Stadt Nürnberg: Ganztag maßschneidern : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Die weiterführenden Schulen Nürnbergs erhalten vom Institut für Pädagogik und Schulpsychologie wertvolle Unterstützung auf dem Weg zum Ganztag. Die Wege, die sie gehen, sind unterschiedlich. Susanna Endler ist ihre Ansprechpartnerin.

Online-Redaktion: Das Institut für Pädagogik und Schulpsychologie der Stadt Nürnberg zählt zu den ältesten seiner Art in Deutschland. Seit wann begleiten Sie Schulen der Sekundarstufe I auf dem Weg zur Ganztagsschule?

Adam Kraft-Realschule
© Monika Gropper, Stadt Nürnberg

Susanna Endler: Wir sind tatsächlich wohl das älteste Institut dieser Art, haben gerade unser 50-jähriges Bestehen gefeiert. Die Stadt Nürnberg leistet sich den Luxus dieser kommunalen Fortbildungseinrichtung, der ich seit 20 Jahren angehöre. Wir kümmern uns um die städtischen Schulen mit insgesamt acht Realschulen und Gymnasien sowie 14 beruflichen Schulen. Neben ihnen existieren natürlich auch noch staatliche Schulen in der Stadt. Vor rund zehn Jahren begann bei uns ein Denk- und Diskussionsprozess: Kann der Ganztag helfen, Kindern an Schulen in problematischen Stadtteilen, in Brennpunkten oder mit besonders hohem Migrationshintergrund eine bessere Bildung, vor allem größere Lernerfolge zu ermöglichen?

Online-Redaktion: Die Antwort lautete offensichtlich „ja“...

Endler: Grundsätzlich geht Bayern den Weg der Ganztagsklassen. Eltern sollen die Wahlfreiheit behalten. Wir sind allerdings überzeugt, dass der Ganztag komplett gebunden und rhythmisiert die beschriebenen Ziele besonders gut zu erreichen hilft. Aber, und das ist das Schöne an unserer Stadt, wir leben eine Kultur des Ausprobierens. Und so haben sich bislang zwei städtische Schulen – die Adam-Kraft Realschule und das Sigena-Gymnasium – auf den Weg zum gebundenen Ganztag gemacht. Daneben gibt es aber auch sehr ausgetüftelte und gute offene Angebote.

Online-Redaktion: Die Wege ähneln sich?

Endler: Keineswegs. Die Adam-Kraft Realschule befindet sich seit zehn Jahren im Aufbau zum gebundenen Ganztag. Das Sigena-Gymnasium verfügt über einen gebundenen und einen offenen Ganztagszug und bietet darüber hinaus einen halbtägigen Zug an. Dieser organisatorischen Herausforderung, die den unterschiedlichen Bedürfnissen und Wünschen der Eltern Rechnung trägt, stellt sich die Schule seit nunmehr acht Jahren.

Online-Redaktion: Gehen Sie davon aus, dass sich dauerhaft alle kommunalen Schulen der Sekundarstufe I in Ganztagsschulen wandeln werden?

Endler: Das glaube ich nicht, auch wenn die Bereitschaft der Stadt groß ist, Schulen, die den Ganztag einführen möchten, zu unterstützen. Die Entscheidung wird doch sehr standortabhängig getroffen. Nicht überall ist der Ganztag von den Eltern nachgefragt. Andererseits stellen sich die Schulen immer häufiger die Frage der Notwendigkeit des Ganztags. Schließlich ermöglicht er eine bessere Förderung und Integration, bietet bei richtiger Ausgestaltung ein hohes Anregungspotenzial jenseits der verbindlichen Unterrichtsinhalte und kann in ganz besonderem Maße Schülerinnen und Schüler befähigen, soziale Kompetenzen zu entwickeln.

Online-Redaktion: Als sie vor 20 Jahren zum Institut kamen, steckte der Ganztag noch in Kinderschuhen und war gewiss kein fester Bestandteil einer Ausbildung. Welche Kompetenzen bringen Sie ein?

Susanna Endler
Susanna Endler, Institut für Pädagogik und Schulpsychologie in Nürnberg © Klaus Fuchs

Endler: Eine gute Frage. Ich bin Sozialwissenschaftlerin. Während meines Studiums habe ich mich mit zahlreichen Konzepten der Reformpädagogik beschäftigt. In ihnen stecken viele Ansätze der Ganztagsschule, seien es die Schulgemeinschaft, die Erziehung zur Selbstständigkeit, die Öffnung des Unterrichts oder auch viele demokratische Gedanken, wie Klassenrat und Partizipation der Schülerinnen und Schüler. Von diesen Ideen war ich schon immer begeistert und habe mir gewünscht, dass sich Schulen in diese Richtung ändern. Denn für vieles, was ich aufgezählt habe, gibt es in der Halbtagsschule keine oder zu wenig Zeit. Meine Tochter besuchte eine ganztägige Jenaplan-Grundschule, allerdings in privater Trägerschaft. Seitdem war ich endgültig überzeugt.

Online-Redaktion: Haben Sie auch von Erfahrungen anderer Ganztagsschulen in Deutschland profitiert?

