Chance und Nutzen der Bewegung im Ganztag : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Als Lehrer und Leistungssportler weiß Stefan Rochelmeyer um die Bedeutung von Bewegung. Der Referent im Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung München berät Ganztagsschulen.
Online-Redaktion: Rhythmisierung ist ein Organisationsprinzip im gebundenen Ganztag. Für Bayern heißt es, dass „im Rahmen der organisatorischen und räumlichen Möglichkeiten […] ein zeitlich ausgewogener Wechsel zwischen Phasen der Anstrengung und der Erholung, der Bewegung und der Ruhe, der kognitiven und der praktischen Leistungen […] stattfindet“. Wie kann dieses Qualitätsmerkmal erfüllt werden?
Stefan Rochelmeyer: Das Prinzip der Rhythmisierung spiegelt einige wissenschaftliche Erkenntnisse wider, unter anderem die, dass sich der Unterricht an den natürlichen Bedürfnissen der Lernenden orientieren soll. Wir können von den Schülerinnen und Schülern nicht erwarten, dass sie von 8 bis 16 Uhr durchgehend kognitiv aufnahmebereit sind. Deshalb sind methodische und organisatorische Wechsel vor allem in der Ganztagsschule so wichtig. Da vor allem jüngere Kinder einen starken Bewegungsdrang haben und auch Lerninhalte gerne handelnd, im wahrsten Sinne des Wortes, begreifen, ist es aus meiner Sicht ein wertvoller Ansatz, Bewegung in den Unterricht als festen Bestandteil zu integrieren.
Online-Redaktion: Das eine ist das Lernen, das andere die Gesundheit…
Rochelmeyer: Wir alle müssen etwas für unsere Gesundheit tun. Und immer mehr Menschen erkennen, welch große Rolle der Sport und die Bewegung dabei spielen. Wir können gar nicht früh genug beginnen, das Bewusstsein hierfür zu schärfen. Den Schulen, Ganztagsschulen im Besonderen, aber auch den Kindertageseinrichtungen, kommt dabei eine zunehmend große Bedeutung zu. So empfiehlt beispielsweise die Weltgesundheitsorganisation für Heranwachsende eine Aktivitätszeit von 60 Minuten pro Tag. Ohne planvoll integrierte Bewegungsangebote im Ganztagsschulalltag ist dieser Wert nur sehr schwer zu erreichen.
Online-Redaktion: Setzen Ganztagsschulen dies ausreichend um?
Rochelmeyer: Es gibt viele Ganztagsschulen, die tolle Konzepte zu rhythmisiertem und bewegtem Lernen entwickelt haben. Meine momentanen Erfahrungen als Sportlehrer und Referent zeigen, dass gerade für diesen Bereich eine gewisse Offenheit in den Schulen entstanden ist. Die Nachfrage nach innovativen Konzepten ist recht groß. Es tut sich was, da eben auch das gesellschaftliche Bewusstsein für Gesundheit und einen aktiven Lebensstil gestiegen ist. Diese Entwicklung ist schon in den Schulen angekommen, genauso wie die Einsicht, dass tägliche Bewegung in die Schule gehört. Egal, ob im gebundenen oder offenen Ganztag oder auch in der Halbtagsschule.
Online-Redaktion: Häufig beschränkt sich das Sport- und Bewegungsangebot auf Sportstunden und Arbeitsgemeinschaften. Reicht das für die Rhythmisierung?
Rochelmeyer: Zunächst einmal muss man sagen, dass jede Bewegungseinheit, egal, wo sie im Schulalltag eingebettet ist, sinnvoll und wertvoll ist. Unterschätzt wird oft noch, dass sich Bewegung sehr gut in den Fachunterricht einbauen lässt oder dass man durch informelle Lernangebote, wie Bewegungspausen, die Schülerinnen und Schüler aus der Sitzposition locken und aktivieren kann.
