Stadt Dormagen: Familienfreundlich, inklusiv, ganztägig : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Kommunen sind Impulsgeber beim Ausbau von Ganztagsangeboten. Die Stadt Dormagen hat bereits alle städtischen Schulen zu Offenen Ganztagsschulen ausgebaut. Bürgermeister Erik Lierenfeld im Interview über den „Dormagener Weg“.
Online-Redaktion: Herr Bürgermeister, wie sieht die Schullandschaft in Dormagen aus?
Erik Lierenfeld: Vielfältig und inklusiv. In Dormagen gibt es elf städtische Grundschulen an insgesamt 13 Standorten mit zwei Verbundschulen, fünf weiterführende städtische Schulen, außerdem zwei Förderschulen – davon eine private –, ein privates Gymnasium und schließlich das Berufsbildungszentrum in Trägerschaft des Rhein-Kreises Neuss. Die Schülerzahlen steigen stetig an. Das hat sicher auch damit zu tun, dass Dormagen mit seiner Lage zwischen den Metropolen Köln und Düsseldorf als Wohnort für Familien immer beliebter wird.
Online-Redaktion: Heißt das auch Ganztagsschulen?
Erik Lierenfeld: Alle unsere städtischen Grundschulen sind OGS, also Offene Ganztagsschulen, bei denen verschiedene Träger involviert sind. Finanziert werden sie aus Elternbeiträgen, teilweise aus Eigenmitteln der Träger sowie durch regelmäßige Zuwendungen des Landes für die Durchführung außerunterrichtlicher Angebote und freiwillige Leistungen aus kommunalen Mitteln.
Online-Redaktion: Worin sehen Sie die Stärken der OGS?
Lierenfeld: Einen Vorteil der Offenen Ganztagsschule sehe ich in der Vielfalt der Lernformen, aber auch in der Pluralität der Träger. Die OGS ermöglicht Schülerinnen und Schülern, Lehrkräften und pädagogischem Fachpersonal eine intensivere, zugleich aber lockere, da außerhalb des „normalen“ Unterrichts stattfindende Form der Zusammenarbeit. Ein positiver Nebeneffekt ist dabei sicher auch der stärkere Zusammenhalt der Schülerinnen und Schüler untereinander. Die Klassengemeinschaften oder zumindest große Teile davon verbringen schlichtweg mehr Zeit gemeinsam in der Einrichtung.
Und das ist bei weitem nicht nur Unterrichtszeit. Sondern die Offene Ganztagsschule dient zum Beispiel zur Nachmittagszeit auch als Veranstaltungsort für sportliche oder kreative Aktivitäten. Gerade diese außerunterrichtlichen Aktivitäten fördern die Talente und Neigungen der Kinder besonders. Auch für fächerübergreifende Projekte bietet die OGS den richtigen Rahmen. Der wichtigste Pluspunkt besteht also darin, dass der Nachmittag für ein lockeres Zusammensein und nicht für „strenge“ erzieherische Betreuung genutzt wird. Gerade diese Atmosphäre ist der Entwicklung der Schülerinnen und Schüler dienlich.
Online-Redaktion: Wie hat sich die Nachfrage der Eltern nach Ganztagsplätzen entwickelt?
Lierenfeld: Die Elternnachfrage nach Ganztagsplätzen steigt insgesamt und stadtteilübergreifend. Während es 2014 noch 1.302 Plätze waren, wurden 2019 bereits 1.499 vergeben. Auf der anderen Seite wächst der Ausbau der Schulen noch nicht im selben Tempo mit. Das ist ein Thema, das wir mit unserem „Zukunftsplan Schulen“ und verschiedenen Bau- und Modernisierungsprojekten aktuell angehen.
Online-Redaktion: Die Stadt hat das „Dormagener Modell“ entwickelt. Welche Bedeutung hat es für die Familien?
