Gebraucht werden bewegte Ganztagsschulen : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Bewegungs-, Spiel- und Sportaktivitäten sollten in Ganztagsschulen mitgedacht und aktiv in den Schulalltag eingebunden werden, das meint Prof. Dr. Nils Neuber vom Forschungsverbund Kinder- und Jugendsport NRW.

Online-Redaktion: Bei der Einführung des Ganztags vor rund 20 Jahren schrillten bei manchen Vereinen die Alarmglocken. Sie befürchteten, dass Kinder und Jugendliche keine Zeit mehr für den Sportverein haben würden. Wie fällt Ihre Zwischenbilanz aus?

Prof. Dr. Nils Neuber: Die Sorgen waren durchaus berechtigt. Niemand wusste, wohin die Reise gehen würde. Doch nach der anfänglichen Skepsis haben viele Vereine die Chance erkannt, die im Ganztag steckt. Nicht nur, wenn es darum geht, die eigene Sportart in den Fokus zu rücken, sondern auch, wenn es gilt, einen Beitrag zur Bewegung und Entwicklung junger Menschen zu leisten. Dabei tun sich große Vereine mit professionelleren Strukturen naturgemäß leichter.

Tatsache ist, dass der Sport der mit Abstand größte Kooperationspartner von Ganztagsschulen geworden ist. Und die Teilnahme am Ganztag führte nicht – wie befürchtet – zu geringeren Bewegungsumfängen. Der Ganztagssport konnte sich als dritte Säule zwischen Sportunterricht und Vereinssport etablieren.

Online-Redaktion: Alles gut also?

Parcour Koordination
Förderung von Kompetenzen durch Bewegungsangebote © Britta Hüning

Neuber: So viel Begeisterung ist dann auch wieder nicht angebracht. Auch Sportangebote zielen manchmal mehr auf eine Betreuung als auf eine Förderung von Kindern und Jugendlichen. Wir müssen feststellen, dass über die pädagogische und methodische Inszenierung des Ganztagssports wenig bekannt ist, ebenso über seine Wirkungen auf motorische, soziale, emotionale und kognitive Entwicklungsbereiche. Insofern ist der Sport im Ganztag zwar angekommen, aber oft auch noch eine gewisse Black Box.

Online-Redaktion: Was schlagen Sie vor?

Neuber: Wir benötigen spezifische Konzepte für den Ganztagssport. Dabei sollte es sowohl um die Förderung motorischer Kompetenzen und sozial-emotionaler Fähigkeiten gehen als auch um die Förderung schulischen Lernens durch Bewegungsangebote. Denn Bewegungsmangel führt nicht erst seit der Corona-Pandemie zu gesundheitlichen und emotionalen Beeinträchtigungen, vor allem bei jungen Menschen aus benachteiligten Bildungsmilieus. Man muss immer wieder daran erinnern, dass sich über gezielte Bewegungsangebote auch kognitive Fähigkeiten und schulische Lernleistungen steigern lassen. Ein einfaches „Mehr“ an Klassenunterricht wird nicht ausreichen, um Lernrückstände aus Corona-Zeiten ausgleichen zu können.

Online-Redaktion: Ganztagssport als Kompensation?

Neuber: Im beschriebenen Sinne schon. Aber der Ganztagssport kann auch für die Talentsuche in Sinne der Begabungsförderung genutzt werden. Die Förderung motorischer Talente in Kooperation von Schulen und Sportvereinen könnte ebenso vorangetrieben werden wie die Förderung sozialer Talente im Sport, etwa im Bereich der Sporthelferinnen und -helfer. Hier droht allerdings ein großes Loch. In der Corona-Pandemie sind keine jungen Engagierten nachgekommen, sodass das bislang gut funktionierende System an vielen Orten nahezu komplett neu aufgebaut werden muss.

Online-Redaktion: Auch um das Bewegungsverhalten der Kinder und Jugendlichen ist es seit der Corona-Pandemie nicht gut bestellt…

Neuber: Ja, der Alltag vieler Kinder ist heute durch Bewegungsmangel gekennzeichnet. Laut dem jüngsten Bericht der Weltgesundheitsorganisation landen Heranwachsende in Deutschland am unteren Ende der Rangliste. Repräsentative Daten belegten 2018, dass sich drei Viertel der Kinder im Grundschulalter weniger als eine Stunde am Tag bewegen. Corona hat den Bewegungsmangel verstärkt. Aber es geht ja nicht nur um die reinen Bewegungszeiten…

Online-Redaktion: Sport ist mehr als Bewegung…

Badminton
Bewegungsfreude ermöglichen Zugehörigkeit und Anerkennung. © Britta Hüning

Neuber: Bewegungs-, Spiel- und Sportaktivitäten ermöglichen neben Bewegungsfreude auch Zugehörigkeit und Anerkennung. Für Heranwachsende ist der Sport ein wichtiger Ort für soziale Kontakte und das Entstehen von Freundschaften. Zugleich tragen Bewegungsaktivitäten häufig zur Entwicklung von Leistungsbereitschaft, Selbstvertrauen und sozialen Kompetenzen bei. Auch der Zusammenhang von Bewegung und kognitiven Lernprozessen in der Schule gilt seit langen als gesichert. Bewegung und Sport gehören also zum Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen untrennbar dazu.