Online-Redaktion: Hüpfen in Mathe…
Rochelmeyer: Als Bewegungspause durchaus. Mit Hüpfen mathematische Lerninhalte zu vermitteln, das ist schon anspruchsvoller. Aber Spaß bei Seite. Ihre Formulierung zeigt, dass Bewegung oftmals nicht ganz ernst genommen wird. Auch in Mathematik kann ich beispielsweise einzelne Elemente von Thermen durch die Lernenden szenisch darstellen lassen, etwa Gesetzmäßigkeiten wie das Distributivgesetz. Allein durch solche simplen Methoden bringe ich Bewegung in den Unterricht und schaffe gleichzeitig noch ein vertieftes Lernverständnis.
Oder nehmen Sie die bekannte Methode des Laufdiktats im Rechtschreibunterricht. Zerschneiden Sie einfach den Diktattext und platzieren die Ausschnitte im Klassenzimmer oder der Lernlandschaft. Anschließend sollen die Kinder die Diktatsätze bergen, sich den Inhalt merken, zum Platz zurückkehren und die Sätze aufschreiben. Schon macht ein Diktat mehr Spaß und die Bewegung ist automatisch dabei. Eine solche Übungsstunde kann wunderbar am Nachmittag in den Lernzeiten stattfinden und so den Schultag sinnvoll rhythmisieren.
Online-Redaktion: Eignen sich solche Ideen für alle Altersgruppen?
Rochelmeyer: Ich bin mir bewusst, dass wir damit in erster Linie die Jahrgänge eins bis sechs mit ihrem ganz natürlichen Bewegungsdrang motivieren können. Der nimmt bedauerlicherweise mit zunehmendem Alter ab. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass auch ältere Schülerinnen und Schüler oft Bewegungsangebote im Unterricht dankend annehmen – sogar Bewegungspausen.
Eine methodisch vielfältige Gestaltung ist ja ein zentrales Qualitätsmerkmal guten Unterrichts – auch in der Mittel- und Oberstufe. Entsprechend groß ist das Interesse an den Weiterbildungen des Staatsinstituts für Schulqualität und Bildungsforschung (ISB). Wir stellen aber schon fest, dass vor allem die Themen „Lernen durch Bewegung“ und „Bewegungspausen“ in den Grundschulen sehr großes Interesse erzeugen und es hier eine sehr große Offenheit gegenüber diesen Konzepten gibt.
Online-Redaktion: Welche Ansätze bieten sich an, auch die höheren Jahrgangsstufen zu erreichen oder sogar für bewegten Unterricht zu begeistern?
Rochelmeyer: Bei den Bewegungspausen ist es tatsächlich etwas schwierig. Aber ein Spiel wie „Kannst du auch?“, das in der von uns entwickelten Broschüre „Rhythmisierung durch Bewegungspausen“ zu finden ist, kann sicherlich als Auflockerung noch in Oberstufenkursen gespielt werden. Es kommt hier immer auch auf die Gruppe an. Entscheidend ist meines Erachtens, dass sich die Lehrkräfte der Thematik bewusst sind, den Mut haben, etwas auszuprobieren und sich von kleinen Rückschlägen nicht entmutigen lassen.
In Bezug auf das „Bewegte Lernen“ bietet sich für höhere Jahrgangsstufen die fachübergreifende Kooperation, beispielsweise in Unterrichtsprojekten an. In Kooperation mit dem Physikunterricht habe ich selbst in einer Ganztagsklasse an meiner Schule ein Projekt „Geschwindigkeit im Sport“ durchgeführt. Die Schülerinnen und Schüler sollten überlegen, welche Rolle Geschwindigkeit in einzelnen Sportarten spielt und wie sich Geschwindigkeiten, zum Beispiel von Bällen, bestimmen lassen.
Sehr spannend ist, Sport und digitales Lernen zusammenzuführen. Die Frage, wie sich Spiel- oder Bewegungsbeobachtungen digital erfassen lassen und wie sie ausgewertet werden können, bildet einen interessanten Ansatz für Kooperationen der Fächer Sport und Informatik. Solche Projekte sind eine echte Win-Win-Situation für alle Beteiligten und motivieren selbst sportlich weniger interessierte Schülerinnen und Schüler ungemein.
