Herford: Runder Tisch und Evaluation : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Das ostwestfälische Herford hat sich bereits 2003 auf den Weg zu einer Ganztagsschulkommune aufgemacht. Heute sind sämtliche elf Grundschulen als offene Ganztagsschulen organisiert, und mit großem Aufwand ist um- und neugebaut worden. Rund 30 Prozent aller Kinder besuchen die Ganztagsschule. