Städte übernehmen Bildungsverantwortung : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf
Der Aachener Kongress "Bildung in der Stadt - Kommunale Bildungsverantwortung in Zeiten gesellschaftlichen Wandels" des Deutschen Städtetages gab darüber Aufschluss.
"Länder: Gebt uns die Möglichkeit, Bildung flexibler zu organisieren." Zum Ende des Kongresses setzte sich Wolfgang Rombey, Vorsitzender des Bildungs- und Schulausschusses des Deutschen Städtetages, für eine erweiterte Schulträgerschaft und eine aktivere Rolle der Kommunen in der Bildung ein. Die Gesellschaft könne nur über eine Stärkung der Bildung zusammengehalten werden. Das Zukunftsmodell des Deutschen Städtetages sei eine Regionale Bildungslandschaft, die die Jugendhilfe, frühkindliche Bildung, die Gestaltung des Ganztags und die Sozialraumplanung vernetze.
Mit einer bildungspolitischen Ortsbestimmung, der "Aachener Erklärung", verabschiedete der Deutsche Städtetag die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kongresses in die Praxis. Darin heißt es: "Die Städte sollten Bildung als zentrales Feld der Daseinsvorsorge noch stärker erkennen und ihre Gestaltungsmöglichkeiten nutzen. Leitbild des Engagements der Städte ist die kommunale Bildungslandschaft im Sinne eines vernetzten Systems von Erziehung, Bildung und Betreuung."
Aus Sicht der Ganztagsschulen war der Kongress "Bildung in der Stadt" bereits der zweite Höhepunkt des Jahres. Acht Wochen zuvor hatte der vierte Ganztagsschulkongress in Berlin unter dem Motto "Ganztagsschulen werden mehr - Bildung lokal verantworten" die Kommunen als Akteure in der Bildungslandschaft angesprochen.
Der Deutsche Städtetag legte in Aachen nach. Vor rund 1.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus allen Teilen der Bundesrepublik verdeutlichte Aachens Stadtdirektor Wolfgang Rombey: "Bildung gewinnt für die Städte eine immer größere Bedeutung, sie stellt immer größere Anforderungen an die Städte. Bürger und Unternehmen erwarten zu Recht eine umfängliche und qualitätsvolle Bildungsinfrastruktur."
Die Kommunen legen die Fundamente für die Bildungsbiografien
Der Kongress solle einen Beitrag zur aktuellen Diskussion um die Bildungsreform ermöglichen, so der Schuldezernent. Sein Kollege vom Deutschen Städtetag, Dr. Martin Biermann, Oberbürgermeister von Celle und stellvertretender Präsident des Deutschen Städtetages, präzisierte: "Auf der kommunalen Ebene werden die Grundlagen für berufliche Perspektiven und gesellschaftliche Teilhabe junger Menschen sowie für die Zukunftsfähigkeit der Regionen gelegt. Deshalb müssen die Länder den Kommunen mehr Gestaltungsspielraum im Bildungsbereich verschaffen."
Erfolge und Misserfolge seien auf keiner politischen Ebene so unmittelbar sichtbar wie in den Städten, stellte Biermann mit Blick auf die internationalen Vergleiche der Schulsysteme fest. Die Städte mit ihren Bildungsangeboten in den Kindertagesstätten, Volkhochschulen und Kultureinrichtungen prägten als bürgernächste Ebene die Bildungslandschaft. Sie müssten deshalb eine größere Rolle in der Bildungspolitik spielen, fügte er hinzu.
"Staatlich-kommunale Verantwortungsgemeinschaften"
Die Bedeutung der Städte lässt sich auch in Zahlen illustrieren: Insgesamt 94 Prozent der deutschen allgemein bildenden Schulen befinden sich Biermann zufolge in kommunaler Trägerschaft: "Wir brauchen daher eine zielorientierte Vernetzung der Angebote." In einer kommunalen Bildungslandschaft, die als Gesamtsystem von Bildung und Erziehung in den Städten zu verstehen sei, gebe es bessere Möglichkeiten, um auf drei wegweisenden Ebenen anzusetzen: die individuelle Förderung, die Einbeziehung der Eltern und Familien sowie für die Organisation der Übergänge nach dem Prinzip der Anschlüsse und nicht nach dem der Ausschlüsse. Biermann forderte die Länder daher zu einer "staatlich-kommunalen Verantwortungsgemeinschaft" auf: Die Städte bräuchten Kompetenzen für eine aktive Rolle in der Bildung, das gelte insbesondere für die rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen.
Nordrhein-Westfalen: "Wir sind bereit mitzuarbeiten"
Das Plädoyer des Deutschen Städtetages fiel auf fruchtbaren Boden. "Wir sind bereit mitzuarbeiten, nur über das Wie ist noch zu diskutieren", erwiderte Günter Winands, Staatssekretär im Ministerium für Schule und Weiterbildung Nordrhein-Westfalen. Es solle eine "verantwortungsvolle Steuerung vor Ort geschaffen werden". Die Dezentralisierung der Bildung habe das Land durch verschiedene Ansätze angeschoben.
