Mönchengladbach: Spiegelbild des Ganztag-Alltags : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Seit zehn Jahren unterstützt das Bildungsnetzwerk Mönchengladbach um Ursula Müller-Brackmann die Teams in Offenen Ganztagsgrundschulen. Das Motto: „Da sein, wenn wir benötigt werden.“
Online-Redaktion: Welche Ziele verfolgt das Bildungsnetzwerk Mönchengladbach?
Ursula Müller-Brackmann: Das Regionale Bildungsnetzwerk hat vor rund zehn Jahren unser Schul- und Bildungsdezernent Dr. Gert Fischer federführend auf den Weg gebracht. Wir sind ein Ort für Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer sowie Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter. Wir bilden diese multiprofessionell fort, setzen aber auch eigene Impulse. Einer ist aktuell die Inklusion, die alle pädagogischen Einrichtungen stark beschäftigt. Wir wollen das Know-how, das wir haben, anderen zur Verfügung zu stellen. Wir arbeiten schulartübergreifend und stellen auch so etwas wie ein Bindeglied zwischen den Institutionen dar, wie beispielsweise zwischen Jugendamt und Schulamt.
Online-Redaktion: Wie würden Sie die Philosophie Ihrer Arbeit umschreiben?
Müller-Brackmann: In manchen Städten sind die sogenannten Bildungsbüros mit einer vom Unterricht freigestellten Lehrkraft besetzt. Sie können nach einem Jahr gehen oder „gegangen werden“, ohne wirklich nach ihrer Bilanz gefragt zu werden. Bei uns funktioniert die Bildungsarbeit anders, denn die Stadt Mönchengladbach hat mit Beginn dieser Arbeit auch kommunale Stellen für das Bildungsnetzwerk zur Verfügung gestellt. Wir haben das Bildungsnetzwerk mit den Berufsprofessionen besetzt, die beispielsweise auch im Offenen Ganztag aufeinandertreffen – also Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher sowie Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter.
Wir sind ein multiprofessionelles Team. Wir führen bei unseren Überlegungen die Diskussionen, die auch in den Offenen Ganztagsschulen geführt werden. Wir gehen also von vorneherein den Weg, unterschiedliche Sichtweisen und Professionen zu fragen. Man könnte sagen, wir sind ein Spiegelbild der Realität im Schulalltag – vorausgesetzt, da wird auch miteinander gesprochen und gerungen.
Online-Redaktion: Eine Haltung, die nicht jede Verwaltung kennzeichnet…
Müller-Brackmann: Ja, ja, dessen sind wir uns bewusst. Aber wir wollten auch auf unserer Ebene nicht nur Kontinuität, sondern eben Vernetzung bieten und leben.
Online-Redaktion: Zu welchen Erkenntnissen führt der Blick aufs Kind aus unterschiedlichen Blickwinkeln?
Müller-Brackmann: Die Antwort gebe ich aus meiner ganz persönlichen Perspektive. Ich bin ein Zechenkind. Meine Eltern konnten mich nicht wirklich schulisch fördern – so wie es manche andere Eltern auch nicht schaffen. Das ist aber nur dann schlimm, wenn es keine Institutionen und Menschen gibt, die zum richtigen Zeitpunkt und mit dem richtigen Blick auf das einzelne Kind da sind. Ich hatte das Glück, dass immer rechtzeitig jemand da war und meine Eltern bereit waren, Vorschläge und Hilfen Dritter zu überdenken und auch anzunehmen, um die beste Entscheidung für meinen Bildungsweg zu treffen. Und genau das möchten wir bei unserer Arbeit im Regionalen Netzwerk auch leisten – da sein, wenn man uns benötigt.
Online-Redaktion: Diese Überzeugung möchten Sie auch in Ihren Fortbildungsangeboten und Zertifikatskursen transportieren?
Müller-Brackmann: Natürlich geht es in den Kursen vor allem um Wissen, um Selbstreflexion und den Gedankenaustausch mit den anderen. Aber es geht eben auch darum, denjenigen, die sich für unsere Kinder einsetzen, sei es in der Kita oder in der Offenen Ganztagsschule, diese Denkweise zu vermitteln. Wir möchten, dass sie bei uns die Erfahrung mitnehmen, dass Einheitsbrei nie gut schmeckt.
Will heißen, jede Einrichtung ist anders, jeder dort Tätige unterscheidet sich vom anderen, und kein Kind ist wie ein anderes. Und jeder lebt noch mit eigenen Anforderungen. Ich denke da beispielsweise nur an die Sprache. Kinder müssen sich in der Schule einer bestimmten Sprache bedienen. Wenn sie so aber zu Hause sprechen, werden sie möglicherweise mit großen Augen und Unverständnis angeschaut. Sie leben praktisch in zwei Welten – das fordert von den Kindern eine kontinuierliche Anpassungsleistung, die kaum wahrgenommen wird.
Online-Redaktion: Sie möchten da sein, wo Sie benötigt werden. Wofür benötigen die 28 Offenen Ganztagsgrundschulen mit ihren sieben Trägern Sie und Ihr Team?
Müller-Brackmann: Auch das ist höchst unterschiedlich. Wir nehmen fortlaufend einen hohen Qualifizierungsbedarf wahr. Es geht um konkrete pädagogische Aufgaben wie Inklusion oder Sprachbildung. Es dreht sich aber auch um persönliche Fragen, Burnout und Mobbing sind Themen. Teambildung oder bestimmte Arbeitsprozesse sind oft Schwerpunkte.
