Stadt Jena: „Ein Ganztagsangebot, das Eltern innere Ruhe gibt“ : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Kommunen sind Impulsgeber beim Ausbau von Ganztagsangeboten. Frank Schenker trat 1989 im bürgerbewegten Jena für die „Demokratisierung der Schule“ ein und ist seit 1990 Bürgermeister für Bildung. Nun tritt er in den Ruhestand.
Online-Redaktion: Herr Bürgermeister, wenn Sie auf drei Jahrzehnte Bildungsgeschichte in Jena zurückblicken – was ist für Sie die entscheidende Konstante?
Frank Schenker: Das dialogische Grundprinzip. Alle Prozesse, die in unserer Stadt abliefen, sind gemeinsam mit Eltern, Lehrerinnen und Lehrern, Verwaltung und von Anfang an auch stark mit der Wissenschaft gestaltet worden. Und nicht zu vergessen: Alle bildungspolitischen Beschlüsse sind im Rat einstimmig gefasst worden.
Daraus ergaben sich Meilensteine, wie 1991 die Eröffnung der ersten reformpädagogischen Schule, der Jenaplanschule, die jahrgangsübergreifend arbeitete und erstmals auch Kinder mit Behinderungen aufnahm. Sie wurde gewissermaßen zur Schaufensterschule für die weiteren Schulentwicklungsprozesse in Jena. Dann kamen die Gründungen von Freien Schulen wie der Waldorfschule, des Christlichen Gymnasiums und einer Integrativen Freien Grundschule. Für alle Schulen haben wir Schulsozialarbeiter eingesetzt.
Ein wichtiger weiterer Meilenstein war die Aufnahme von Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen in die Wohngebietsgrundschulen. Und das geschah immer auf Drängen der Eltern, war nie eine Gesetzesinitiative von oben. Wir haben dann versucht, die entsprechenden räumlichen und sachlichen Bedingungen dafür zu schaffen. So wurde schon 1991 an einer Montessori-Schule ein Fahrstuhl eingebaut, weil Eltern gefordert hatten, dass auch Schülerinnen und Schüler im Rollstuhl dort lernen können.
Online-Redaktion: Wie sehen Sie Jena aktuell aufgestellt?
Schenker: Am Ende dieser Schulentwicklung steht eine hohe Elternzufriedenheit, die wir auch gemessen haben. Es gibt außerordentlich viele Gastschulanträge aus dem Umfeld. Wir haben eine sehr hohe Inklusionsquote. Zwischen 1992 und 2015 hat sich in Jena die Abiturientenquote um 20 Prozent erhöht. Die Abiturnoten sind dabei im Laufe der Jahre besser geworden und liegen über dem Thüringer Durchschnitt. Die Schulabbrecherquote konnte um 5 Prozent gesenkt werden. Da sind wir stolz drauf.
Und kritische Positionen zu reformpädagogischen Ansätzen wie „In der Waldorfschule lernen die Kinder ihren Namen tanzen“ können wir widerlegen. Wir haben vor einem Monat den ersten kommunalen Bildungsbericht herausgegeben, mit datenbasierten Aussagen zur Schulentwicklung. Zusammenfassend lässt sich sagen: Heterogenität und Inklusion sind nicht leistungsmindernd. Es gibt keinen Widerspruch, zwischen der Maßgabe, Schule vom einzelnen Kind aus zu denken, und den Leistungsergebnissen. Auffallend ist auch, dass es bei uns keine „Restschulen“ gibt. Mit der konsequenten Umwandlung von Regel- zu Gemeinschaftsschulen ist es uns gelungen, die Schulentwicklung an jedem Standort so spannend zu gestalten, dass keine einzige Schule zurückgefallen ist.
Online-Redaktion: Die Stadt Jena ist Träger zweier kommunaler Schulen. Wie ist es dazu gekommen?