Online-Redaktion: Bietet Bewegung nicht auch viele Möglichkeiten zur Partizipation von Schülerinnen und Schülern?
Rochelmeyer: Auf jeden Fall. Vor allem für die Ganztagsschule ist die Partizipation ein äußerst wichtiges Thema. Viele Schülerinnen und Schüler kennen sich schon einmal wirklich gut in diesem Bereich aus. Die Aufgaben und Übungen in unserer Broschüre „Rhythmisierung durch Bewegungspausen“ können zum Beispiel leicht schon von Grundschulkindern angeleitet oder vorgemacht werden. Man kann auch eigene „Bewegungschefinnen“ oder „Bewegungschefs“ bestimmen, die für die Durchführung der Bewegungspausen zuständig sind.
Einen weiterführenden Ansatz verfolgen wir beispielsweise am Gymnasium München-Moosach, an der Schule, an der ich tätig bin. Wir bilden Kollegiatinnen und Kollegiaten der Oberstufe im Rahmen eines P-Seminars – so heißen in Bayern die Projekt-Seminare zur Studien- und Berufsorientierung – zu Sportmentoren aus, gemäß dem Konzept der Bayerischen Landesstelle für Schulsport. Im Anschluss können sie dann in bestimmten Sportarten unangeleitete Angebote für die Ganztagskinder durchführen.
Auf diese Weise entwickeln die älteren Schülerinnen und Schüler pädagogische Kompetenzen, lernen mit Konflikten umzugehen und schaffen für sich erste Voraussetzungen, später in die Trainer- oder Übungsleitertätigkeit einzusteigen. Die Jüngeren erhalten ein interessantes und vielseitiges zusätzliches Bewegungsangebot. Am Ende profitieren alle: die Mentorinnen und Mentoren, jüngere Schülerinnen und Schüler, die Ganztagsschule, die ihr AG-Angebot bereichern kann, und am Ende auch die Sportvereine, die auf mehr potenzielle Trainerinnen und Trainer zurückgreifen können.
Online-Redaktion: Wie wirkt sich Bewegung auf den Unterricht und das Lernen aus?
Rochelmeyer: Bewegung hat eindeutig eine stimulierende Wirkung. Schon kleine Reize, die im Laufe des Schulalltags gesetzt werden, verbessern die Durchblutung des Gehirns und damit seine Leistungsfähigkeit. Die Lernenden können Stress und ihren Bewegungsdrang abbauen, sodass ein konzentrierteres Arbeiten möglich ist. Die gesundheitliche Bedeutung von Bewegung erstreckt sich bis zu den Themen Haltungsfehler, Übergewicht oder Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems als Folgen von Bewegungsmangel. So lässt sich die Wichtigkeit von körperlicher Aktivität und Bewegung vermitteln.
Online-Redaktion: Wie und wo können sich Schulen und Lehrkräfte „schlau“ machen?
Rochelmeyer: Unsere Broschüre „Rhythmisierung durch Bewegung“ ist dafür sicherlich gut geeignet. Bei unserer gleichnamigen Onlinefortbildung in Kooperation mit der Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung Dillingen konnten wir bereits mehr als 100 Interessierte begrüßen. Damit haben wir automatisch auch eine Menge Multiplikatorinnen und Multiplikatoren gewonnen. In den Onlinefortbildungen liefern wir theoretische Grundlagen rund um das Thema Bewegung und tauschen uns auch intensiv aus. Außerdem zeigen wir einfache Übungen, die viel bringen und so aufgebaut sind, dass sie von jedem durchgeführt werden können, auch von Kolleginnen und Kollegen, die glauben, ungeeignet für die Durchführung von Bewegungseinheiten zu sein.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Kategorien: Kooperationen - Kulturelle Bildung
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