Kantone als Vorreiter ganztägiger Bildung in der Schweiz : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Noch sind Ganztagsschulen  in der Schweiz die Ausnahme. Es gibt aber auch gute Beispiele: In den Kantonen Bern und Basel.

Am 2. Dezember 2010 lud die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände (SAJV) zur Nationalen Fachtagung "Pädagogik 2020", um über eine "Umfassende Bildung - formal, non-formell und informell" zu sprechen. Der Untertitel der Tagung, zu der etwa 100 Interessierte in die Berner cinématte gekommen war, lautete: "Wie sich Schule und Kinder- und Jugendarbeit in einem Bildungsnetzwerk ergänzen können".

Mit der Tagung - thematisch der ersten ihrer Art in der Schweiz - verfolgten die Veranstalter mehrere Ziele, wie Petra Baumberger, die Co-Geschäftsleiterin der SAJV, zur Einleitung erläuterte: "Wir wollen die Diskussion über die Zusammenarbeit schulischer und außerschulischer Jugendarbeit auf eine nationale Ebene heben und die Jugendverbände dabei als Bildungspartner positionieren. Diese Tagung soll das Potential, die Chancen und die Risiken dieser Zusammenarbeit benennen und die Bildung eines Netzwerkes zur Koordination bisheriger Aktivitäten anschieben."

Synergien durch Kooperationen bleiben ungenutzt

Aktuell verlaufe die Diskussion unkoordiniert, wobei die Stimme der verbandlichen Jugendarbeit wenig berücksichtigt werde, obwohl diese über jahrelange Erfahrung in der non-fomalen Bildung verfügten. "Bis auf wenige regionale Pilotprojekte gibt es nichts. Synergien bleiben ungenutzt, und großes Potential liegt brach", bedauerte Petra Baumberger.

Die Schaffung "Lokaler Bildungslandschaften" ist ein Thema, bei welchen die Schweiz noch Nachholbedarf sieht, während sich in den vergangenen Jahren in Deutschland viel getan hat:. Als Botschafter in dieser Sache trat auf der Tagung der Erziehungswissenschaftler Peter Bleckmann mit einem Referat vor das Plenum, um eine Übersicht über den Stand des Ausbaus und der Vernetzung verschiedener Bildungsakteure und aktuelle Forschungsergebnisse in Deutschland zu geben. Bleckmann ist Bereichsleiter "Bildungspartner vernetzen", bei der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, die das IZBB-Begleitprogramm "Ganztägig lernen! Zeit für mehr" trägt.

"Der Ausbau von Ganztagsschulen, die Entwicklung lokaler Bildungslandschaften und das Engagement der Kommunen für Bildung sind drei zusammen hängende Entwicklungen in Deutschland während des letzten Jahrzehnts", führte Bleckmann aus. 2007 seien Lokale Bildungslandschaften das Jahresthema im Begleitprogramm "Ideen für mehr! Ganztägig lernen" und auch Gegenstand des bundesweiten Ganztagsschulkongresses des BMBF gewesen. In vielen Städten und Landkreisen wie Flensburg oder im hessischen Weiterstadt hätten sich Netzwerke im Bildungsbereich gebildet.

Stiftungen werden Bildungspaten

Im September 2009 ist das BMBF-Förderprogramm "Lernen vor Ort" gestartet, bei dem 40 Kommunen über fünf Jahre mit 60 Millionen Euro unterstützt werden. Die Initiative schafft für Kreise und kreisfreie Städte Anreize, ein kohärentes Bildungsmanagement vor Ort zu entwickeln und zu verstetigen. Damit werden die Bildungsstationen entlang der individuellen Lebensläufe systematisch aufeinander bezogen. Vorgesehen sind lokale "Grundpatenschaften", in denen einzelne Stiftungen Kommunen vor Ort bei der Verwirklichung ihres Bildungsmanagements unterstützen. Die Stiftungen bringen ihre lokalen Netzwerke, fachliche Expertisen und Erfahrungen in der Bildungsinnovation ein, um Kommunen vor Ort in Patenschaften zu begleiten und zu unterstützen.

