Ganztagsschulen und Sportvereine sollten Bildungspartner sein : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Ganztagsschulen sollten sich noch stärker den Sportvereinen öffnen. Dafür plädiert Dr. Karin Fehres, die Direktorin Sportentwicklung beim Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB).

Online-Redaktion: Vor fünfeinhalb Jahren haben Sie in einem Interview sinngemäß gesagt: „Sport und Bildung als Einheit sind der Bereich in der Sportentwicklung mit dem größten Zukunftspotenzial.“ Haben Sport und Schule, speziell Ganztagsschule, das Potenzial ausgeschöpft?

Dr. Karin Fehres: Nein, davon sind wir noch weit entfernt, auch wenn es bereits gute Modelle und Vorbilder gibt.

Online-Redaktion: Wo sehen Sie noch Nachholbedarf, Hemmnisse und Ängste?

Fehres: In der Öffentlichkeit und häufig auch bei schulpolitischen Entscheidungsträgern werden unsere Sportvereine nicht als Bildungspartner wahrgenommen. Eine bundesweite Studie hat deutlich aufgezeigt, dass Sportvereine kaum in die Entscheidungs- und Beratungsgremien von Schulen eingebunden sind. So nehmen nur fünf Prozent der kooperierenden Sportvereine an Konferenzen und Gremiensitzungen in der Schule teil. An dieser Stelle müssen sich vor allen Dingen die Schulen öffnen und die Übungsleiterinnen und Trainer aus den Vereinen stärker eingebunden werden.

Auf der anderen Seite müssen sich aber auch die Sportvereine selbst vermehrt als Bildungspartner in den Schulen positionieren und das eigene Selbstverständnis neu entwickeln. Aus dem DOSB-Sportentwicklungsbericht wissen wir, dass ca. 18 Prozent der Sportvereine bundesweit bei der Angebotserstellung mit mindestens einer Ganztagsschule kooperieren. Aus der Perspektive der Schulen sind es sogar in der Primarstufe 85 Prozent bzw. in der Sekundarstufe 70 Prozent der Ganztagsschulen, die mit Sportvereinen zusammenarbeiten. Diese Zahlen aus der Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG-Studie) sind für den organisierten Sport ein positiver Trend.

Online-Redaktion: Sport und Musik galten lange Zeit als Nebenfächer, die nicht so wichtig sind wie die Hauptfächer. Inzwischen wissen wir, wie wichtig beides für die Leistungsfähigkeit ist. Tragen Ganztagsschulen dieser Erkenntnis Rechnung?

Fehres: Leider ist das immer noch nicht in den Schulkonzepten verankert. Trotz des Wissens über die immense Bedeutung von Bewegung, Spiel und Sport innerhalb einer ganzheitlichen Bildung hinkt die Praxis dem Anspruch einer gezielten Bewegungsförderung hinterher. Sport in den Schulen findet hauptsächlich in den Regelstunden statt, also zwei bis drei Stunden pro Woche. Dies ist eindeutig viel zu wenig. Gerade im Ganztag wäre es notwendig, tägliche Sport- und Bewegungsgelegenheiten zu schaffen. Darüber hinaus fallen immer noch viel zu viele Sportstunden ersatzlos aus. In einigen Bereichen ist sogar eine negative Entwicklung feststellbar. Erst kürzlich hat die Deutsche Lebensrettungsgesellschaft (DLRG) darauf hingewiesen, dass am Ende der vierten Klasse bundesweit gerade einmal 50 Prozent der Schülerinnen und Schüler das Freischwimmerabzeichen abgelegt haben. Zum Vergleich: Ende der 1980er Jahre waren es noch mehr als 90 Prozent gewesen. Dies sind Entwicklungen, denen wir unbedingt entgegenwirken müssen und wo wir auch die staatliche Hilfe, zum Beispiel für die Modernisierung von Hallen- und Schwimmbädern bzw. Sportstätten allgemein, benötigen.

Online-Redaktion: Viele Vereine fürchten nach wie vor, dass Ganztagsschulen zum Mitgliederschwund führen, dass das Interesse der Jugendlichen am Vereinssport und die Zeit dafür sinken. Teilen Sie die Befürchtung?

