Wissenstransfer zwischen Bildungsregionen : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Im Forschungsprojekt "Lokale Bildungslandschaften in Kooperation von Ganztagsschule und Jugendhilfe" des Deutschen Jugendinstituts arbeiten sechs Modellregionen am Zusammenwachsen der Bildungsinstitutionen.
Es waren "Pioniere", die sich am 8. und 9. Dezember 2008 im Deutschen Jugendinstitut in München versammelten. Als solche bezeichnete Dr. Hans Rudolf Leu, Leiter der Abteilung Kinder und Kinderbetreuung, jedenfalls die rund 40 Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Workshops "Lokale Bildungslandschaften - Wissenstransfer zwischen den Modellregionen", die in seinem Haus zusammen gekommen waren.
Laut Leu ist mit dem vom BMBF geförderten Projekt "Lokale Bildungslandschaften in Kooperation von Ganztagsschule und Jugendhilfe", das vom 1. Februar 2007 bis zum 31. Januar 2010 läuft, "Pionierarbeit" geleistet worden.
Das Forschungsprojekt analysiert den Zusammenhang zwischen der Gestaltung lokaler Bildungslandschaften und dem Ausbau schulischer oder schulbezogener Ganztagsangebote. Unterschiedliche Strategien und Entwicklungen einer genuin lokalen Bildungspolitik mit dem Ziel des Abbaus herkunftsbedingter Bildungsbenachteiligungen werden in sechs Modellregionen rekonstruiert. Mit diesen Modellregionen, also den Kommunen und den Schulämtern, hat das DJI Kooperationsvereinbarungen geschlossen. Es begleitet und berät diese beim Aufbau integrierter Vernetzungs- und Planungsstrukturen.
Der Wissenstransfer wird durch lokale Fachtage und regionsübergreifende Workshops gewährleistet. So kamen hier Vertreterinnen und Vertreter von Schulbehörden, Schulämtern, der Jugendhilfeplanung, von Kindertageseinrichtungen, Kreisverwaltungen, Familiendezernaten, Schulverwaltungsämtern, Jugendämtern, Gemeindeverwaltungen und der Schulaufsicht der Städte Arnsberg, Hamburg, Jena, Lübeck sowie der Bildungsregion Groß-Gerau und des Landkreises Forchheim zum Austausch und zur Diskussion zusammen.
Vier Dimensionen lokaler Bildungslandschaften
"Bei diesem Projekt handelt es sich nicht um eine Praxisbegleitung, sondern um Grundlagenforschung", erläuterte Projektleiter Dr. Heinz-Jürgen Stolz in seinem Eröffnungsreferat. In einem projektübergreifenden Forschungsdesign erhebt das DJI Daten in den Regionen, führt Interviews und analysiert Dokumente. 2010 soll auf einer großen Fachtagung in Berlin die Endauswertung mit einer Abschlussberichterstattung vorgestellt werden. Die Ergebnisse werden auch als Buch publiziert.
Stolz definierte die vier Dimensionen, anhand derer der Begriff "Lokale Bildungslandschaften" beschrieben werden kann. Besehe man sich die Aktivitäten in den sechs Modellregionen, habe die Planungsdimension mit ihrem institutionellen Fokus noch das Übergewicht, so eine erste Schlussfolgerung aus dem bisherigen Projektverlauf. Die auf lokaler Ebene stattfindenden Planungsprozesse - Schulentwicklungs-, Jugendhilfe-, Sozial- und Raumplanung sowie die Schulprogrammentwicklung werden bei der Planungsdimension in einen Zusammenhang gestellt.
Bei der zivilgesellschaftlichen Dimension werden öffentlich verantwortete, partizipativ orientierte Bildungsnetzwerke wie Qualitätszirkel oder Steuergruppen konstituiert. In der Aneignungsdimension werden anregende Lern- und Lebensumgebungen als Gelegenheitsstrukturen informellen Lernens - mit dem Ziel der Heterogenisierung von Lerngruppen - gestaltet. In der Professionsdimension arbeiten die im Bildungsbereich tätigen Professionen eng aufeinander bezogen oder gemeinsam oder besuchen gemeinsam Fachtagungen.