"In Basel stehen wir erst am Anfang einer solchen Vernetzung von formaler, non-formeller und infomeller Bildung", erklärte Ueli Keller, Bildungskoordinator der Stadt Basel. "Anregungen auf einer solchen Tagung sind daher dringend nötig, um in der Diskussion voranzukommen." Mit der Präsentation seines Modellprojektes trug Keller selbst dazu bei. "Pilotprojekt Netzwerk Basel 4057" nennt sich dieses nach einem Postleitzahlbezirk benannte Vorhaben. Ziel ist es, das "Potential des riesengroßen Reservoirs von außerschulischen Partnern für die Schulen zu nutzen", erklärte Keller. "Mein Job ist es, Türen zu öffnen."

4057 steht für das Untere Kleinbasel, in dem 31.000 Menschen leben. Der Migrantenanteil liegt bei 50 Prozent. Es gibt 24 Kindergärten, vier Primarschulen, zwei Orientierungsschulen und eine Heilpädagogische Schule. Eine Studie hat 2008 über 40 außerschulische Anbieter allein im Matthäusquartier, einem Stadtteil im Bezirk, identifiziert. Der Stadtbezirk soll nun beim Aufbau eines Netzwerkes, das formale, non-fomale und informelle Angebote verbindet, in seiner Entwicklung zu einem Lebensraum unterstützt werden.

Eltern und Schule stärken Kinder

"Non-formelles und vor allem informelles Lernen sind maßgebend wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung", so Keller. "Mit der Kooperation zwischen Schulen und außerschulischen Angeboten sowie durch Erziehungspartnerschaften mit den Eltern werden neben der formalen Bildung auch die Bedingungen für die non-formelle und informelle verbessert."

2009 sind Kindergärten, Schulen, außerschulische Partner und die Eltern über diese Netzwerkidee informiert worden. Viele bekundeten ihr Interesse an einer Mitarbeit. Das Erziehungsdepartement der Stadt Basel richtete ein Internet-Portal ein, das Kindern, Jugendlichen, Eltern und Lehrpersonen eine Übersicht über die laufenden Aktivitäten, Programme und Projekte verschafft und eine bessere Koordination und Abstimmung der Angebote und Bedürfnisse ermöglicht. In diesem Jahr richtet das Stadtteilsekretariat eine Koordinationsstelle vor Ort ein.

Ein laut Keller "spannendes Pilotprojekt", das unter dem Dach "Basel 4057" in diesem Jahr in zwei Primarschulen startet, ist ESSKI (Eltern und Schule stärken Kinder), mit dem "wir auch Einfluss auf die informelle Bildung nehmen". ESSKI ist von der Hochschule für soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz entwickelt worden und fördert die psychosoziale Gesundheit in der Primarstufe, indem es Kompetenzen und Ressourcen bei Lehrerinnen und Lehrern, Schulkindern und deren Eltern stärkt. Das Projekt gründet auf der Erkenntnis, dass Kinder und Jugendliche am erfolgreichsten in ihren personalen und sozialen Ressourcen gefördert werden, wenn sie von Lehrpersonen und Eltern gemeinsam unterstützt werden.

"Ein Traum geht in Erfüllung"

ESSKI setzt auf drei Ebenen - Kinder, Eltern sowie Lehrpersonen - Interventionsprogramme ein, welche sich auf gemeinsame Bezugsmodelle und -theorien beziehen. Die eingesetzten Programme sind vielfach erprobt und wissenschaftlich evaluiert. Mit dem Lehrmittel "Fit und stark fürs Leben" werden die sozialen und personalen Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern stufenadäquat gefördert. Dieses Lehrmittel kann von den Lehrpersonen ohne zusätzlichen Aufwand in den normalen Unterricht eingebaut werden.

Die Fortbildung "Sichere Lehrpersonen - starke Schülerinnen und Schüler" stärkt die Handlungskompetenzen und Ressourcen von Lehrpersonen im Umgang mit Disziplinproblemen und anderen anspruchsvollen Situationen in der Schulklasse. Eltern stärken ihre Erziehungskompetenzen durch die Teilnahme an einem Angebot von "Triple P" (Positives Erziehungsprogramm). Sie können das Programm entweder im Selbststudium oder in speziell für die Schule organisierten Kursen kennen lernen.

