Landkreis Marburg-Biedenkopf: Ganztagsangebot ist Tradition : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Kommunen sind Impulsgeber beim Ausbau von Ganztagsangeboten – der Landkreis Marburg-Biedenkopf sogar schon besonders lange. Vize-Landrat Marian Zachow und Fachbereichsleiterin Tanja Pfeifer im Interview.
Online-Redaktion: Herr Zachow, wie entwickelt sich die Schullandschaft im Landkreis Marburg-Biedenkopf?
Marian Zachow: Wir sind wahrscheinlich einer der Schulstandorte Deutschlands mit den zahlreichsten kleinsten Schulen. 30 Prozent unserer Schulen sind nicht größer oder gleich 60 Schülerinnen und Schüler. In den letzten Jahren haben wir viel dafür getan, diese Schulstandorte gegen den Trend aufrechtzuerhalten, wobei wir mittlerweile zum Glück auch wieder stabilisierte Schülerzahlen haben. Das stellt uns aber auch vor die Herausforderung, an diesen kleinen Standorten für adäquate Ganztagsangebote zu sorgen, um sie nicht zu benachteiligen.
Wir reden hier nicht nur von kleinen Schulen, sondern auch von Schulen, die noch kleine Außenstandorte unterhalten. Diese Schulen arbeiten mitunter schon in einem organisatorischen Verbund mit anderen Schulen. Viele Lehrerinnen und Lehrer sind bei uns gezwungen, zwischen ihrer Schule und dem Außenstandort zu pendeln. Da besteht verständlicherweise der Wunsch bei einigen Kollegien nach einem größeren zentralen Standort. Auch pädagogische Argumente werden angeführt, zum Beispiel, dass sich dann Arbeitsgemeinschaften und Ganztagsangebote besser organisieren ließen.
Bei den Eltern sind die Meinungen da sehr geteilt. Manche meinen, dass sich an größeren Standorten unterschiedliche pädagogische Angebote leichter realisieren lassen und wären auch bereit, dafür einen weiteren Schulweg für ihre Kinder in Kauf zu nehmen. Andere befürworten die kleinen Schulen mit sehr guten Gründen, zum Beispiel wegen des „Lernens vor Ort“ und der Vernetzung von Dorf und Schule.
Online-Redaktion: Wie viele Schulen gibt es im Landkreis?
Zachow: Insgesamt sind es 61 Schulen, davon 41 Grundschulen, eine Grundschule mit Förderstufe, vier Grund-, Haupt- und Realschulen mit Förderstufen, zwei Kooperative Gesamtschulen mit gymnasialen Oberstufen, drei Kooperative Gesamtschulen, zwei Integrierte Gesamtschulen, ein Gymnasium, zwei Berufliche Schulen und fünf Förderschulen. Unser Landkreis hat ca. 250.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Es gibt zwei Schulträger: Die Universitätsstadt Marburg ist zwar eine kreisangehörige Stadt, gleichwohl aber ihr eigener Schulträger. Und unser Landkreis ist der Schulträger für ein sehr dezentrales Schulangebot in den vielen kleinen Mittelzentren wie Biedenkopf, Gladenbach, Kirchhain oder Stadtallendorf mit ihren jeweils 10.000 bis 20.000 Einwohnerinnen und Einwohnern.
Online-Redaktion: Gibt es ein Stadt-Land-Gefälle in Sachen Ganztag?
Tanja Pfeifer: Nein, das kann man nicht sagen. Wir haben auch größere Schulstandorte mit einem entsprechenden Umfeld, an denen der Ganztag weniger ausgebaut ist als an kleineren Schulen, an denen wir einen solchen Ganztagsausbau so gar nicht für möglich gehalten hatten.
Online-Redaktion: Wie haben sich die Ganztagsschulen in Ihrem Landkreis entwickelt?
Pfeifer: Ganztagsangebote haben bei uns eine lange Tradition: Bereits vor 28 Jahren, 1992/1993, waren die Wollenbergschule Wetter und die Freiherr-vom-Stein-Schule Gladenbach als erste Schulen im Landkreis in das damalige Ganztagsprogramm des Landes Hessen eingestiegen. Zwei, drei Schuljahre später folgten die Gesamtschule Niederwalgern und die Georg-Büchner-Schule Stadtallendorf. In den Folgejahren wurden mit den uns jährlich zur Verfügung gestellten Landesmitteln dann Zug um Zug auch die anderen neun weiterführenden Schulen im Ganztagsprogramm berücksichtigt.
Bei der Aufnahme von Förderschulen in das Ganztagsprogramm haben wir übrigens ebenfalls eine Vorreiterrolle eingenommen. Nachdem in Hessen die Ganztagsschule 1988 für die Schulen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung als Regelbeschulung eingeführt worden ist, wurden 1994/1995 auch die ersten Schulen für Lernhilfe, die Landgräfin-Elisabeth-Schule Stadtallendorf, die Burgbergschule Friedensdorf und die Otfried-Preußler-Schule Weidenhausen, zu Ganztagsschulen. Heute sind das Schulen mit den Förderschwerpunkten Lernen und emotionale und soziale Entwicklung beziehungsweise Sprache.
2003/2004 wurden schließlich die Mittelpunktschulen Hartenrod und Wallau in das Landesprogramm aufgenommen und erste Erfahrungen mit Ganztagsangeboten in Grundschulen gesammelt, neben den bereits bestehenden Betreuungsangeboten. Im Schuljahr 2012/2013 wurde mit der Grundschule II Stadtallendorf schließlich die erste eigenständige Grundschule zur Ganztagsschule.
Online-Redaktion: Kommen auch jetzt noch neue Ganztagsschulen dazu?