Lierenfeld: Das „Dormagener Modell“ der frühen Hilfen ist als Projekt zur Prävention von Gewalt in der Familie sowie zur Unterstützung von Kindern 2006 initiiert worden. Kinderarmut führt häufig zu Auffälligkeiten bei der Sprachentwicklung, in der motorischen Entwicklung und der seelischen Gesundheit. Genau da setzen wir mit dem „Dormagener Modell“ an. Trotzdem steigt die Zahl der Kinder in Dormagen, die an der Armutsgrenze leben. Das ist eine besorgniserregende Entwicklung. Sie zeigt uns, dass wir unsere Aktivitäten noch mehr verstärken müssen.
Der Ausgangsgedanke zum „Dormagener Modell“ der frühen Hilfen war übrigens, dass der fehlende Kontakt und der fehlende Zugang zu den Familien dazu führen, dass Hilfen zu spät kommen. Deshalb wollten wir niedrigschwellige Zugänge zu den Familien finden, um eine möglichst frühe Unterstützung und Hilfe anzubieten. Deshalb bieten wir nun seit mehr als 14 Jahren das „Babybegrüßungspaket“ an. Wenige Wochen nach der Geburt besucht eine Sozialarbeiterin oder ein Sozialarbeiter die Familie und überreicht den neuen Eltern zahlreiche wichtige Informationen sowie Adressen, an die sie sich mit Fragen und bei Problemen wenden können. Dies ist nur ein Baustein in der erfolgreichen Präventionskette des „Dormagener Modells“, mit der die Familien von der Geburt des Kindes über die Kindertagesbetreuung, die Schule bis zum Start des Berufslebens begleitet werden.
Auch ist das „Netzwerk Frühe Förderung“ (NeFF), das mit Unterstützung des Landschaftsverbandes Rheinland von 2006 bis 2009 in sechs Kommunen entwickelt wurde, ein wichtiger Bestandteil. Das multiprofessionelle Netzwerk besteht jeweils aus verschiedenen Anbietern und Diensten aus dem Bereich von Kindertagesstätten, des Allgemeinen Sozialen Dienstes, der Familienberatung, der Familienbildung, des Gesundheitswesens und anderen Einrichtungen in den beteiligten Kommunen.
Ziel der Netzwerkarbeit ist es, ein gesundes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen zu ermöglichen, den Folgen von Kinderarmut entgegenzuwirken, für Chancengleichheit zu sorgen und wirksame Präventionsarbeit zu leisten. Dazu wird regelmäßig der Bedarf ermittelt und Angebote entwickelt. Zudem liegen Analysen der kinder- und jugendärztlichen Dienste sowie die detaillierte Auswertung der gewährten Erziehungshilfen vor. Und natürlich ist auch der Offene Ganztag ein wichtiges Instrument, um Kinder nicht nur zu betreuen, sondern ihre Entwicklung im Blick zu behalten und sie gezielt zu fördern und zu fordern.
Online-Redaktion: Die Stadt versteht Familienförderung demnach sehr umfassend?
Lierenfeld: Familienförderung in Dormagen bedeutet vor allem, Lebensbedingungen dadurch zu verändern, dass die Eigenkräfte der Familien gestärkt, soziale Konflikte und Notlagen erkannt und konkret Hilfe geleistet wird. So versteht sich das Präventionsnetzwerk auch als kommunales Bildungsnetzwerk. Das bedeutet konkret, dass wir vor allem eine Chancengleichheit in der Bildung und Ausbildung erreichen wollen. Der Übergang zwischen den Einrichtungen soll verbessert werden.
Und wir möchten soziale Netze für die Familien in deren Lebensumwelt knüpfen, und dabei berücksichtigen wir besonders auch die Lebenswelt der Kinder. Unsere Präventionsangebote für Kinder, Familien und Fachkräfte sollen zum jeweils frühestmöglichen Zeitpunkt einsetzen. Die Stadt will die existenziellen Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder sicherstellen. Das erreichen wir unter anderem durch die Lernmittelfreiheit für Familien mit Unterstützungsbedarf oder die Betreuungsplätze im offenen Ganztag, aber auch durch Eltern- und Familienbildung oder den Familienpass. Der Familienpass sorgt für vergünstigte beziehungsweise kostenlose Teilnahme an kulturellen und sportlichen Angeboten für Familien mit geringem Einkommen, Alleinerziehenden und Empfängern sozialer Leistungen.