Schule und Elternhaus bilden im Rahmen von ESSKI eine Erziehungspartnerschaft. Das Programm bezieht die gesamte Schule und alle Personen ein, welche in ihr leben, lernen und arbeiten. Dieses Projekt wird somit zur Angelegenheit der gesamten Schule.

Die Vernetzung von Schulen mit außerschulischen Partnern in solchen Programmen wird auch deshalb erleichtert, weil immer mehr Schulen zu Tagesschulen, also Ganztagsschulen, werden. "Ein Traum geht in Erfüllung", schwärmte Uelli Keller, dessen Aufgabe in den letzten Jahren als Leiter Innovative Projekte beim Erziehungsdepartement unter anderem darin bestand, diese Entwicklung zu begleiten. Seit Sommer 2009 unterstützt ihn eine dreiköpfige Fachstelle. Zwölf Baseler Schulen sind bereits Ganztagsschulen; in diesem Jahr kommen weitere neun dazu. Im Jahr 2020, so sieht es die Planung des Basler Regierungsrates zur Entwicklung des Kantons vor, sollen sämtliche Schulen Tagesschulen sein.

Schrittweise vorgehen

Als "Chance für Bildungsnetzwerke" bezeichnete Simone Grossenbacher, Leiterin des Fachbereichs Schulergänzende Maßnahmen in der Erziehungsdirektion des Kantons Bern, die Tagesschulen. Die Revision des Volksschulgesetzes 2008 hat die Tagesschulangebote gestärkt und als Teil der Schule festgeschrieben. Die Aufsicht wechselte dadurch von der Sozial- zur Erziehungsdirektion. Das pädagogisch geleitete Bildungs- und Betreuungsangebot wird in offener wie in gebundener Form vom Kindergarten bis zur 9. Klasse angeboten. Geplant und geführt wird es im Auftrag der Gemeinde, die es zusammen mit Kanton und Eltern finanziert. Finden sich zehn Kinder, die ein solches Angebot wahrnehmen wollen, ist die Schule verpflichtet, es anzubieten.

Das Tagesschulangebot soll den Kindern Betreuung, Erziehung und Begleitung bieten, die Ziele der Volksschule unterstützen, den Eltern die Verbindung vom Familie und Beruf  erleichtern und das Armutsrisiko der Familien verringern. Um diese Ziele zu erreichen, sind Kooperationen ausdrücklich erwünscht. Die Fachbereiche des Kantons verstehen sich als Servicestellen in Richtung Bildungsnetzwerk: Sie ermutigen zur Kooperation, dokumentieren gute Beispiele und "versuchen, diese Kooperationen durch Tagungen und Fortbildungen zu unterstützen", wie Simone Grossenbacher erklärte.

"Der Kanton Bern ist sehr heterogen", führte sie aus. Eine Million Einwohner leben in 392 Gemeinden. Es gibt 600 Volksschulen, teilweise mit nur 100 Schülerinnen und Schülern. "Wir benötigen sicherlich eine Dekade, bis wir alle Schulen zu Tagesschulen umgewandelt haben", meinte die Fachbereichsleiterin. "Wir gehen Schritt für Schritt vor und fragen die Eltern jedes Jahr, welche Module der Tagesschule - Frühbetreuung, Mittagsverpflegung und -betreuung, Aufgabenbetreuung oder Nachmittagsbetreuung - sie benötigen."

Kontinuität statt Projekte gefragt

Der Trend geht in Richtung Ganztagsschule und Lokale Bildungslandschaften - aber durchaus nicht landesweit. Basel und Bern haben Vorreiterrollen übernommen, wobei selbst in ihren Kantonen diese Veränderungen nicht flächendeckend umgesetzt werden.

"Man muss im Kleinen beginnen und dies dann ausweiten", meinte eine Teilnehmerin. "Wir brauchen keine Projekte, sondern Kontinuität", forderte ein Zuhörer. Man müsse die Politik über die Idee ganzheitlicher Bildung aufklären und verhindern, dass Schulen durch politische  und wirtschaftliche Interessen überfrachtet würden.

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