Ganztag mit Radprofil: „Fahrradfreundliche Schule“ : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Wenn Kinder und Jugendliche mit dem Fahrrad zur Schule fahren, ist eine Fahrrad-AG eine gute Idee. Die „Fahrradfreundliche Schule“ in Baden-Württemberg stärkt Verkehrssicherheit und Umweltbildung.
Als Harry Lipp vor rund einem Jahrzehnt die Internationale Gesamtschule Heidelberg betrat, fiel dem ambitionierten Radsportler schnell ein zu diesem Zeitpunkt ungenutzter Raum auf. Hier, so erfuhr er, befand sich vor Jahren einmal eine Fahrradwerkstatt der Schule. Schon damals stand für den heute 40-jährigen Sport-, Mathematik- und Englischlehrer fest: „Ich muss die Möglichkeit beim Schopfe packen und wieder eine Fahrrad-Arbeitsgemeinschaft im Rahmen des Ganztags anbieten. Die Idee stieß auch bei der Schulleitung auf offene Ohren.“
Zehn Jahre später wird in der Werkstatt nicht nur fleißig geschraubt. In der Orientierungsstufe können sich die Schülerinnen und Schüler dieser „Schule besonderer Art“, wie die Gesamtschulen in Baden-Württemberg nach § 107 des Schulgesetzes heißen, um einen Platz in der Profilklasse „Fahrrad“ bewerben. Im Schnitt rund 50 Schülerinnen und Schüler werfen ihren Hut bei der Anmeldung zur Klasse 5 an der Gesamtschule Heidelberg in den Ring – nur 28 können den Zuschlag erhalten.
Für sie steht innerhalb von zwei Jahren für jeweils ein halbes Schuljahr eine zweistündige „Fahrradwerkstatt-AG“ und eine „Mountainbike-AG“ auf dem Stundenplan des Ganztagsangebots. In der Werkstatt werden den Kindern Basiskompetenzen vermittelt, um sie zu befähigen, radtechnische Probleme selbst zu beheben. In einzelnen Radtechnik-Workshops werden Themenfelder wie Reifen, Schaltung, Bremsen, etc. behandelt. In den Workshops werden sie von älteren Schülerinnen und Schülern, die zu Radsportmentorinnen und -mentoren ausgebildet wurden, unterstützt und angeleitet.
Werkstatt und Mountainbike
Die Ausbildung zum Schülermentor Radsport richtete das ehemalige Landesinstitut für Schulsport, Schulkunst und Schulmusik (LIS) in Zusammenarbeit mit dem Württembergischen Radsportverband ein. Seit nunmehr zwei Jahren ist das Landesinstitut eine Außenstelle des Zentrums für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL). Harry Lipp ist dankbar für die Unterstützung: „Das Mentorenprinzip hat sich seit Jahren in der AG bewährt. So können sich Berufs-, Lebens- und Schulwelt in der Fahrradwerkstatt-AG optimal verzahnen.“
Sein Herz geht auf, wenn Harry Lipp auf den Inhalt der Mountainbike-AG zu sprechen kommt, schließlich lag hier ein wesentlicher Schwerpunkt seiner eigenen Radsportkarriere. „Wir wollen für die Vielfalt des Mountainbiking begeistern und zum lebenslangen Radfahren anregen.“ Schuleigene Mountainbikes mit Federgabel und Scheibenbremsen entführen die Profilklasse in die Felder und Wälder rund um Heidelberg, die sich zum Biken perfekt anbieten.
Schwerpunkt Rad in der Atelierstunde
Überhaupt: Die Rad-Profilklasse lernt nahezu alle Facetten rund um das Fahrrad kennen. Genutzt wird dazu die sogenannte Atelierstunde. Sie steht allen Profilklassen an der Gesamtschule für kreative Aktivitäten zur Verfügung. Aktuell beschäftigt sich die Gruppe mit der 200-jährigen Geschichte des Fahrrads. Die Schülerinnen und Schüler schreiben Referate dazu, entwickeln Plakate oder recherchieren die Historie des Hochrades.
In früheren Zeiten wurde die Klasse künstlerisch aktiv, gestaltete Garderobenhaken aus Lenkern oder konstruierte Fahrradständer aus Altreifen. Und auch im weiteren Unterricht, wie beispielsweise in Mathematik und Kunst, wird regelmäßig der inhaltliche Bezug zum Fahrrad hergestellt.
„Wir gehen mit unserem Angebot weit über das übliche Verkehrssicherheitstraining hinaus“, sagt Harry Lipp. Ihm und seinem Team ist nicht verborgen geblieben, dass bei Kindern und Jugendlichen aufgrund von weniger Bewegung im Freien inzwischen häufiger die motorischen Fähigkeiten zu wünschen übrig lassen. „In Heidelberg ist die Situation aufgrund vieler Radsportvereine und engagierter Eltern zwar besser als andernorts, aber wir möchten dazu beitragen, dass dies auch so bleibt“, verspricht Lipp.
Vielleicht befinden sich in den Profilklassen auch deshalb regelmäßig Schülerinnen und Schüler, die das Fahrrad anfangs noch nicht sicher nutzen können. Lipp: „Wir bauen ihre Fähigkeiten Stück für Stück auf.“ Und manchmal entdecken sie sogar ein Juwel. So wie die inzwischen 22-jährige Abby Hogie. Die ehemalige Schülerin engagierte sich als Radsportmentorin und fand im Mountainbiken ihre Leidenschaft. Heute wird die junge Frau von einem Team gesponsert und fährt beim iXS Downhill Cup, im Europacup und im Weltcup mit.