Zachow: Bei den Anmeldezahlen in den Ganztagsangeboten in Grundschulen gab es über viele Jahre lang keine Dynamik, es herrschte einfach Zufriedenheit mit der vorhandenen Betreuung. Inzwischen haben viele Schulen gemerkt, dass der Ganztag mehr Möglichkeiten bietet als ein reines Betreuungsangebot. Die pädagogischen Angebote mit der Einbeziehung von externen Kooperationspartnern strahlen auch für ganz kleine Schulstandorte eine große Attraktivität aus.
Wir mussten in den letzten Jahren die Lehrerstellen, die wir vom Land für den Ganztag bekommen haben, den Schulen fast schon aufdrängen. Vor etwa zwei Jahren hat eine Trendwende eingesetzt. Denn Schulen und Eltern haben gemerkt, dass der Ganztag mehr Möglichkeiten bietet als ein reines Betreuungsangebot. Seitdem wächst die Nachfrage nach einem kompletten Ganztagsangebot. Insgesamt arbeiten im Schuljahr 2020/2021 von unseren 61 Schulen jetzt 32 im Ganztagsprogramm des Landes Hessen, also 52 Prozent aller Schulen.
Online-Redaktion: Welche Rolle spielt bei Ihnen der „Pakt für den Nachmittag“, in dem Land und Schulträger das ganztägige Bildungs- und Betreuungsangebot an Grundschulen verantworten?
Zachow: Wir haben da eine historische Sondersituation, denn unser Landkreis war vor 30 Jahren einer von zwei hessischen Landkreisen, die sehr früh das Modell der Grundschulbetreuung eingeführt haben. Mittlerweile haben wir an jeder Schule, selbst an kleinen Schulen, ein Betreuungsangebot bis 15 Uhr in Verantwortung des Landkreises, zum Teil auch in Kooperation mit Fördervereinen. Aufgrund des guten Ausbaustandes der Grundschulbetreuung gab es bei uns deshalb keinen Druck, ein neues Ganztagsangebot im „Pakt für den Nachmittag“ einzuführen. Wir hatten einfach selber vorher schon überdurchschnittlich viel Geld in unsere Betreuungsangebote investiert.
Wir bereiten unseren Einstieg in den Pakt allerdings jetzt vor. Dabei möchten wir einen Mittelweg finden, den „Pakt für den Nachmittag“ zu implementieren, ohne die Attraktivität und die Flexibilität der bestehenden Betreuungsangebote aufs Spiel zu setzen. Es darf vor allem kein Gegeneinander von Freiwilligkeit und Pflicht geben.
Online-Redaktion: Wie begleitet der Landkreis die Ganztagsschulen in ihrer Entwicklung?
Pfeifer: Unsere kontinuierliche Aufgabe besteht in der Unterstützung der Ganztagsschulen seitens der Verwaltung. Wir beantragen die jährlichen Landesressourcen – das sind aktuell über 1 Million Euro jährlich – über den Schulträger, schließen Honorarverträge und Kooperationsvereinbarungen mit außerschulischen Partnern ab, zahlen die Honorare aus, wickeln den gesamten digitalen Zahlungsverkehr ab, erstellen die jährlichen Verwendungsnachweise und Sachberichte. Und wir beraten die Schulen ebenso bei der Beantragung und Abwicklung des Ganztagsprogramms. Seit über 25 Jahren gibt es bei uns eine enge Abstimmung zwischen den beiden Schulträgern Stadt und Landkreis mit dem Staatlichen Schulamt. Wir haben eine gemeinsame Steuergruppe, die sich einmal im Quartal trifft und in der wir gemeinsam den weiteren Auf- und Ausbau der Ganztagsschulen abstimmen, eben den gesamten Prozess steuern.
Zachow: Wir haben ein Investitionsprogramm für den Schulbau aufgestellt und darin eine Prioritätenliste formuliert. Als einen ganz wesentlichen Punktebringer gewichten wir da die Frage nach dem Ausbau des Ganztags. Für uns ist das Investitionsprogramm ein Beschleuniger in Richtung Ganztag.
Online-Redaktion: Ein mit der Ganztagsschule verbundenes Ziel ist mehr Bildungsgerechtigkeit. Wie sieht es damit aus?
Pfeifer: Das Herzstück der Ganztagsschule sind oftmals Förderangebote und die Hausaufgabenbetreuung, und diese können sicherlich zu mehr Bildungsgerechtigkeit beitragen. Darüber hinaus bietet der Ganztag Schülerinnen und Schülern Angebote, mit denen sie sonst in ihrem Leben nicht in Berührung kommen, beispielsweise wenn sie ein Musikinstrument erlernen. Diese Kombination aus Förderangeboten und ungebundenen Aktivitäten macht den Ganztag so attraktiv.
Online-Redaktion: Was steckt hinter Ihrem Programm „Bildung integriert“?
Zachow: Da geht es darum, die verschiedenen Schubladen unseres Bildungssystems – Schule, Hochschule, Ausbildung, informelle Bildung, berufliche Bildung, berufliche Qualifizierung, Erwachsenenbildung – in eine Betrachtungsweise zu bringen. Dazu haben wir die verschiedenen Verantwortlichen aus Kindergärten bis zur Seniorenbildung zusammengeholt. Es geht also um Bildung von 0 bis 99 Jahren. Querschnittsgruppen arbeiten zu einzelnen Themen wie „Bildungsberatung“ und „Bildungsgerechtigkeit“ und das alles auf der Grundlage von Daten. Wir legen jetzt unseren ersten Bildungsbericht vor. Wir versuchen, in den Daten bestimmte Trends zu erkennen und den Bericht zum Ausgangspunkt für eine strategische und gezielte Steuerung zu nehmen.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Kategorien: Kooperationen - Umweltbildung und Nachhaltigkeit
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