Fehres: Ja und nein. Zum einen ist es so, dass die Anzahl der Jugendlichen in den Sportvereinen in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen ist – und das trotz der Befürchtungen, die insbesondere durch den demografischen Wandel ausgelöst wurden. Zum anderen haben die Sportvereine in ländlichen Regionen tatsächlich mit einer Abwanderung von jungen Mitgliedern zu kämpfen. Letzteres hängt mit Sicherheit auch mit der geringeren zeitlichen Verfügbarkeit durch die Etablierung der Ganztagsschulen zusammen, aber auch mit der Tatsache, dass Schülerinnen und Schüler auf den Land zunehmend längere Anfahrtszeiten in Kauf nehmen müssen, weil in kleinen Kommunen Schulen zusammengelegt und damit räumlich konzentriert oder sogar geschlossen werden. Insgesamt ist das Interesse der Schülerinnen und Schüler am Vereinssport ungebrochen, allerdings wird es zukünftig wichtiger denn je sein, Schulausbildung und Vereinssport sinnvoll zu verknüpfen.

Online-Redaktion: Andere Vereine engagieren sich in Ganztagsschulen. Sie nutzen die Gelegenheit, für ihre Sportart zu begeistern. Ein gangbarer Weg für alle oder doch die Ausnahme?

Fehres: Sicher nicht für alle Vereine: Laut amtlicher Statistik stehen derzeit über 91.000 Sportvereinen ca. 34.500 Schulen gegenüber. Legt man allein diese numerische Relation zugrunde, dann müssten sich mehrere Vereine jeweils eine Schule „teilen“. Das tatsächliche Ausmaß der Kooperationen hängt von der Größe des Vereins sowie der Spartenzahl ab. Kleine Vereine mit bis zu 100 Mitgliedern kooperieren lediglich zu zehn Prozent, während immerhin 69 Prozent der Sportvereine mit über 2.500 Mitgliedern eine Zusammenarbeit mit einer Ganztagsschule aufweisen. Klar ist, dass der Aufwand für einen Sportverein, die Kooperation mit einer Schule verlässlich und qualitativ abgesichert zu gestalten, relativ hoch ist. Darüber hinaus gibt es Sportvereine, deren Mitglieder andere Schwerpunkte verlangen. Sind die Rahmenbedingungen gut, wie zum Beispiel die Unterstützungsleistungen von Stadt- und Kreissportbünden, so gelingt eine Zusammenarbeit einfacher. Einen Königsweg gibt es aber nicht.

Online-Redaktion: Was sagen Sie Vereinen, die argumentieren, ihre ehrenamtlichen Übungsleiter und Übungsleiterinnen könnten aufgrund der eigenen Berufstätigkeit in der Ganztagsschule nicht aktiv werden?

Fehres: Das ist zu akzeptieren und zugleich das zentrale K.-o.-Kriterium für viele Vereine, die sich noch stärker im Ganztag engagieren möchten. Man kann in diesem Fall nur systematisch in seiner Mitgliedschaft oder seinem Umfeld dafür werben und nach Personen suchen, die auch am frühen Nachmittag eine entsprechende Arbeitsgemeinschaft in der Schule leiten können. Durch die bestehenden Finanzierungs- und Fördersysteme ist es ja häufig möglich, die Vereinsangebote zumindest mit einem Nebenverdienst zu entlohnen. Diese Möglichkeit ist zum Beispiel für Studierende, die über einen Übungsleiter- oder Trainerschein verfügen, ein sehr interessantes Betätigungsfeld. Wichtig ist nur im Vorfeld, die Vertretungsregelung schriftlich festzulegen. Denn gerade für die Schulen ist Kontinuität und Verlässlichkeit in der Angebotserstellung eine entscheidende Bedingung für die Zusammenarbeit.

Online-Redaktion: Könnten Ganztagsschulen auf lange Sicht so etwas wie Talentschmieden werden?

Fehres: Das ist aus meiner Sicht eine Wunschvorstellung. Die Zusammenarbeit zwischen Schule und Sportverein funktioniert punktuell mit Sicherheit ganz gut, aber von einer flächendeckenden Talentförderung kann in diesem Zusammenhang nicht die Rede sein. Sportangebote im Rahmen der Ganztagsschule sollen Interesse für Bewegung bei den Schülerinnen und Schülern wecken und den Kontakt zum Vereinssport herstellen.

Der umfangreiche Wettkampf- und Hochleistungssport findet nach wie vor überwiegend außerhalb der Schule statt – und das wird auch in Zukunft so bleiben. Wertvolle Arbeit in diese Richtung leisten die bekannten Programme zur Talentsichtung und Talentförderung bzw. die bewährten Systeme wie die sportbetonten Schulen, Partnerschulen des Leistungssports und Eliteschulen des Sports. Die sind fast immer auch Ganztagsschulen.