Schenker: Wir haben sehr schnell erkannt, dass die Trennung in eine innere und eine äußere Schulträgerschaft die Prozessgestaltung sehr stark einschränkt. Es gab eine Schule, von der Handwerksmeister sagten, wer von da komme, müsse sich bei ihnen gar nicht erst bewerben. Zur Gründung der neuen kommunalen Schule an diesem Standort haben wir mit dem Freistaat Thüringen vereinbart, das wir als Kommune das Lehrpersonal beschäftigen, so wie es beispielsweise in Bayern oder in Bremerhaven bereits möglich war. Mit dem Unterschied, dass wir eine 100-prozentige Finanzierung des Lehrpersonals erhalten. Wir besitzen also die gleichen Möglichkeiten wie freie Träger.
Das hat sich zu einem Erfolgsmodell entwickelt. Es ist uns gelungen, diese beiden Schulen so attraktiv zu gestalten, dass 50 Prozent der Eltern aus der Innenstadt, also aus den sogenannten bürgerlichen Vierteln ihre Kinder zu diesen Neubauschulen fahren. Das ist ein großartiger Erfolg. Mit Kultusminister Helmut Holter konnte ich eine Vereinbarung erzielen, dass diese Schulen in kommunaler Trägerschaft erhalten bleiben.
Online-Redaktion: Sie haben in einem Interview mit Blick auf Jenas Familienpolitik von einem „hohen Grundwasserspiegel“ gesprochen: „Der Druck kommt von unten, die Stadt reagiert.“ Wie erfassen Sie denn den Bedarf „von unten“?
Schenker: In meiner Zeit als Schulamtsleiter standen fast jede Woche Eltern auf der Matte und formulierten ihre Forderungen. Und noch heute orientieren wir uns an den Wünschen, die von den Eltern und aus den Schulen an uns herangetragen werden. Wenn wir Tendenzen erkennen, fördern wir entsprechend. Die Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Thüringen war damals übrigens direkt bei mir am Schulamt angegliedert, was auch eine direkte Kommunikation ermöglichte. Wir reden eh viel miteinander. Jena ist (mit rund 110.000 Einwohnern; die Red.) eine kleine Großstadt. Alles geht durch den Talkessel, man begegnet sich ständig.
Online-Redaktion: Zum Bedarf gehören auch Ganztagsschulen?
Schenker: Ja, es gibt in Jena acht Ganztagsgrundschulen, klassisch mit Hortbetreuung, und acht gebundene Ganztagsschulen bei den weiterführenden Schulen. 97 Prozent der Kinder nutzen den Hort – das sind übrigens mehr als zu DDR-Zeiten, als es 81 Prozent waren. Das hängt auch mit der spezifischen Situation in Jena zusammen: Mehr als 30 Prozent unserer Berufstätigen haben einen Hochschulabschluss. Wir sind eine Wissenschaftsstadt mit zwölf außeruniversitären Instituten, zwei Max-Planck-Instituten, einer Universität und einer Fachhochschule. Besonders die Frauen können oft gar nicht länger als ein Jahr zu Hause bleiben. Die Stadt muss ein Angebot in der Kita und in der Schule vorhalten, das den Eltern die innere Ruhe gibt, dass ihre Kinder dort gut aufgehoben sind.
Online-Redaktion: Was schätzen Sie an den Ganztagsschulen?
Schenker: Es gibt dort bessere Möglichkeiten der individuellen Förderung. Die Ganztagsschule erleichtert so die Förderung leistungsschwächerer Schülerinnen und Schüler – was auch eine soziale Frage ist. Die zusätzliche Zeit erleichtert ebenso die Integration von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund und die Inklusion. Ich behaupte, dass das Thema Inklusion ohne Ganztag gar nicht beherrschbar wäre.
Zweitens ist die Nutzung außerschulischer Lernorte deutlich höher. So haben wir hier die sogenannten witelo, die wissenschaftlich-technischen Lernorte. Diese Initiative ist aus der Erkenntnis entstanden, dass überall der mathematisch-naturwissenschaftliche Nachwuchs fehlt. Die Zahl der Studienanfänger hält sich stark in Grenzen – und Jena lebt ja besonders von den Naturwissenschaften. Die wissenschaftlich-technischen Lernorte können aber nur voll genutzt werden, wenn wie in den gebundenen Ganztagsschulen der Unterricht rhythmisiert ist und auch die Zeit für alle Schülerinnen und Schüler vorhanden ist, diese Lernorte aufzusuchen.