Kinder und Jugendliche durch Bildung stärken
"Der erste Schritt bei der Arbeit an den Lokalen Bildungslandschaften bestand in der Gründung von Runden Tischen", zog der Wissenschaftler ein Zwischenresümee. "Gegenwärtig besteht der Handlungsbedarf in unseren Modellregionen in der institutionellen Stabilisierung und Weiterentwicklung der bestehenden Netzwerke. In der Zukunft muss stärker die Aneignungsdimension ausgestaltet werden. Die Weiterentwicklung des Professionenverständnisses bildet hierfür eine notwendige Bedingung."
Prof. Dr. Frank-Olaf Radtke von der Goethe-Universität in Frankfurt am Main warnte in seinem Vortrag "Semantiken lokaler Integrationspolitik: Sozialraum und Netzwerke" vor der "Gefahr der Mythenbildung" durch Schlagworte. "Die Beschreibungen dessen, was man mit Netzwerken erreichen will, werden oft im Licht der verfügbaren Mittel und unter dem Eindruck der Erwartungen der Geldgeber formuliert", so der Erziehungswissenschaftler. Wichtig sei, dass wenn Netzwerke funktionieren sollten, dies nicht an Personen hängen dürften: "Die Netzwerke müssen in Kooperationsvereinbarungen überführt werden. Es braucht depersonalisierte organisatorische Strukturen, sonst kehren die Probleme zurück, die man mit Netzwerken eigentlich kurieren wollte."
Das sauerländische Arnsberg, eine stark dezentrale Kommune mit 80.000 Einwohnern und 11.000 Schülerinnen und Schülern, begann Mitte der 1990er Jahre damit, einen politischen Konsens zur systematischen Entwicklung des Bildungsstandortes zu entwickeln. "Die Zielvorgabe der Politik an die Verwaltung war, Kinder und Jugendliche durch eine früh einsetzende ganzheitliche Bildung zu stärken", berichtete Gerd Schmidt vom Fachbereich Schule, Jugend und Familie seinen Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Modellregionen.
Qualitätsentwicklung der Ganztagsschulen voranbringen
500 im Bildungs- und Jugendbereich Beschäftigte entwarfen ein Leitbild, das der Stadtrat einstimmig verabschiedete. Ein weiterer Meilenstein war seit 2002 das Modellprojekt "Selbstständige Schule", bei dem unter anderem ein regionales Qualitätskonzept aufgestellt und die Modellschulen vernetzt wurden. Dieses Projekt erweitert und vertieft die Stadt Arnsberg nun. Man hat die Bereiche Schule und Jugendhilfe zusammengelegt und eine strategische Steuerung für den gesamten Fachbereich eingerichtet.
Darüber hinaus ist eine neue Form des Zusammenwirkens von Bürgerschaft, Politik und Verwaltung implementiert worden. Elemente sind ein Frühwarnsystem, ein Unterstützungsnetzwerk für Familien, ein Spielplatzkonzept, Qualitätsentwicklung in Kindertagesstätten, ein Unterstützungsnetzwerk für eigenverantwortliche Schulen und die Entwicklung eines qualitativ hochwertigen Ganztagsangebotes an den Schulen.
"Alle wollen diesen Weg fortsetzen", erklärte Schmidt. Bis zum Jahr 2013 reiche die aktuelle Kooperationsvereinbarung aller Beteiligten. Etwa 150 bis 250 Personen beraten auf einer so genannten Bildungskonferenz alle weiteren Schritte. "Wir möchten eine vernetzte Schulentwicklung weiterentwickeln und die Qualitätsentwicklung in den Ganztagsschulen voranbringen."