Online-Redaktion: Die Zusammenarbeit zwischen Sport und Schule hat auch die Aufgabe der Prävention und Förderung des sozialen Engagements. Was bedeuten diese Ziele im Konkreten?

Fehres: Der Sportverein ist ein Ort der Bildung: Nicht nur der Körper wird im wahrsten Sinne des Wortes gebildet, sondern Sport in der Gemeinschaft ist in besonderer Weise geeignet, die sozialen Kompetenzen zu fördern und einen wichtigen Beitrag zur ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung zu leisten. Im Sport lernen Kinder und Jugendliche mit Sieg und Niederlage umzugehen. Sie können gezielt ihre körperlichen, aber auch sozialen Grenzen erproben und kennen lernen.

Außerdem ist das ehrenamtliche und freiwillige Engagement das konstituierende Element von Sportvereinen. Die jungen Menschen lernen im Verein Verantwortung für sich selbst und für andere zu übernehmen. Sportvereine sind also wichtige außerschulische Lernorte, ohne die unser Gemeinwesen nicht funktionieren würde. Wenn über die enge Zusammenarbeit zwischen Sportvereinen und Schulen dieser Blick geschärft wird, können viele und wichtige Potenziale freigelegt werden.

Online-Redaktion: Grundsätzlich: Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit die Kooperation von Sport und Ganztagsschulen gelingt?

Fehres: Auch hier gibt es keine allgemeingültige Lösung. Oft sind es bestimmte Voraussetzungen und Lösungen vor Ort, die aber nicht zwingend überall einfach übertragbar sind. Wichtig scheint, dass die Institutionen sich zunächst einmal über ein gemeinsames Ziel verständigen. Dabei ist Kommunikation das A und O. Nur wenn die Partner auf Augenhöhe miteinander sprechen, kann die Zusammenarbeit konkrete Formen annehmen.
Das wissen wir nicht zuletzt aus unzähligen Praxisbeispielen. Günstige Voraussetzungen sind dann gegeben, wenn die Schulleitung einen engen und persönlichen Kontakt zum lokalen Sportverein besitzt und das Rollenverständnis für alle Beteiligten klar ist. Die Sportvereine besitzen oft über ihre Mitglieder günstige Netzwerke und einen direkten Draht zu Schulen, hier muss dann der erste Stein ins Rollen gebracht werden.

Online-Redaktion: Muss dafür die Ausbildung von Sportlehrer/innen und Übungsleiter/innen verändert werden und wenn ja, wie?

Fehres: Selbstverständlich ist es notwendig, dass die aktuelle Schulentwicklung und die damit einhergehenden Veränderungen auch Bestanteil in den Qualifizierungsmaßnahmen sind. Der organisierte Sport ist derzeit dabei, die Übungsleiter/innen und Trainer/innen auf den Einsatz im Rahmen von Ganztagsschulangeboten vorzubereiten. So gibt es mittlerweile eine Reihe von speziellen Ausbildungsprogrammen für die Zielgruppe in unseren Landessportbünden und Sportfachverbänden.

Der DOSB entwickelt gerade Materialien zur „Qualifizierung für den Sport im Rahmen der Ganztagsschule“ für die Mitgliedsorganisationen. Auf Seiten der Lehrerausbildung würden wir uns wünschen, dass die Thematik mehr in den Fokus gerückt wird. So sollten gerade die Sportlehrerinnen und Sportlehrer viel mehr über das deutsche Sportvereinswesen wissen und diese Informationen an die Schülerinnen und Schüler bzw. Eltern weitergeben.

Dr. Karin Fehres ist seit 2006 Direktorin Sportentwicklung im DOSB und seit 2013 Mitglied der Expertengruppe „Gender Equality and Sport“ der Europäischen Kommission. Nach dem Lehramtsstudium Sport und Latein in Mainz und Berlin Promotion zur Dr. phil. an der FU Berlin; Bildungsreferentin, später Generalsekretärin im Allgemeinen Deutschen Hochschulsportverband, Sportamtsleiterin in Frankfurt am Main und Geschäftsführerin der Waldstadion Frankfurt GmbH.
Sie ist außerdem ehrenamtliche zweite Vorsitzende der Deutschen Sportjugend, Vorstandsmitglied der Sportjugend Hessen und Vizepräsidentin im Deutschen Turnerbund und war selbst Übungsleiterin und Kampfrichterin.

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