Endler: Ich selbst habe Jenaplan-Schulen in Jena, in Holland und in Heidelberg sowie die Evangelische Schule Berlin Zentrum besucht. Die Kolleginnen und Kollegen der Adam-Kraft-Realschule profitieren von den Erfahrungen zahlreicher Schulen, darunter der Helene-Lange-Schule in Wiesbaden und der Offenen Schule Waldau in Kassel. Wir alle haben diese Hospitationen und den damit verbundenen Austausch als inspirierend und wertvoll empfunden. Ich erinnere mich gut, wie eine Kollegin nach einem solchen Besuch beinahe Tränen in den Augen hatte, als sie erlebte, was alles funktionieren kann: offene Türen, Verzicht auf den Gong, selbstständiges Arbeiten in Gruppen auf höchstem Niveau - auf dem Flur.

Ich bin überzeugt, es ist ein ganz elementarer Teil der kollegialen Schulentwicklung, wenn möglichst viele Kolleginnen und Kollegen als Team andere Schulen besuchen. Eigentlich muss man gar nichts neu erfinden, wenn man Ganztagsschule werden möchte. Es gibt genügend gute Konzepte. Aber: Die muss man sich gemeinsam anschauen und dann maßschneidern für die Bedürfnisse vor Ort.

Online-Redaktion: Wo lag in den Startphasen der größte Beratungs- und Begleitungsbedarf der Schulen?

Endler: Das war sehr unterschiedlich. Zu Beginn sollten immer drei Aspekte im Vordergrund stehen: Selbstklärung, Standortanalyse und Zielperspektive. Wenn klar ist, dass es Richtung Ganztag geht, muss die Schule die Fragen beantworten: Was erhoffen wir uns? Was wollen wir für die Schülerinnen und Schüler gewinnen? Was können wir anders, besser machen? Meines Erachtens ist es wichtig, nicht alles Bisherige über Bord zu werfen, sondern zu ergänzen. Etwa, um eine sinnvolle Rhythmisierung, eine gute Freizeitgestaltung, eine bewusste Gestaltung der Mittagspause.

Und ganz bedeutsam ist der Ausbau der Schülerpartizipation. Der Ganztag ermöglicht all diese Punkte, wobei ich die Chance, ein Demokratieverständnis durch Beteiligung der Schülerinnen und Schüler an der Gestaltung des Schulalltags auszuprägen, besonders wichtig finde – gerade auch angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen.

Online-Redaktion: Und die Unterrichtsentwicklung?

Endler: Wenn die Grundsatzfragen geklärt sind, sollte das Kollegium sie möglichst schnell ins Auge fassen. Die Abkehr von den 45-Minuten Unterrichtsstunden beispielsweise erfordert einen anderen Unterrichtsstil. Zunächst eröffnet sie die Möglichkeit, den bisherigen Häppchen-Unterricht durch größere Lerneinheiten zu ersetzen. Diese aber erfordern eine gute Rhythmisierung und mehr Binnendifferenzierung. Ein rein fragenentwickelnder Unterricht wird sicher nicht durchzuhalten sein. Wir empfehlen den Lehrerinnen und Lehrern zum Beispiel eine Drittelung von Frontalunterricht, kooperativem Lernen und individuellen Lernzeiten, sei es in Lernbüros, in einer Studierzeit oder offenen Lernlandschaften.

Online-Redaktion: Was geschieht mit den Hausaufgaben?

Orchester an der Adam-Kraft-Realschule
Orchester an der Adam-Kraft-Realschule © Thomas Engelhardt

Endler: Meines Erachtens sollten Hausaufgaben in der Ganztagsschule weitgehend wegfallen, sieht man einmal vom Wiederholen der Vokabeln oder der Vorbereitung auf eine Arbeit ab. Hausaufgaben sollten Übungen sein, die in den Unterricht integriert sind. Schülerinnen und Schüler sollten, wenn sie um 16 Uhr nach Hause gehen, Feierabend haben. Wir kennen Schulen, die sich auch dazu gezielt ein Feedback einholen. Sie fragen danach, wie viel die Schülerinnen und Schüler tatsächlich noch zu Hause arbeiten müssen und wie zum Beispiel die Studierzeit gestaltet werden müsse, damit die Übungen in der Schule erfüllt werden können.

Online-Redaktion: Sie haben erste Schritte benannt, die Schulen auf dem Weg zum Ganztag gehen. Vor welchen Herausforderungen stehen die von Ihnen begleiteten Schulen nach nunmehr einigen Jahren des Wandels?

Endler: Da geht es inzwischen noch tiefer herein in Fragen der Unterrichtsgestaltung. Beispielsweise um die Etablierung von Portfolioarbeit oder um neue Formen der Leistungserhebung und Leistungsrückmeldung im Rahmen der formalen Vorgaben. An dieser Stelle möchte ich Schulleitungen auch ermuntern, ihre Kollegien nicht zu überfordern. Es muss auch Zeiten der Konsolidierung geben, in denen der Bestand gesichert wird, bevor Anlauf für den nächsten Schritt genommen wird.

Kategorien: Service - Kurzmeldungen

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