Online-Redaktion: Was bedeutet das für den Ganztag?

Neuber: In unserem jüngsten Positionspapier haben wir als Forschungsverbund Kinder- und Jugendsport NRW es als unerlässlich bezeichnet, tägliche Bewegungs-, Spiel- und Sportaktivitäten parallel zum schulischen Ganztagsausbau mitzudenken und aktiv in den Schulalltag einzubinden. Der Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz im Grundschulalter beispielweise sollte als Chance verstanden werden, formale, non-formale und informelle Bewegungs- und Sportangebote systematisch mit der Entwicklung von Ganztagsschulen zu verknüpfen.

Online-Redaktion: Was ist dafür erforderlich und wie kann es konkret umgesetzt werden?

Neuber: Zunächst sollte die Perspektive der Kinder im Vordergrund stehen. Ihre Wünsche und Bedürfnisse nach freiem Bewegen und Spielen, aber auch nach spezifischen Sportangeboten sollten mehr berücksichtigt werden. Hinzu kommt die bewegungsfreundliche Gestaltung von Schulräumen und Schulhöfen. Kinder haben in Ganztagsschulen bis zu 20 Stunden „freie Zeit“ pro Woche – die sollten sie für freie Bewegungsaktivitäten nutzen können.

Zur Entwicklung bewegter Ganztagsschulen braucht es Schulkonzepte, die Vor- und Nachmittagsangebote konzeptionell verzahnen. Und mit Blick auf den Rechtsanspruch ab 2026 sollten die kommunalen Kooperationsstrukturen ausgebaut werden. Der Ganztag kann nur gemeinsam gelingen. Dazu gehört auch die gemeinsame Qualifikation des Personals und last but not least die gemeinsame Qualitätsentwicklung. Dafür braucht es ebenso verlässliche wissenschaftliche Daten über Bewegungs-, Spiel- und Sportangebote im Ganztag.

Online-Redaktion: Mit welchen Erwartungen sind Sie im Dezember zum sogenannten Bewegungsgipfel nach Berlin gereist, bei dem die Bundesinnenministerin sich dafür einsetzte, „Deutschland wieder in Bewegung zu bringen“?

Sportunterricht Laufen
© Britta Hüning

Neuber: Es war der deutliche Wille zu spüren, die Freude an Sport und Bewegung früh zu verankern, also auch in der Ganztagsschule. In einem „Entwicklungsplan Sport“ sollen dafür konkrete Maßnahmen entwickelt werden. Meine Vorschläge sind: eine frühkindliche Bewegungsförderung in Quartieren mit schwierigen sozialen Lagen, mehr Bewegung in Kita und Schule sowie eine kommunale Zusammenarbeit für mehr Bewegung im Ganztag. Verlässliche, qualitativ anspruchsvolle Bewegungs-, Spiel- und Sportangebote für Kinder und Jugendliche sind eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die wir nur gemeinsam lösen können.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Zur Person:

Prof. Dr. Nils Neuber, Jg. 1966, ist seit 2006 Leiter des Arbeitsbereichs Bildung und Unterricht im Sport am Institut für Sportwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Sprecher des Forschungsverbundes Kinder- und Jugendsport NRW. Nach Studium und Promotion an der Deutschen Sporthochschule Köln war er zunächst wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Sportwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Für seine Habilitationsschrift „Entwicklungsförderung im Jugendalter – Theoretische Grundlagen und empirische Befunde aus sportpädagogischer Perspektive“ erhielt er 2006 den Wissenschaftspreis des Deutschen Olympischen Sportbundes. Von 2007 bis 2010 leitete er für die WWU Münster eine Forschungsgruppe zur Evaluation des Bewegungs-, Spiel- und Sportangebots an offenen Ganztagsschulen im Primarbereich in Nordrhein-Westfalen geleitet. 2022 wurde er mit dem Landespreis „Sportwissenschaft Nordrhein-Westfalen“ im Bereich „Sozial-, Bildungs- und Kulturwissenschaften“ ausgezeichnet.

Veröffentlichungen u.a.:

Neuber, N. (Hg.): Kinder- und Jugendsportforschung in Deutschland – Bilanz und Perspektive. (Bildung und Sport, Band 26). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Neuber, N. (2022): Kinder- und Jugendsport „nach“ Corona – Bedeutung von Bewegung, Spiel und Sport für ein gesundes Aufwachsen. Forum Kinder- und Jugendsport – Zeitschrift für Forschung, Transfer und Praxisdialog 3, Nr. 1, 7–12

Neuber, N. (2020): Übergänge zwischen Schule, Ganztag und Verein – Sporterleben von Kindern und Jugendlichen an unterschiedlichen Lernorten. Sportunterricht 69, 256–260.

Derecik, A., Kaufmann, N. & Neuber, N. (2013). Partizipation in der offenen Ganztagsschule. Pädagogische Grundlagen und empirische Befunde zu Bewegungs-, Spiel- und Sportangeboten. Wiesbaden: Springer VS

Der Forschungsverbund Kinder- und Jugendsport NRW bündelt die Forschungs- und Transferaktivitäten der acht sportwissenschaftlichen Universitätsstandorte in Nordrhein-Westfalen und wird vom Ministerpräsidenten gefördert.

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