Online-Redaktion: Ganztagsschulen erfordern entsprechende Räumlichkeiten. Investiert Jena auch in Schulbauten?
Schenker: Das ist ein schwieriger Punkt. Wir haben im Laufe der Jahre alle Schulen saniert und einige Schulen barrierefrei gestaltet. Was die räumliche Ausstattung der Ganztagsschulen betrifft, denke ich, dass es fifty-fifty steht. Die eine Hälfte hat genügend Platz, bei den anderen dürfte es durchaus mehr sein. Seit einigen Jahren sind wir wirtschaftlich etwas besser gestellt. Da wir aber eine wachsende Stadt sind, brauchen wir zusätzliche Schulen. Nächstes Jahr werden wir eine dritte kommunale Schule neu gründen, und eine Schule für 1.000 Schülerinnen und Schüler wird neu gebaut werden, was 27 Millionen Euro kostet. Bundesmittel sind willkommen, denn die Landesförderung ist nicht ausreichend.
Online-Redaktion: Sie gehen in wenigen Tagen in den wohlverdienten Ruhestand. Was sehen Sie als größte Herausforderungen des Bildungssystems in der Zukunft?
Schenker: So richtig viel Gutes lasse ich ja an der DDR nicht übrig, aber als ich 1990 als Schulrat hier in der Stadt aufgetaucht bin, da saßen in der unteren Etage des Schulamtes, Abteilung Volksbildung hieß das damals, die für die Gebäude Verantwortlichen, heute würde man von der klassischen Schulverwaltung sprechen. Ein Stockwerk drüber saß die Personalverwaltung, und ganz oben saßen die sogenannten Inspektoren, das waren in der DDR die Kontrolleure und später die Schulaufsichtsbeamten. Damit will ich sagen: Die künstliche Trennung zwischen innerer und äußerer Schulträgerschaft, die wir in Deutschland aus dem Kaiserreich haben, gab es nicht.
Und diese Trennung, die ich unsinnig finde, wird in der Zukunft auch keinen Bestand haben. Die Regionalisierung von Schulentwicklungsprozessen ist die Antwort auf die komplexen Aufgaben in einer ausdifferenzierten und globalisierten Gesellschaft. Die sogenannte Erweiterte Schulträgerschaft ist eine Forderung des Städtetags, in dessen Schulausschuss ich Mitglied bin. Ich gehe noch weiter und sage, dass man innere und äußere Schulträgerschaft zusammenführen muss.
Eine zweite Möglichkeit, diese Spannung aufzulösen, wäre, wie es in manchen Bundesländern schon der Fall ist, die Schulaufsicht sehr nahe an die Stadtverwaltung heranzurücken. Meine Kollegen und ich sind neulich nach Finnland gereist. Ich wollte mal wissen, ob das hochgelobte Schulsystem dort Legende oder Wirklichkeit ist. Die kennen diese Trennung ja gar nicht. Dort sind die Gestaltungsprozesse kommunal verantwortet und nicht zentralistisch. In Jena sind die Bedingungen doch ganz andere als beispielsweise in Suhl, und dem müsste man auch strukturell Rechnung tragen.
Ein weiterer Punkt ist die Lehrerausbildung. Der Umgang mit Heterogenität wird viel zu wenig thematisiert. In Jena gibt es schon ein Praxissemester, aber das ist noch zu wenig. Am Ende aber, das sage ich als Vater von fünf Töchtern mit acht Enkelkindern, der die Mühen der Ebene selbst miterlebt hat, sind es nicht alleine Strukturfragen, die über gelingende Bildung entscheiden, sondern vor allem die Lehrer-Schüler-Beziehungen.
Online-Redaktion: Werden Sie im Unruhestand der Bildung erhalten bleiben?
Schenker: Ich bin von der Deutschen UNESCO-Kommission eingeladen, an Expertenworkshops zur Inklusion teilzunehmen. Dann bin ich Mitglied in diversen Beiräten, zum Beispiel hier in Jena der Initiative „Kindersprachbrücke“, die sich um die Integration von Flüchtlingskindern kümmert. Und mal sehen, was noch so kommt.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Kategorien: Forschung - Internationale Entwicklungen
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