Mehr Bildungsgerechtigkeit : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf

Die Schulkommission der Heinrich-Böll-Stiftung hat Empfehlungen für mehr "Bildungsgerechtigkeit im Lebenslauf - damit Bildungsarmut nicht vererbt wird", einer breiteren Öffentlichkeit zur Diskussion gestellt. 

Es gibt eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern, die der Gesellschaft trotz aller Anstrengungen auf Dauer verloren zu gehen droht. 20 Prozent aller Schülerinnen und Schüler in Deutschland erreichten bei der PISA-Studie, die - z. B. für die Lesekompetenz und die mathematisch-naturwissenschaftliche Kompetenz - fünf Kompetenzstufen aufweist, den schlechtesten Wert: das heißt Stufe eins oder darunter.

Prof. Heinz-Elmar Tenorth und Diskussionsrunde
Links Bild: Prof. Heinz-Elmar Tenorth von der Humboldt-Universität und Mitglied der Schulkommission

"Dieses ,und darunter' ist als schulischer Effekt gar nicht mehr messbar", erläuterte Prof. Heinz-Elmar Tenorth von der Humboldt-Universität als Mitglied der Schulkommission in seinem Eingangsreferat. Als in diesem Sinne "kompetenzarm" müssen in Berlin und Hamburg 70 Prozent der Hauptschüler und 25 Prozent der Realschüler gelten, in Bayern sind es immerhin noch 30 Prozent der Hauptschüler.

Fatalismus statt Vertrauen in die eigene Handlungsfähigkeit

Die betroffene Risikogruppe habe sich seit dem Schuljahr 1999/2000 kaum verändert. Wenn die Experten von "Risikogruppe" sprechen, ist gemeint, dass diese Schülerinnen und Schüler "unter Bedingungen des Risikos" aufwachsen. "Nicht die Schülerinnen und Schüler selbst sind ein Risiko!", betont Tenorth. Der Misserfolg in der Bildung erreiche oft schon die zweite Generation, Fatalismus statt Vertrauen in die eigene Handlungsfähigkeit dominiere in dieser "Gruppe". Eine "Risikogruppe" habe es immer im Schulsystem gegeben, sie sei für das gesamte 20. Jahrhundert nachweisbar. "Das Neue ist: Es gibt für die Betroffenen keinen Arbeitsmarkt mehr", erläuterte Tenorth .

Die Schulkommission, der noch weitere renommierte Bildungsforscher wie Prof. Martin Baethge vom Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI) und Prof. Helmut Fend, emeritierter Erziehungswissenschaftler der Universität Zürich angehören, hat unter dem Titel "Für mehr Bildungsgerechtigkeit im Lebenslauf" Empfehlungen erarbeitet, die auf der Tagung erstmals in der Öffentlichkeit diskutiert wurden.

So waren zahlreiche Vertreter der pädagogischen Praxis, aber auch Repräsentanten der Bildungsverwaltungen, der Kommunen, der Wirtschaft und nicht zuletzt der Forschung der Einladung gefolgt. Die Forschung diskutiere das Problem seit dreißig Jahren zunehmend auf der Grundlage empirischer Methoden und damit weniger ideologisch als in den 1970er Jahren, so Dr. Andreas Poltermann, Leiter der Abteilung Politische Bildung der Heinrich-Böll-Stiftung in seiner Begrüßung.

"Die Schulen nicht mit dem Problem alleine lassen"

Cem Özdemir, der als Bundesvorsitzender von "Bündnis 90/ Die Grünen" die rund 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer begrüßte, stimmte dem Vorredner zu. Zwei Millionen Schülerinnen und Schüler verließen die Schule ohne Basiskompetenzen erlangt zu haben: "Sie haben die Fähigkeit das Lernen zu lernen nicht erworben." In der "Risikogruppe" fänden sich insbesondere Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien.

Besonders betroffen seien Großstädte wie Berlin, in denen auch ein überproportional hoher Anteil von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund lebten: "Der Zugang zu guten Bildungschancen ist zu einer zentralen Gerechtigkeitsfrage geworden", so Özdemir, der auch über eigene biographische Erfahrungen sprach. Gerade so genannte Problembezirke bräuchten besonders gute Schulen.

Doch die Kinder und Jugendlichen, die laut Tenorth in Risikolebenslagen leben, dürfe man nicht als Opfer verstehen, sondern als handlungsfähige Subjekte, die zur Selbstbestimmung fähig sind und der Nutzung von Lerngelegenheiten sowie als Akteure ihrer eigenen Welt. Es gehe daher auch um das Bildungsverständnis. Zur Bildung gehöre die selbstständige und selbstverständliche Verfügung über Basiskompetenzen ebenso wie Selbstregulationsfähigkeit.