Auf die Grundtendenzen der Bevölkerungsentwicklung und sozialräumliche Verteilungsmuster ging Prof. Klaus Klemm von der Universität Duisburg-Essen näher ein. "Immer weniger Erwerbstätige müssen immer mehr ältere Menschen mit finanzieren", erläuterte Klemm eine Kerndimension der demographischen Entwicklung. In den Städten komme es zu einem Auseinanderklaffen der Entwicklung, die eine sozialräumliche Segregation zur Folge habe: "Es verstärkt sich die sozialräumliche Trennung von Arm und Reich."
Ethnische, demographische und soziale Spaltung
Beispiel Essen: Im ehemals durch Kohlebergbau geprägten nördlichen Stadtteil Essens sei die Dichte an Sozialhilfeempfängern und Migranten signifikant höher als im südlichen Stadtteil, wo das Besitzbürgertum lebe. Das Bild in den Städten ähnelt sich, nimmt man andere Städte: "Wenig Kinder, viel Geld und kaum Migranten" für die besser gestellten Stadtteile. Die ethnische, demographische und soziale Segregation wirkten zusammen.
Kinder aus bildungsnahen und ökonomisch gut situierten Elternhäusern haben Klemm zufolge eine beinahe dreimal so hohe Chance, auf ein Gymnasium empfohlen zu werden als Kinder aus bildungsfernen Familien: "KESS Hamburg bestätigt die Preuß-Tabelle", meinte der Bildungsforscher - und fügte hinzu: "Ich kenne eine Grundschule im südlichen Stadtteil Essens, die 24 Grundschüler auf das Gymnasium empfohlen hat und der ,Versager' ging auf die Realschule." Ansätze dafür, diese Problematik zu lösen, sieht Klemm in der regionalen Bildungsplanung.
Regionen mit besonderem pädagogischen Förderbedarf
So habe beispielsweise Frankreich für Regionen mit besonderem pädagogischem Förderbedarf, die so genannten Zones d'éducation prioritaires (ZEP), kommunale Netzwerke wie RASED (Réseau d'Aides Spécialisées aux Elèves), in denen externe Fachkräfte mit der Schule zusammen arbeiten. Ihr Hauptaugenmerk gilt der individuellen und sozialpädagogischen Förderung der schwachen Schülerinnen und Schüler. Vergleichbare Kooperationsansätze seien in Deutschland im Zuge des Ganztagsschulausbaus möglich.
Bund und Länder in gemeinsamer Bildungsverantwortung
In der Podiumsdiskussion hob der Vizepräsident des Deutschen Städtetages, Martin Biermann hervor, dass Modellkommunen in Deutschland, bereits auf dem Weg zu mehr lokaler Verantwortung gestartet seien. Sie sollten den Kommunen bundesweit den Weg weisen, bevor er in zehn Jahren für alle Kommunen in Deutschland verbindlich werde. Auch Stiftungen könnten dabei helfen, die Bildung vor Ort zu einem kohärenten System auszubauen. In Gesprächen zwischen dem BMBF, der KMK und den Stiftungen wolle man an ausgewählten Standorten ein so genanntes Übergangsmanagement und kohärentes Bildungssystem im Rahmen öffentlich-privater Partnerschaften.
"Ohne das Investitionsprogramm ,Zukunft Bildung und Betreuung' wäre die Diskussion um den Ausbau der Ganztagsschulen noch in den Kinderschuhen", erinnerte Karl-Heinz Held, Abteilungsleiter im rheinland-pfälzischen Bildungsministerium und Vorsitzender des Schulausschusses der Kultusministerkonferenz (KMK), an die Initialzündung des Bundesprogramms. Bund und Länder stünden in gemeinsamer Bildungsverantwortung, um die Bildung in Deutschland voranzubringen.
Rheinland-Pfalz entlastet Kommunen personell
Rheinland-Pfalz habe auf das Bundesprogramm zum Ausbau der Ganztagsschulen mit vier Milliarden Euro auf vorbildliche Weise reagiert: "Wir haben die Kosten für das zusätzliche Personal nicht an die Kommunen weiter gereicht." Das Land wolle seine Verantwortung auch im vorschulischen Bereich ausbauen, denn bis zum Jahr 2010 wolle man die Kindertagesstätten für die Eltern beitragsfrei gestalten.