Online-Redaktion: Finden die OGS-Teams ausreichend Zeit, sich derlei Fragen zu stellen?
Müller-Brackmann: Ich würde sagen, die meisten sind sich dieser Fragen bewusst. Oft aber fehlt ihnen der zeitliche Puffer, um sich ihnen vertieft zu nähern. Die Schülerinnen und Schüler kommen aus dem Unterricht, dann gibt es Mittagessen, anschließend stehen Hausaufgabenbetreuung und Arbeitsgemeinschaften, Gespräche mit Eltern etc. an. Der Zeitdruck für die Kolleginnen und Kollegen ist mitunter enorm.
Online-Redaktion: Dennoch nutzen die Offenen Ganztagsschulen Ihre Angebote intensiv…
Müller-Brackmann: Ich glaube, die meisten erleben und wissen, dass wir sie als Kolleginnen und Kollegen und nicht von oben herab betrachten. Sie haben erfahren, dass wir ihnen den Alltag leichter machen möchten. Und darum betrachten sie die Zeit, die sie für die multiprofessionellen Fortbildungen nutzen, unterm Strich nicht als Mehrbelastung, sondern dauerhaft als Entlastung.
Online-Redaktion: Wie berücksichtigen Sie bei Ihren Planungen den beschriebenen Zeitdruck?
Müller-Brackmann: Wir bieten grundsätzlich kurze Einheiten von zwei bis zweieinhalb Stunden an. Die legen wir zumeist in den Vormittag, vor die Arbeit im Ganztag. Unsere Zertifikatskurse, die Themen wie Netzwerk- und Elternarbeit, Inklusion, interreligiöse Sensibilisierung, Rollenfindung, aber auch ein Coaching beinhalten, finden ebenfalls vormittags in sieben bis neun über ein Halbjahr verteilten Modulen statt.
Online-Redaktion: Bedeutet das, dass überwiegend im Vormittagsbereich der OGS Tätige Ihre Unterstützung suchen und weniger die Lehrkräfte?
Müller-Brackmann: Richtig. Die Gestaltung des Offenen Ganztags erfordert nachmittags starke Kräfte vor Ort. Kräfte, die davon überzeugt sind, dass beide Seiten, besonders aber die Kinder, etwas davon haben, wenn sie stark miteinander kooperieren. Ich bin überzeugt, dass die unterschiedlichen Systeme, die im Ganztag aufeinandertreffen, sich noch stärker umstellen können, um optimal für ihre „Kundschaft“ da zu sein.
Als Beispiel nenne ich die Kooperation mit Sportvereinen. Hat der benachbarte Verein keinen Übungsleiter, der am Nachmittag in die Schule kommen kann, sagen einige „schade“, und das Thema ist erledigt. Warum aber kann ich nicht eine Erzieherin oder einen Erzieher dazu ausbilden, ein Sportangebot unterbreiten zu können? Ich werbe dafür, immer zu schauen, was mit vorhandenen Ressourcen funktionieren kann, immer verbunden mit dem Blick, was auch für die Kinder die beste Lösung ist, denn die Kinder sind das schwächste Glied in dieser Betreuungskette.
Online-Redaktion: Gilt das auch für Projekte, die Sie anstoßen?
Müller-Brackmann: Wir versuchen immer wieder, auch inhaltliche Impulse zu setzen. Ich denke unter anderem an unser lokales Projekt WiNetziA, WissenschaftsNetz in Aktion. In Verbindung mit dem Haus der kleinen Forscher in Berlin können Schulen eigene Forschungsprojekte anbieten. Aktuell beschäftigen wir uns darüber hinaus mit Fragestellungen rund um gesundes Essen. Dabei haben wir einen kleinen Gemüsekoffer mit verschiedenen Arbeitsmaterialien für unterschiedliche Arbeitsgruppen entwickelt. Die Schulen besuchen den benachbarten Gemüseacker der Solawi Eicken, einer Agrargenossenschaft in Schwalmtal-Eicken, und erfahren, wie sie Hochbeete in ihren Schulen anlegen können.
Online-Redaktion: Wer so wie Sie arbeiten möchte, muss das Ohr an der „Kundschaft“ haben. Wie gelingt Ihnen das?
Müller-Brackmann: Wir schaffen neben den Fortbildungen und Zertifikatskursen Anlässe zur Vernetzung und Kommunikation. Das geschieht im Rahmen von Spielefesten, beim jährlichen Ogata-Fußballcup, bei multiprofessionellen Netzwerktreffen mit anderen Bildungsinstitutionen, zum Beispiel auf unseren jährlichen Netzwerktag, und nicht zuletzt auch während unserer halbjährlichen Frühlings- und Herbstcafés.
Letztere gibt es seit mehr als zehn Jahren. Dann treffen wir uns trägerübergreifend in einer Einrichtung. Die Gastgebereinrichtung stellt sich vor, und anschließend besteht Zeit und Raum für den Austausch. Für uns ist das unser Kontakthof. Und das Schöne und Wertvolle dabei ist, dass wir bei jeder Maßnahme unterschiedliche Kolleginnen und Kollegen mit unterschiedlichen Erfahrungen und Sichtweisen treffen. Dort bündelt sich ein Wissensschatz, der sich bestens für eine überregionale Ideenbörse eignet.
Kategorien: Kooperationen - Kulturelle Bildung
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