Mehr Lebenszeit für das formelle Lernen

Die neunköpfige Schulkommission hat die Frage der Bildungsgerechtigkeit etwa am Beispiel der Bildungsregion Freiburg mit der stellvertretenden Bürgermeisterin Gerda Stuchlik diskutiert. Dabei war der Austausch - erinnert Helmut Fend - von einem hervorragenden Arbeitsklima begleitet. Die konkreten Empfehlungen:

Die Förderung der Kinder und Jugendlichen solle sich an ihrer Biographie orientieren, was eine stärkere institutionelle Durchlässigkeit erfordere. Notwendig sei die Gestaltung durchlässiger Bildungsgänge sowie die Einbeziehung und Vernetzung der Eltern, Kitas und Schulen. Für die Kinder und Jugendlichen müsse durch Ausweitung des Ganztagsangebotes, durch Angebote an Wochenenden oder in den Ferien mehr Lebenszeit für das formelle Lernen genutzt werden.

"Die Zeitgestaltung ist von besonderer Bedeutung, um die durch die Herkunft bedingten Nachteile auszugleichen", erklärte der Vorsitzende der Kommission, Hans-Jürgen Kuhn. Den Kindern und Jugendlichen müsse eine hohe Leistungsorientierung in einer anregenden Umgebung geboten werden. Dies alles sei letztlich nur durch Stärkung und Ausbau der lokalen und regionalen Bildungslandschaften und die Einbeziehung zivilgesellschaftlichen Engagements vor Ort möglich.

Verschränkung von biographischer Perspektive und systemischem Ansatz

Den Mythos, dass eine neue Schulform per se die Bildungschancen verbessere, stellte der Züricher Erziehungswissenschaftler Fend, der sich schon seit den 1970er Jahren mit Fragen der Bildungsgerechtigkeit befasst, infrage. Die bildungspolitische Diskussion müsse daher über die Frage der Organisation von Bildungsgängen hinausgehen.

So fand er in seinen Forschungen heraus, dass die Verschränkung von biographischer Perspektive (Lebenslaufansatz, frühe Förderung, Offenheit und Vielfalt der Bildungswege) und systemischem Ansatz (ordnungspolitischer Rahmen, durchlässiges Schulsystem) mehr Chancengerechtigkeit begründe. Eine wirksame Strategie sei die gezielte Verbindung von Schullaufbahngestaltung und Förderkonzepten, mehr Ganztagsangebote, Anschlussfähigkeit der Abschlüsse und die Durchlässigkeit des Bildungssystems.

Links im Bild: Prof. Helmut Fend. Rechts im Bild: Fend im Austausch mit Baumert
Links im Bild: Prof. Helmut Fend, emeritierter Erziehungswissenschaftler der Universität Zürich. Rechts im Bild: Fend im Austausch mit Baumert.

Wie sich zeigte, gab es zwischen Helmut Fend und Jürgen Baumert, dem Direktor des Max Planck-Instituts für Bildungsforschung, viele inhaltliche Gemeinsamkeiten. Baumert sprach sich für eine Vereinfachung der Schulstruktur, aber auch für die Stärkung der Ganztagsschulen aus: "Die zusätzliche Zeit in den Ganztagsschulen sollte zur Stärkung der Basiskompetenzen verwendet und mit der Berufsorientierung verbunden werden". Er setzte sich auch für eine Verbesserung der kommunalen Entscheidungskompetenzen bei der Schulstrukturdebatte ein.

Eingebettet in kulturellen und historischen Kontext

In seinem Kommentar hob Baumert lobend hervor, dass die Empfehlungen der Kommission "kulturell und historisch kontextualisiert" seien. Es sei auch wichtig, zwischen "Gleichheit" und "Gerechtigkeit" zu unterscheiden. Allerdings kritisierte er u. a., dass die Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte zu kurz komme. Die Einführung des "Master"-Abschlusses für alle Lehrämter in NRW hielt er für einen richtigen Schritt. Auch wenn - im Bereich der Sekundarstufe I - die Ausbildung der Gymnasiallehrer "sicherlich nicht die beste" sei, sei sie doch leistungsfähig.

Die gymnasiale Unterrichtsgestaltung sei nach seinen Erkenntnissen viel stärker für Leistungsfortschritte verantwortlich als die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft. Abschließend erinnerte Baumert daran, dass die Kommission sowohl die zeitlichen als auch die finanziellen Ressourcen nicht konkretisiert habe, die erforderlich seien, um das Bildungsniveau anzuheben. Besser früh reparieren als zu spät, heißt das Motto für Baumert: Die Wirkungen von Investitionen im Bildungsbereich seien bis zu einem Alter von acht Jahren um ein Vielfaches höher als später.

