Ohne eine intensive Kommunikation auf Augenhöhe gelingen Bildungsverläufe nicht. Nur ein Satellit zu sein, reicht uns Menschen nicht. Wir melden daher unsere Wahrnehmungen über die Klasse und einzelne Schülerinnen und Schüler regelmäßig zurück. Es geschieht nicht selten, dass eine Lehrkraft vor einem Gespräch mit Eltern zu uns kommt und uns fragt, welche Eindrücke wir über das Kind gesammelt haben.
Online-Redaktion: Wie werden Sie insgesamt von den Lehrkräften aufgenommen?
Krombacher: Die große Mehrzahl der Lehrkräfte sieht in uns keine Konkurrenz, sondern vielmehr eine Bereicherung für ihre Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern. Inzwischen nutzen viele von ihnen unser Angebot, in unseren GES-Stunden zu hospitieren. Sie schätzen die andere Sichtweise und auch unseren speziellen Ansatz, der sich vom lehrplangeprägten Unterricht unterscheidet. Die Idee der gemeinsamen Arbeit im multiprofessionellen Team wird bei uns realisiert.
Online-Redaktion: Sie sprachen davon, dass „Gemeinschaftserlebnis Sport“ flexibel an die Bedürfnisse der Schulen, Schülerinnen und Schüler angepasst wird. Gilt dies auch für die Dauer?
Krombacher: In Einzelfällen werden wir auch schon einmal gebeten, nur für einige wenige Stunden an einem Tag zu kommen. Wenn es aber nach uns geht, sollte die AG über ein Schuljahr laufen. Der Erfolg bei der Arbeit mit, wie man heute sagt, verhaltensoriginellen Kindern wird in einer Stunde nicht besonders hoch sein. Nur mit mehr Zeit können wir auf einzelne Kinder wirklich eingehen oder getreu unserem Motto „Alles kann, nichts muss“ jede Woche etwas Neues anbieten. Das aber erfordert auch von unserem Team die entsprechende Flexibilität und die Bereitschaft, kontinuierlich das eigene Konzept den Bedürfnissen anzupassen.
Dabei müssen wir immer den Unterschied zum Vereinssport mit seinen talentgebundenen Gruppen im Blick haben. Unser Angebot wird mitunter von Kindern gewählt, die wissen, dass sie sich für eine AG entscheiden müssen und die dann den Sport als „kleinstes Übel“ betrachten. Es muss uns gelingen, auch diese Schülerinnen und Schüler zu motivieren und einzubeziehen.
Online-Redaktion: Wer gehört Ihrem Team an und welche Voraussetzungen müssen Mitarbeitende mitbringen?
Krombacher: Unser Team der Hauptamtlichen wird durch Externe bereichert. Dabei handelt es sich um Menschen vieler Berufsgruppen, auch aus sozialen und pädagogischen Berufen. Darunter sind auch, aber nicht nur Sport-Übungsleiterinnen und Übungsleiter. Alle verfügen jedoch selbst über einen wie auch immer gearteten sportlichen Hintergrund. Und: Für alle bieten wir umfangreiche Fortbildungen an.
Online-Redaktion: Mit welchen Inhalten?
Krombacher: Wir haben einen großen Erfahrungsschatz im Umgang mit den Systemen Schule, Jugendhilfe und Sport und in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Aufgrund unserer Erfahrungen mit heterogenen, unterschiedlich motivierten Zielgruppen haben wir die praktische sportpädagogische Arbeit mit den Kinder und Jugendlichen im Laufe der Jahre immer weiterentwickelt. Das umfangreiche Wissen ist inzwischen Inhalt zahlreicher Fortbildungsmodule für zahlreiche Institutionen.
Unsere Themenpalette ist bunt. Sie reicht vom Umgang mit „störenden“ Schülerinnen und Schülern bis hin zum Aufbau individueller Bewegungsangebote. Manche Fortbildungen erstrecken sich über anderthalb Stunden, andere über ganze Tage. Entscheidend aber ist, dass unsere Praxiserfahrung modular in Fortbildungen umgewandelt wird. Wir möchten die Vehemenz, mit der Schulen gelingende und qualitativ hochwertige Bildungsangebote über den ganzen Tag zu schaffen versuchen, unterstützen. Das alles für unsere Schülerinnen und Schüler und in der Erkenntnis, dass Sport die Bildung und Schulkultur fördert.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
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