"Wir haben ein bisschen nach Mülheim an der Ruhr geguckt und in gemeinsamen Fachabteilungen zusammengearbeitet", erinnerte Wolfgang Romey an den Impuls, den das Modell Mülheim der Stadt Aachen gegeben habe. Warum Mülheim an der Ruhr? Dort bemüht sich eine Initiative um Oberbürgermeisterin Dagmar Mühlenfeld und die Bertelsmann-Stiftung darum, ein bundesweit einmaliges Modell einer Zukunftsschule zu installieren, "die Kindertagesstätte, Grundschule und weiterführende Schule sollen unter einem Dach vereint werden". Diese Zukunftsschule "integriert Bildung, Soziales, Kunst, Kultur und vieles mehr. So wird sie zum neuen Mittelpunkt des Wohnquartiers", erläuterte Mühlenfeld das Konzept.
In Nordrhein-Westfalen gibt es insgesamt 19 Regionen, in denen sich Verantwortungsgemeinschaften zwischen öffentlichen Institutionen und privaten Akteuren im Bereich der Bildung herausbilden: "Man kann Schulen heute nicht mehr ohne andere Institutionen denken", erläuterte Dr. Wilfried Lohre von der Bertelsmann-Stiftung.
Mehr Teilhabe statt "Warteschleifen der Armut"
Jeder 12. Schüler verlässt das deutsche Schulsystem ohne Abschluss. Ferner befinden sich rund 560.000 Schülerinnen und Schüler in Warteschleifen wie Berufskollegs oder Fördermaßnahmen der Arbeitsagenturen. Um die jungen Menschen aus diesen "Warteschleifen der Armut" herauszuholen, setzen die Kommunen auf integrierte Bildungsnetze. Prof. Thomas Olk von der Universität Halle-Wittenberg sah in der Entwicklung von Ganztagsschulen und den Kooperationen mit der Jugendhilfe eine neue Chance für die Kommunen. Sie sollten Bildung im Rahmen Regionaler Bildungslandschaften, die ein abgestimmtes Gesamtsystem zusammenwirkender Akteure darstellen, dezentral koordinieren.
Hintergrund dieses Ansatzes sei die Pluralität von Lebenslagen sowie die Globalisierung, die eine lebensweltorientierte Schulentwicklung erforderlich mache: "In der Globalisierung entstehen Spielräume für eine Reform von unten." Durch die Einbindung vieler Partner, Akteure und Netzwerke seien Schulentwicklungsprozesse zu Elementen der Stadtentwicklung geworden.
Chancen und Probleme der kulturellen Bildung
Ein zentrales Feld kommunaler Verantwortung ist die kulturelle Bildung. Prof. Max Fuchs, Präsident des Deutschen Kulturrates und Direktor der Akademie Remscheid, machte darauf aufmerksam, dass in Deutschland Bildung und Teilhabe von Kindern und Jugendlichen am Kulturleben von ihrer sozialen Herkunft abhängen: Kulturelle Bildung ist so aktuell wie seit 30 Jahren nicht mehr." Chancen böten die Ganztagsschulen und die damit verbundenen erweiterten räumlichen und zeitlichen Möglichkeiten: "Schulaufsicht und Schulverwaltung müssen erkennen, welche Chancen in der Öffnung der Schulen zur Kultur hin liegen."
Städte wie Hamburg, das eine bundesweite Modellstadt für Kulturelle Bildung geworden ist, oder München, das eine horizontale Vernetzung der Institutionen und Partner im Stadtrat beschlossen hat, haben die Chancen erkannt, die für die Stadtentwicklung mit der Kultur verbunden ist. Auch Ludwigshafen setze mit seiner aufsuchenden Kulturarbeit bundesweite Akzente in der kulturellen Bildung. Bundesweite Wettbewerbe wie "MIXED UP" und "KINDER ZUM OLYMP!" unterstützen die Verbreitung guter Beispiele.
Allerdings sieht Fuchs auch Probleme, die mit dem Phänomen "Teaching for Testing" verbunden seien. Die Konzentration auf mathematische, naturwissenschaftliche und Spach- bzw. Lesekompetenzen könnten zu einer weltweiten Hierarchisierung der Schulfächer und der Marginalisierung von "Nicht-PISA-Fächern" wie Sport, Kunst oder Musik führen. Mit der Verkürzung der Schulzeit durch die G8 Gymnasien komme eine weitere Herausforderung auf die kulturelle Bildung zu: "Zeitnot ist der Feind der Künste!" warnte Fuchs.
Der Bundeselternrat und der Kulturrat möchten vor diesem Hintergrund auch die Eltern von der Notwendigkeit der kulturellen Bildung überzeugen. "Eine sinnvolle Verknüpfung von Schule, kultureller Bildung und Jugendarbeit gelingt nicht per Gesetz, sondern nur durch konkretes Handeln vor Ort, in den Städten und Gemeinden."
Ein positives Resümee des Veranstaltung zog die Schuldezernentin der Stadt Herford, Jutta Decarli: "Der Kongress hat die Notwendigkeit einer Strukturreform belegt. Es muss aber noch Einigkeit über Ziele erreicht werden."
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