Bewegter Ganztag mit qualifiziertem Personal : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Die Sportjugend Hessen trägt maßgeblich dazu bei, dass Sport, Spiel und Bewegung die hessischen Ganztagsangebote prägen. Dr. Daniel Illmer, Leiter des Referats „Jugendbildung und Qualifizierung im Sport“, im Interview.
Online-Redaktion: Beginnen wir vielleicht damit: Sie haben kürzlich den „Bildungsbericht des organisierten Sports in Hessen“ mit herausgegeben. Was beinhaltet er?
Dr. Daniel Illmer: Der Bildungsbericht fasst die Angebote und Aktivitäten sowie das Grundverständnis des organisierten Sports in Hessen für den Bildungsbereich zusammen. Die Bildungsträger im organisierten Sport in Hessen sind der Landessportbund Hessen, die Sportjugend Hessen und die Bildungsakademie des Landessportbundes Hessen, die mit jeweilig unterschiedlicher Schwerpunktsetzung gemeinsam das Bildungsangebot gestalten.
Der Bildungsbericht ist für uns aus zwei Gründen sehr wichtig. Erstens geht es uns darum, die hohe Bedeutung von Bildung im Sport und vor allem von Bildung durch Sport umfassend und auch zahlenbasiert darzustellen und damit zu zeigen, dass Bildung nicht nur in formalen Settings wie Schulen vermittelt wird, sondern auch in non-formalen oder informellen Settings. Zweitens geht es uns darum, die Vielfalt unserer Angebote und das uns prägende ganzheitliche Bildungsverständnis darzustellen und uns damit als wichtigen Akteur in der Bildungslandschaft Hessens zu verorten.
Online-Redaktion: Sie waren selbst Leistungssportler und sind Sportwissenschaftler– welche Bedeutung hat Sport für Kinder und Jugendliche?
Illmer: Eine sehr große und aus meiner Sicht eine oft unterschätzte Bedeutung. Sport und Bewegung tragen maßgeblich bei zu einem gesunden Aufwachsen und fördern die soziale Interaktion und das Teamwork. Darüber hinaus trägt regelmäßige Bewegung zur Verbesserung der kognitiven Funktionen und des Lernverhaltens bei. Regelmäßige Bewegung führt zu einem subjektiv höheren Wohlbefinden und reduziert maßgeblich Stress. Aber es ist nicht nur Sport und Bewegung an sich, die viele positiven Auswirkungen für Gesundheit und Persönlichkeitsentwicklung von jungen Menschen haben, es ist vor allem auch das Setting, in dem Sport betrieben wird, das für viele Kinder und Jugendliche eine wichtige Ressource für das Aufwachsen darstellt. Sei es der Sportverein, das Team, in dem man trainiert, oder die Clique, die sich regelmäßig zum Sporttreiben trifft.
Online-Redaktion: Wie trägt die Hessische Sportjugend dazu bei, dass sich Kinder und Jugendliche regelmäßig bewegen?
Illmer: Dass sich mehr Kinder und Jugendliche mehr bewegen ist eines unserer zentralen Ziele. Ein wichtiger Hebel dafür ist beispielsweise die Qualifizierung von Übungsleiterinnen und Übungsleitern, die Gestaltung von Fort-, Aus- und Weiterbildungen für soziale Fachkräfte und für Lehrkräfte. Dann gibt es die Ausbildung von jungen Menschen zu Sportassistent*innen oder Sporthelfer*innen in den Schulen. Gerade Letztere ist eine sehr gute Möglichkeit, mehr Bewegung an Schulen zu implementieren. Wir qualifizieren hier Sportlehrkräfte an Schulen, sodass diese im nächsten Schritt wiederum ausgewählte Schülerinnen und Schüler ausbilden können.
Die Sporthelferinnen und -helfer gestalten dann beispielsweise – nach erfolgreicher Ausbildung – eigenständig bewegte Pausen und motivieren ihre Mitschüler zu mehr Bewegung. Darüber hinaus sind wir grade an Schulen sehr aktiv in der gemeinsamen Gestaltung von Sportfesten und Teamdays auf dem Schulgelände. Hier bieten wir an, gemeinsam mit den örtlichen Sportvereinen einen ganzen Tag unter das Motto Sport und Bewegung zu stellen. Schülerinnen und Schülerinnen und Schüler können während dieser Zeit verschiedene Spiel- und Sportangebote ausprobieren.
Weiterhin sind wir sehr aktiv im Bereich Kindergarten, qualifizieren Fachkräfte der Kindertagesbetreuung, unterstützen die systematische Kooperation von Sportvereinen und Kindergärten und bieten mit dem Qualitätssiegel “Hessischer Bewegungskindergarten” einen evidenzbasierten Qualitätsrahmen. Ein weiteres wichtiges Feld, das auch dazu gehört, wenn wir über regelmäßige Bewegung von Kindern und Jugendlichen sprechen, sind die Themen Integration und Inklusion. Mit dem Ziel, dass möglichst alle Kinder und Jugendlichen entsprechende Angebote vorfinden, arbeiten wir mit zahlreichen Sportvereinen in Hessen an speziellen Programmen und Maßnahmen, um insbesondere diejenigen Kinder und Jugendlichen zu erreichen, die von allein vielleicht nur schwer den Zugang zu Sport und Bewegung finden.