Alle bildungsrelevanten Einrichtungen unter ein Dach
Im oberfränkischen Landkreis Forcheim wollte man sich mit dem Nebeneinander von Schule und außerschulischen Bildungseinrichtungen nicht mehr abfinden und gründete nach der Durchführung einer Zukunftswerkstatt, in der Visionen formuliert wurden, den Verein "FOrsprung". Auch hier finden sich alle an Bildung Interessierten und für Bildung und Erziehung Verantwortlichen zusammen. "Ein Verein ist von Vorteil, weil die Wirtschaft besser auf ihn anspricht als auf öffentliche Institutionen", hat Gerhard Koller, Schulamtsdirektor im Staatlichen Schulamt Forchheim, beobachtet.
Die erste Mitgliederversammlung fand im März 2007 mit 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmern statt. Der Verein organisierte eine Informationsveranstaltungen zum Thema Ganztagsschule, ein Forum "Integration Behinderter", einen Hochbegabtentag, organisierte eine Studienfahrt zur didacta nach Stuttgart. Man fuhr ins westfälische Herford, um sich architektonische Anregungen für Ganztagsschulen zu holen, und besuchte in Dortmund die Grundschule Kleine Kielstraße, die als Schule des Jahres ausgezeichnet worden war. An einem Symposium Ganztagsschule, das FOrsprung zusammen mit den Universitäten Würzburg und Bamberg ausrichtete, nahmen 350 Teilnehmerinnen und Teilnehmer teil.
Inzwischen hat FOrsprung etwa 300 Mitglieder und legt einen Schwerpunkt auf die Ganztagsschulentwicklung. "Da gebundene Ganztagsschulen nicht genehmigt werden, wollen wir ein neues Konzept erarbeiten", berichtete Koller. Daneben möchte man eine schulformübergreifende Vernetzung der Ganztagsschulen erreichen. "Wir planen, alle bildungsrelevanten Behörden und Einrichtungen in einem Gebäude unterzubringen", so Koller zu den weiteren Plänen.
Koordination und Kooperation sind unerlässlich
Im hessischen Kreis Groß-Gerau mit 250.000 Einwohnern in 14 Kommunen stieg Mitte der neunziger Jahre der Leidensdruck: Die Jugendarbeitslosigkeit schnellte in die Höhe, die Jugendhilfe empfand sich nur als Reparateur - und sie und die Schulen schoben sich gegenseitig die Schuld zu, dass sich die Lage nicht besserte. Verwaltung und Politik machten sich an Konzepte: Programme für den Übergang Schule und Beruf wurden ins Leben gerufen, die Schulsozialarbeit flächendeckend an allen Sek I-Schulen und kompensatorische Hilfen im Kindergartenbereich eingeführt. "Allen Projekten ist gemeinsam, dass es keine singulären Projekte sind", erklärte Monika Käseberg von der Kreisverwaltung Jugend und Schule.
Inzwischen arbeiten Schulamt, Schul- und Jugendhilfeträger zusammen und haben in einem "zähen, mehrjährigen Prozess" das Bildungsprogramm "Chancen erhöhen - Scheitern verhindern" entwickelt. Dies stellt die Punkte Sprachförderung, gelingende Übergänge, Bildungsmonitoring und die Verantwortung der Schule für "ihre" Kinder in den Vordergrund. "Jeder ist dabei Herr seiner Mittel", erklärte Monika Käseberg die autonome Mittelverwaltung der Teams, die je nach Thema multiprofessionell besetzt sind.
"Ohne eine geregelte Koordination funktionieren die Maßnahmen nicht, das kann nicht nebenher erledigt werden", so Monika Käseberg. "Dazu ist auch die Kooperation aller Beteiligten notwendig, sonst wird alles dem Zufall überlassen. Es wird alles gemeinsam verabredet. Bei uns gibt es keine unabgesprochenen Coups." Jahresraster und Verfahrensstandards, die regelmäßig evaluiert werden, erleichtern allen Beteiligten die Planung der Aufgaben.
Wie nachhaltig sind die geschaffenen Strukturen?
