Was gelingt und wo es hakt : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Dem eigenen Anspruch, kein großer Kongress, dafür aber ein intensives Forum sein zu wollen, ist die Tagung "Ganztagsschule und ganztägige Bildung" in der Evangelischen Akademie Loccum gerecht geworden. Nach drei Tagen des Austausches stand für die Anwesenden fest: "Wir brauchen Visionen und Netzwerke."
Es war eine bunt gemischte Teilnehmerrunde aus Schule, Jugendhilfe, Verwaltung und Politik, die sich in dem idyllisch gelegenen Kloster eingefunden hatte, um sich darüber auszutauschen, wie weit das "Reformprojekt Ganztagsschule gediehen ist" und an welchen Stellschrauben nach Ansicht der "Insider" noch gedreht werden muss. Sie alle einte das Ziel, möglichst optimale Lern- und Lebensbedingungen für die Schülerinnen und Schüler schaffen zu wollen. Dass dies nur gelingen kann, wenn die Politik bereit ist, die Rahmenbedingungen entsprechend zu verbessern – auch darüber herrschte an den drei Tage des Forums (5. bis 7. Oktober 2012) ebenfalls Einigkeit.
Problem: Vertragsgestaltung
Als eine ganz entscheidende Rahmenbedingung bezeichneten insbesondere die Schulvertreter eine endgültige Klärung der Vertragsgestaltung mit den Honorarkräften, die als pädagogische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Nachmittagsbetreuung eingesetzt werden. Zwischen dem Land Niedersachsen und der Deutschen Rentenversicherung gibt es über die Frage einer millionenschweren Nachzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen für die Mitarbeiter durch das Land unterschiedliche Auffassungen. Landesweit geht es um rund 22.000 Verträge aus den vergangenen acht Jahren. Nicht nur Rainer Goltermann vom Ganztagsschulverband Niedersachsen wies in der intensiven Diskussion über dieses Thema auf die Verunsicherung an den Schulen, aber auch die zusätzliche Arbeit hin. Bis Ende vergangener Woche mussten alle Ganztagsschulen sämtliche Honorarverträge und den damit zusammenhängenden Schriftverkehr der vergangenen Jahre an die Landesschulbehörde schicken. Schulleiterinnen und Schulleiter stimmten Goltermann in Loccum zu. "Wir überlegen im Moment sehr genau, mit wem wir einen Vertrag abschließen und mit wem nicht. Im Zweifelsfall verzichten wir eher auf ein Engagement eines außerschulischen Partners", gestand eine Schulleiterin gegenüber www.ganztagsschulen.org.
Wie aufwändig Vertragsgestaltungen und andere Verwaltungstätigkeiten auch jenseits der strittigen Sozialversicherungsfrage für die Schulen sind, weiß man im Landkreis Emsland nur zu genau. Deshalb hat man dort reagiert und unterstützt die Schulen bei dieser Aufgabe. Gleichzeitig investiert der Landkreis in pädagogisches Personal. "Ich weiß nicht, ob das bundesweit einmalig ist, aber wir wissen uns nicht anders zu helfen, wenn die Landesgelder nicht ausreichen", berichtete die Vertreterin des Kreises Bettina Rumpke. "Aber", so fügte sie zugleich hinzu, "wir möchten schon betonen, dass die Einstellung und Bezahlung der Lehrkräfte Aufgabe des Landes ist." Nicht nur in diesem Zusammenhang hoben viele Forumsteilnehmerinnen und -teilnehmer die Bedeutung von "kreativen und flexiblen Lösungen", vor allem aber auch die Arbeit in Netzwerken hervor. "Die Schulen müssen endlich zusammenarbeiten und ihre Rolle als Einzelkämpfer aufgeben", lautete eine der Forderungen. Den Wert von Netzwerken unterstrich in der Diskussion auch die Erziehungswissenschaftlerin Dr. Ilse Kamski vom Institut für Schulentwicklungsforschung an der Technischen Universität Dortmund. Zugleich äußerte sie großes Verständnis für die Schulleiterinnen und Schulleiter. "Sie führen inzwischen im Grunde mittelgroße Unternehmen, aber sind häufig dafür nicht entsprechend ausgebildet", meinte sie.
Unterschiedliche Bedingungen für Ganztagsschule in Stadt und Land
"Dieses Forum hat für mich einen hohen Stellenwert, weil die Grundhaltung der Anwesenden zur Ganztagsschule eine positive ist, die Knackpunkte aber dennoch nicht verschwiegen werden", urteilte ein Teilnehmer am Rande der fünf von der Akademie angebotenen Workshops. Diese bildeten, wie von Studienleiterin und Moderatorin Andrea Grimm angekündigt, ein großes Spektrum des Ganztagsbetriebes ab. Die Rhythmisierung und der Umgang mit Vielfalt, die Sicherung der Qualität durch die Kooperation von Schule und Kommune, das Essen in der Ganztagsschule, aber auch die Frage, wie die Kinder erreicht werden können, die spezielle Förderung benötigen, standen zur Diskussion. Intensiv tauschte sich die Loccumer Runde über die unterschiedlichen Ausgangspositionen von Schulen im ländlichen Raum und in Städten aus. Dabei ging es auch um die Frage, welche Angebote Ganztagsschulen in kleinen Dörfern und Gemeinden auf dem Land unterbreiten können. Ein Diskussionsteilnehmer brachte es auf dabei auf den Punkt: "Wir können im Ländlichen nicht groß auswählen. Da gibt es die Freiwillige Feuerwehr, den Schützen-, den Sport- und eventuell den Musikverein. Und deren Mitglieder, die evtl. bereit sind, bei uns eine Arbeitsgemeinschaft anzubieten, kommen erst am späten Nachmittag von der eigenen Arbeit aus der Stadt zurück."