Online-Redaktion: Welche Rolle spielt der organisierte Sport im Ganztag?
Illmer: Der organisierte Sport ist der größte und stärkste außerschulische Partner der Ganztagsschule in Hessen und beteiligt sich mit vielfältigen, qualitativ hochwertigen Bildungs- und Bewegungsformaten an der Umsetzung. Hessens Sportvereine leisten einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung der Ganztagsangebote und übernehmen Verantwortung. Für die Zukunft wünschen wir uns eine noch bessere Einbindung von Sportvereinen in die Gestaltung von Ganztagsangeboten, eine langfristig angelegte Finanzierung und eine Kooperation auf Augenhöhe.
Online-Redaktion: Zum Sport gehört in Ihren vielfältigen Angeboten auch das Spiel, etwa „Fünf-Minuten-Spiele“ für „wilde Kinder“ oder „Kooperative Abenteuerspiele“. Wie wichtig ist das Spiel?
Illmer: Spielen ist entscheidend und essenziell für Kinder und Jugendliche. „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“, hat schon Friedrich Schiller sehr treffend formuliert. Spielen bietet Freiheit und einen Raum zum Entdecken und Ausprobieren. Zum Beispiel von anderen Rollen, von Emotionen und Ausdrucksweisen oder auch von Bewegungsformen. Spiele können auch intentional eingesetzt werden, um zum Beispiel bestimmte Dynamiken oder Verhaltensmuster in einer Gruppe, Klasse oder Mannschaft deutlich werden zu lassen oder um Energie zu wecken beziehungsweise manchmal auch um zu beruhigen. Gleichzeitig stellen wir aber auch fest, dass junge Menschen heute ein signifikant geringeres Spielerepertoire haben, als das noch vor zwanzig Jahren der Fall war. Das heißt, die Vielfalt von insbesondere Bewegungsspielen hat bei jungen Menschen deutlich nachgelassen.
Online-Redaktion: Einige Ihrer Fortbildungsangebote tragen den Zusatz: „Das Praxismodul ist für die Ausbildung ÜL B ‚Sport im Ganztag‘ anrechenbar.“ Was verbirgt sich dahinter?
Illmer: Wir haben die Ausbildung ÜL B “Sport im Ganztag” seit letztem Jahr ausgesetzt und überarbeiten diese im Hinblick auf die vielfältigen Herausforderungen, die mit dem Rechtsanspruch auf eine ganztägige Betreuung in der Grundschule ab dem Jahr 2026 verbunden sind. Hier sind wir bereits in engem Austausch mit dem Schulsportreferat des Hessischen Kultusministeriums und der Zentralstelle für Schulsport, um ab nächstem Jahr passende zukunftsfähige Qualifizierungsformate auf den Weg zu bringen. Mit unseren Fortbildungen ist es dennoch weiterhin möglich, die Lizenzen zu verlängern.
Online-Redaktion: In den vergangenen Jahren nutzen Sie auch verstärkt Online-Formate, beispielweise „Teambuilding online“. Welche Erfahrungen konnten Sie damit sammeln?
Illmer: Durch die Corona-Maßnahmen im Jahr 2020 und 2021 mussten wir unsere Fortbildungen vermehrt auf Online-Formate umstellen. Viele der Formate haben sich bewährt und wurden von unseren Teilnehmenden sehr gut angenommen. In Zukunft möchten wir den Fokus wieder verstärkt auf Präsenz-Fortbildungen legen, da sich nicht alle Themengebiete mit einer Online-Fortbildung optimal abbilden lassen und da wir auch so etwas wie einen „Nachholbedarf“ feststellen. Einige Online-Formate bleiben aber weiterhin fester Bestandteil unseres Fortbildungsprogramms.
Online-Redaktion: Die Deutsche Sportjugend hat in einem Positionspapier zum Ganztag die Rahmenbedingungen betont. Welche Rahmenbedingungen sind für Sie für Hessen besonders wichtig?
Illmer: Aus unserer Sicht sind vier Perspektiven entscheidend. Erstens, und das hatte ich schon erwähnt, geht es uns um eine strukturelle und gleichberechtigte Einbindung von Sportvereinen in die Gestaltung von Ganztagsangeboten sowie die Schaffung einer langfristigen Finanzierung solcher Kooperationen. Zweitens ist für uns der Aspekt der Fachkräfte im Ganztag entscheidend. Um einen bewegten Ganztag gestalten zu können, braucht es qualifiziertes Personal an den Schulen. Hier sind neue Konzepte notwendig, um Fachkräfte zu finden, entsprechend zu vergüten und um ehrenamtlich Tätigen, die notwendigen Freiräume zu verschaffen.
Drittens ist uns der Aspekt der Infrastruktur sehr wichtig. Ganztagsschulen benötigen eine adäquate, kindgerechte und nachhaltige Infrastruktur – auch und gerade für Bewegung, Spiel und Sport. Viertens setzen wir auf eine zeitliche Begrenzung des Ganztags. Um den wichtigen Stellenwert des vereinsorganisierten Sporttreibens und der außerschulischen Jugendarbeit auch zukünftig zu erhalten, sind zeitliche Begrenzungen der schulischen Ganztagsbetreuung bzw. bei verpflichtender Ganztagschule zu gewährleisten.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Kategorien: Kooperationen - Lokale Bildungslandschaften
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