Online-Redaktion: Was ist bei so einem Prozess wichtig?
Lierenfeld: Der Dialog über möglichst viele Ebenen ist entscheidend für den Erfolg unseres Netzwerks in Dormagen. Er ist bestimmt durch gegenseitige Wertschätzung und den Willen, sich gemeinsam weiter zu entwickeln. Gleichermaßen wird der Dialog mit den Eltern und Kindern, mit Fachkräften, in der Politik, der Verwaltung und mit den freien Trägern gesucht. Um eine gute Kooperation zu erreichen, treffen sich die Teilnehmer des Netzwerkes regelmäßig. Dabei wird darauf geachtet, dass der jeweilige Inhalt in einem überschaubaren Rahmen bleibt, damit es nicht zur Überforderung der beteiligten Fachkräfte kommt.
Wir verstehen Familienförderung als eine partnerschaftlich-demokratische Aktivität, um eine familien- und kinderfreundliche Kultur des Aufwachsens zu ermöglichen. Nur wenn Kinder und Eltern Teil dieses Netzwerks sind, kann die Arbeit der Kommune erfolgreich sein. Um das zu erreichen, nehmen Eltern zum Beispiel an unseren kommunalen Qualitätsentwicklungswerkstätten teil. Und seit nunmehr fast 30 Jahren findet zweimal jährlich das Dormagener Kinderparlament statt.
Online-Redaktion: Welche Rolle spielt die Kommunalpolitik?
Lierenfeld: Das Dormagener „Netzwerk für Familien“ ist in der kommunalen Politik zum einen durch meine aktive Beteiligung als Bürgermeister und zum anderen über den Jugendhilfe- und den Schulausschuss fest verankert. Mindestens einmal jährlich wird in den Ausschüssen über die Arbeitsfortschritte berichtet. Zudem beteiligen sich Mitglieder der Ausschüsse an verschiedenen Workshops des Netzwerkes. Entscheidungen trifft der Jugendhilfeausschuss vor allem, wenn die Ressourcen nicht ausreichen. Als Stadt sichern wir das Netzwerk durch eine Vollzeitstelle für die Netzwerkkoordination, durch Fördermittel für Aktivitäten und bedarfsgerechte Ressourcen für alle Beteiligten, durch regelmäßige Weiterbildungsangebote für Familien und Fachkräfte und mit Ressourcen für die Teilhabe am Kultur-, Freizeit-, Sport- und Bildungsangeboten ab.
Online-Redaktion: Jetzt ist Dormagen auch als „Kinderfreundliche Kommune“ quasi zertifiziert. Eine Auszeichnung für die Stadt?
Lierenfeld: Dormagen wird am 26. August 2020 offiziell das Siegel „Kinderfreundliche Kommune“ übertragen. Für uns war es naheliegend, uns an diesem Vorhaben zu beteiligen, das darauf abzielt, die Kinderrechte zu stärken und bekannt zu machen. Dafür sind wir dem Verein Kinderfreundliche Kommunen des Deutschen UNICEF-Komitees und des Deutschen Kinderhilfswerk e.V. beigetreten, was auch mit einem jährlichen Mitgliedsbeitrag verbunden ist. Wir haben einen Aktionsplan zur Verstetigung der Kinderrechte im Verwaltungshandeln und im Stadtgebiet aufgestellt und die Partizipationsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche weiterentwickelt. Mit unserem Kinderparlament und dem Netzwerk waren wir da ja seit langem auf einem guten Weg, und das bestätigt sich jetzt.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Kategorien: Forschung - Internationale Entwicklungen
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