„Fahrradfreundliche Schule“ in Baden-Württemberg
Das Fahrrad hat das Klima an der Internationalen Gesamtschule Heidelberg nachhaltig verändert. Immer mehr Lehrkräfte lassen ihr Auto stehen und kommen mit dem Rad zur Schule. Bei der Gestaltung des Schulgeländes wird der „Drahtesel“ selbstverständlich mitgedacht. Das alles bescherte der Schule das Zertifikat „Fahrradfreundliche Schule“. Es wurde 2015 erstmals vom Land Baden-Württemberg vergeben und wird seither jährlich neu ausgeschrieben.
Mit dieser Zertifizierung und den Mentoren-Ausbildungsprogrammen – neben dem Schülermentoren Radsport gibt es auch die Ausbildung zum Schülermentor Verkehr & Mobilität – intensiviert das Land seine Verkehrserziehung. Es möchte so gleichermaßen die Fahrradfreundlichkeit erhöhen und das Klimabewusstsein der Kinder und Jugendlichen schärfen und einen Beitrag zum Erreichen der nationalen Klimaziele leisten. Eine fahrradgerechte Infrastruktur und ein Schwerpunkt in der Mobilitäts- und Verkehrserziehung auf das Radfahren sind Voraussetzungen für den Erhalt der Auszeichnung.
Heike Sorge begleitet im ZSL das Programm „Fahrradfreundliche Schule“, und ihr Kollege Axel Schickl organisiert und leitet die Ausbildung zum Schülermentor Verkehr & Mobilität. Beide sind überzeugt: „Es handelt sich um zwei kreative didaktische Ansätze, die Thematik in den Köpfen der Schülerinnen und Schüler zu verankern.“ Sie wissen aber auch: Damit dies gelingt, bedarf es an den einzelnen Schulen engagierter Lehrkräfte. Erfreut stellen sie fest: „Die finden wir immer häufiger.“
Wer sich „Fahrradfreundliche Schule“ nennen möchten, muss sich beim ZSL online bewerben und verschiedene Qualitätskriterien erfüllen. Sie reichen von einem Beschluss der Schulkonferenz, fahrradfreundlich werden zu wollen, und der Verankerung im Leitbild über den Nachweis eines aktuellen Radschulwegplans und dass Themen rund ums Fahrrad regelmäßig im Unterricht behandelt und an die Eltern herangetragen werden, bis hin zu ganz konkreten Maßnahmen.
Als da wären: Fahrrad-AG, Abstellanlagen für Fahrräder, das Vorhandensein geeigneten Reparaturwerkzeugs, Aktionen, die das Tragen eines Helmes fördern, Radschulausflüge, Geschicklichkeitstraining, Projekttage, Nachweis von Fortbildungen der Lehrkräfte zum Thema Rad sowie die Kooperation mit außerschulischen Partnern, wie Vereinen, Verbänden oder einer Krankenkasse. Es gibt einige Pflichtkriterien und viele Kann-Kriterien, die Raum für individuelle Lösungen an den Schulen lassen und mit einem Punktesystem bewertet werden. Je nach Schulart muss eine gewisse Punktzahl erreicht werden.
Heike Sorge weiß um den Umfang der Anforderungen und dass diese viel Engagement der Verkehrsbeauftragten an den Schulen erfordern. „Sie erhalten dafür meist keinerlei Vergütung und nutzen häufig ihre Freizeit“, berichtet sie. Das ZSL unterstützt sie, wann immer es möglich ist. Für die Vergabe des Zertifikats wird auch nicht erwartet, dass auf Anhieb alle von der Schule ausgewählten Kriterien optimal erfüllt werden. „Es gibt Zeit und Raum zum Nachbessern“, betont Heike Sorge.
Mehr Kinder und Jugendliche steigen aufs Fahrrad um
26 Schulen aller Schulformen wurden bislang ausgezeichnet. Unter anderem auch, weil sie mit ihren Kommunen kooperieren, etwa wenn es darum geht, das Umfeld der Schule fahrradfreundlich zu gestalten. Ein Beispiel ist die Fahrrad-„Service-Station“ des Stiftsgymnasiums Sindelfingen. Es wirkt sich gewiss nicht negativ auf die Zertifizierung aus, wenn Schülerinnen und Schüler als „Schülermentoren Verkehr und Mobilität“ ausgebildet wurden. Pro Jahr melden sich rund 50 aus ganz Baden-Württemberg zu den insgesamt fünf Tage dauernden Grund- und Aufbaulehrgängen an.
Axel Schickl: „Sie unterstützen anschließend ihre Lehrkräfte an ihren Schulen, sprechen jüngere Mitschülerinnen und Mitschüler an, werben fürs Radfahren, aber auch für die Sicherheit im Straßenverkehr.“ Dazu zählt auch das Tragen eines Helmes. Nochmals Axel Schickl: „Bis zur Jahrgangsstufe 6 ist die Quote der Schülerinnen und Schüler, die einen Kopfschutz nutzen, gut. Danach wird sie leider immer schlechter.“
Die zunehmende motorische Unsicherheit bereitet ihm Kopfzerbrechen, zumal in Coronazeiten immer mehr Schülerinnen und Schüler, aber auch Berufspendler aufs Fahrrad umsteigen, um dem Gedränge in öffentlichen Verkehrsmitteln zu entgehen. Er weiß, die Problematik existiert nicht nur in Baden-Württemberg. Und so lautet sein Fazit: „Wir sind an einem Austausch von Konzepten interessiert und selbstverständlich bereit, andere Bundesländer bei der Umsetzung unserer Konzepte zu unterstützen.“
Kategorien: Forschung - Internationale Entwicklungen
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