Erweiterter Bildungsauftrag für die regionale Bildungslandschaft

Um das "Brücken bauen" zwischen den Bildungsinstitutionen ging es im zweiten Teil der Veranstaltung, genauer um die Idee der regionalen Bildungslandschaften. Dazu gab es eine Podiumsdiskussion, in der Cornelia Stern von der Bertelsmann-Stiftung und Mitglied der Schulkommission, Sylvia Löhr, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Landtag Nordrhein-Westfalen sowie Sabine Süß vom Modellprojekt "Lernen vor Ort" die Argumente austauschten. "Die Bildungsinstitutionen brauchen professionelle Dienstleister", erläuterte Cornelia Stern. Sie schaffen Übergänge zwischen den Lebensphasen und Bildungsinstitutionen und sichern das lebenslange Lernen.

Die regionalen Bildungslandschaften erlauben es den Schulen, Brücken zu den Akteuren aus der Jugendhilfe oder der Zivilgesellschaft, aber auch beispielsweise zu Bibliotheken zu schlagen. Das Modellprojekt "Lernen vor Ort", das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit 60 Mio. Euro über eine Laufzeit von drei Jahren gefördert wird, erläuterte Sabine Süß: "Neu ist, dass das BMBF die Akteure in der Zivilgesellschaft stärker einbeziehen möchte." Ziele sind die Erhöhung der Bildungsbeteiligung, die Stärkung der Beschäftigungsfähigkeit, die Verbesserung der Übergänge zwischen den Bildungsphasen und die Stärkung der demokratischen Kultur.

Kommunales Bildungsmanagement stärken

Bundesweit beteiligten sich 28 Stiftungen an den Ausschreibungen. In dem zweistufigen Verfahren bewarben sich 150 Kommunen, die gemeinsam mit den Stiftungen ihre Erstideen zum Thema Regionale Bildungslandschaft erarbeiteten. Bis zum 4. Mai 2009 waren 59 Kommunen aufgefordert, ihre Vorschläge für strukturelle Verbesserungen einzureichen. Im Ergebnis werden 30 Kommunen (Landkreise und kreisfreie Städte) als Modellprojekte ab Herbst 2009 gefördert.

Das Interesse der Kommunen sei ausgesprochen hoch. Die Aachener Erklärung der deutschen Städte habe den Wunsch der Kommunen deutlich zum Ausdruck gebracht, mehr Bildungsverantwortung zu übernehmen. "Das kommunale Bildungsmanagement muss Chefsache werden", so Süß. Eine zentrale Anforderung an das Programm sei es, dass die Länder dahinter stehen.

Die Lebenslagen der Familien berücksichtigen

Die Schwerpunkte der regionalen Bildungslandschaften variieren je nach Region. So stehen in Baden-Württemberg und Niedersachsen Leitbildprozesse im Mittelpunkt, während in der Region Darmstadt der demographische Wandel und die Berufsorientierung den Schwerpunkt bilden. Für den Bielefelder Erziehungswissenschaftler Prof. Klaus-Jürgen Tillmann lautete die Frage während der Diskussion: Sind die Länder bereit, Kompetenzen abzugeben? Welche Kompetenzen sollen verlagert werden? Norbert Hocke von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) forderte, dass man die Lebenslagen der Familien stärker in den Blickwinkel nehmen solle. 

Die Diskussion am Abend widmete sich der beruflichen Bildung. Dabei stand insbesondere die Verbindung von Allgemeinbildung und Berufsorientierung im Vordergrund. Prof. Martin Baethge, Präsident des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen (SOFI) betonte, dass vor allem eine andere Gestaltung der Übergänge erforderlich sei. Lobend wurde in diesem Zusammenhang das vom BMBF geförderte "Jobstarter-connect"-Programm hervorgehoben.

Kritische Fragen und Anmerkungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer verdeutlichten, dass der Zweck der Tagung erreicht wurde: Es kamen auch zahlreiche Akteure zu Wort, die nicht in der Kommission vertreten waren. Dementsprechend versprach der Vorsitzende der Bildungskommission Hans-Jürgen Kuhn, die Empfehlungen weiter zu konkretisieren und unbeantwortete Fragen zu thematisieren.

Die Übernahme von Artikeln und Interviews - auch auszugsweise und/oder bei Nennung der Quelle - ist nur nach Zustimmung der Online-Redaktion erlaubt. Wir bitten um folgende Zitierweise: Autor/in: Artikelüberschrift. Datum. In: https://www.ganztagsschulen.org/xxx. Datum des Zugriffs: 00.00.0000