Entmutigen wolle man sich aber auch von solchen Ausgangspositionen nicht, versprachen andere Forumsteilnehmer. Sie regten etwa den Einsatz von ehrenamtlichen und möglicherweise auch pensionierten Personen an. Dabei verwies ein Gesprächspartner auf die beim Deutschen Schulpreis ausgezeichnete August-Claas-Hauptschule in Harsewinkel (Kreis Gütersloh). Dort haben sich elf Rentner zusammengeschlossen und geben jeweils donnerstags ihr Wissen in Praxis und Theorie in der schuleigenen Außenwerkstatt an die Schülerinnen und Schüler weiter. Es waren solche und ähnliche Hinweise aus gelungenen Praxisbeispielen, die dieses Forum für die Anwesenden so wertvoll machten.
Dr. Ilse Kamski unterstreicht rasante Entwicklung
Als ebenfalls äußerst wertvoll stuften diese das Impulsreferat von Dr. Ilse Kamski ein. Zwar hatte die Dortmunder Wissenschaftlerin zu Beginn ihres Vortrags darauf hingewiesen, dass sie nicht ausschließen könne, dass ihre Zuhörerinnen und Zuhörer einiges von dem, was sie vorbereitet habe, etwa aus der Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG), bereits kennen würden. Doch selbst wenn dies der Fall war, fesselte ihre Darstellung: "Das Ziel ist klar, der Weg (noch) nicht: Wo steht das Reformprojekt Ganztagsschule?" die 100 Gäste im Plenum.
Kamski unterstrich die rasante, von PISA und dem daraufhin aufgelegten vier Milliarden schweren Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" (IZBB) ausgelöste Ganztagsschulentwicklung in Deutschland. "Noch vor zehn Jahren galt Ganztag eher als Schimpfwort. Heute sind mehr als 50 Prozent der schulischen Verwaltungseinheiten im Ganztagsbetrieb." Sie nannte drei wesentliche pädagogische und bildungspolitische Begründungen für den Ganztag: Zum einen hätten sich die gesellschaftlichen Bedingungen (Erwerbstätigkeit der Erziehenden, gewandelte Familienformen) grundlegend geändert, zum anderen müssten Schulen heute gesteigerten Bildungsanforderungen (Fachwissen, Orientierungswissen, Schlüsselkompetenzen) gerecht werden und zugleich die Probleme des bisherigen Schulsystems (soziale Selektion, Diagnosefähigkeit von Lernentwicklung und -problemen) lösen. Das alles sei nur in Ganztagsschulen möglich. Kamski wörtlich: "Der PISA-Schock hat hohe Erwartungen an Schule und insbesondere Ganztagsschule geweckt." Ob die erfüllt werden, sei maßgeblich eine Frage der Qualität.
Rollen- und Bildungsverständnis klären
Die allerdings kann nach Ansicht der Wissenschaftlerin nur durch eine gelingende multiprofessionelle Kooperation gewährleistet werden. Dazu wiederum sei ein intensiver Austausch von Schule, Eltern und außerschulischen Partnern erforderlich. Mit Blick auf den Titel ihres Referats urteilte sie: "Die Intensität des Austausches ist sicher noch ein großes Feld für die weitere Entwicklung." Sie wies auf Gründe für die Anlaufschwierigkeiten im Miteinander hin. "Die dort zusammenkommenden Professionen sprechen berufsbedingt eine andere Sprache, haben unterschiedliche persönliche Ausgangspositionen. Hier die Lehrer mit sicherem guten Gehalt, dort die sich vielfach in prekären Beschäftigungsverhältnissen befindlichen Tätigen." Wichtig sei, dass Verständnis für den anderen: "Nur dann kann man zusammenwachsen." Ein geklärtes Rollen- und ein einheitliches Bildungsverständnis seien die Voraussetzung für die Entwicklung einer wirklichen Ganztagsschule. Wie die Verzahnung von Vor- und Nachmittag im Alltag und konkret gelingen kann, machte sie an einem Beispiel deutlich. Werde etwa in einer Arbeitsgemeinschaft ein Teich für den Schulhof gebaut, so könnte parallel im Unterricht das Thema Pflanzen und in der Mathestunde die Berechnung des erforderlichen Materials und der daraus resultierenden Kosten behandelt werden.
An die Adresse aller Verantwortlichen und an Schule Beteiligten appellierte sie zugleich: "Man braucht Visionen. Wenn man nicht weiß, wohin man segeln will, muss man den Hafen gar nicht verlassen." Dabei sollte sich Schule stets fragen, wer und in welcher Form jemand am Schulleben beteiligt werden solle. Das gelte auch für die Elternpartizipation. "Wünschen Sie sich Kuchen backende und Klassenzimmer streichende Mütter und Väter oder solche, die am Schulkonzept mitwirken?", fragte sie in die Runde.
"Förderzeiten sollen Hausaufgaben ablösen"
Ein Schwerpunkt ihres Beitrags und eine "Herzensangelegenheit" stellten für Dr. Ilse Kamski die Hausaufgaben dar. Das spürten die Zuhörerinnen und Zuhörer. Sie betonte, dass diese Praxis auf den Prüfstand gehöre. Hausaufgaben gehören ihrer Einschätzung nach nicht in die Familien. Auch den für die Übungen reservierten zeitlichen Raum im Ganztagsalltag hält die Wissenschaftlerin für nicht mehr als eine „Übergangslösung.“ Dauerhaft sollten Hausaufgaben ersetzt werden durch in die Unterrichtsstunden implementierte Förderzeiten. Dies sei bei einer Abkehr vom 45 Minuten- hin zum 90-minütigen Block problemlos möglich.
Kategorien: Kooperationen - Lokale Bildungslandschaften
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