In Hamburg ergab sich aus einem Stadtentwicklungsprozess für einen vernachlässigten Stadtteil - die Elbinseln - die Diskussion, welche Handlungsfelder für die Bildung angegangen werden mussten. "Von Anfang an saßen die Amtsleiter der betroffenen Behörden in der Projektgruppe zur ,Bildungsoffensive Elbinseln'", berichtete Jürgen Dege-Rüger, Leiter der Internationale Bauausstellung Hamburg GmbH, "und es gelang, Stadtteilentwicklungsplanung und Bildungsplanung gemeinsam zu denken."
Bei den Arbeitsfeldern Sprachförderung, Kulturelle Bildung, Abschlüsse, Anschlüsse und Lebenslanges Lernen gelang eine systematische Vernetzung aller am Ort vorhandenen Bildungsinstitutionen. "Die Kooperationen erfolgen nicht länger mehr nur nach Chemie und Zufall", erklärte Dege-Rüger. 19 Arbeitsgruppen bildeten sich mit etwa 120 Bildungsakteuren. Diese konzipieren unter anderem ein Medienzentrum, ein "Tor zur Welt"-Bildungszentrum mit einem spektakulären Neubau, ein Sprach- und Bewegungszentrum und ein Atelier der Stadtteilkünste.
Die Bildungsoffensive hat interdisziplinäre, behördenübergreifende Strukturen geschaffen und Konzepte entwickelt, wie Verantwortung von oben nach unten und Rückmeldungen von unten nach oben gegeben werden können - laut Dege-Rüger "ein Spannungsfeld extraordinärer Klasse". Nachhaltigkeit sei nun das Thema: "Wir hoffen, dass diese behördenübergreifende Zusammenarbeit bestehen bleibt."
"Alle Bereiche schreien nach Vernetzung"
In Jena ging die Initialzündung zum Aufbau einer lokalen Bildungslandschaft vom Dezernat für Familie und Soziales aus. "Es bestand der Wunsch nach einer ganzheitlichen Bildung" in der thüringischen Stadt mit 102.000 Einwohnern, wie sich Katja Koch vom Dezernat erinnerte. "Die Bildung sollte mit den Menschen mitwachsen - also mussten auch die Beratungs- und Fördermaßnahmen mitwachsen."
Aktuelle Projekte sind die Einrichtung eines Bildungsportals und das Aufstellen eines Sozialstadtplans. In den Stadtteilen Lobeda und Winzerla kooperieren Schule und Jugendhilfe zusammen. Die fachliche und räumliche Vernetzung wird durch die Universität Jena unterstützt. Im Norden der Stadt, in der bislang eine unzureichende Infrastruktur für Jugendliche vorhanden ist, soll ein Jugendbildungs- und Beratungszentrum entstehen. "Eine Vision, die wir haben, ist zum Beispiel, dass die Schülerinnen und Schüler eines Gymnasiums den Regelschülern vor einer Mathematikprüfung helfen", erläuterte Katja Koch.
Im schleswig-holsteinischen Lübeck mit 200.000 Einwohnern schließlich ist man sich Friedrich Thorn vom Fachbereich Schule und Sport zufolge im Klaren, dass man überwiegend gebundene Ganztagsschulen einrichten will: "Auf die Dauer halten wir die schwierige Konstruktion ,Schule am morgen, AWO am Nachmittag' nicht aus, zumal die Qualität der Anbieter am Nachmittag sehr unterschiedlich ist." Dazu sei die Einbindung der Jugendhilfe ein Muss. Um dies zu erreichen, habe man den Rat des Deutschen Jugendinstituts gesucht. Daneben hat man ein Modellprojekt "Kommunale Finanzmittel als eigenes Budget" angestoßen.
Die Schwerpunktsetzungen und Planungen der Modellregionen sind unterschiedlich, aber was Gerd Schmidt für seine Stadt Arnsberg festgestellt hat, könnte als Überschrift für alle Lokalen Bildungslandschaften gelten: "Alle Planungsbereiche schreien nach Vernetzung." Und eine Erfahrung, die Mut macht: "Es gibt noch Berührungsprobleme, aber es entwickelt sich gut."
Kategorien: Ganztag vor Ort - Bildungspolitik: Interviews
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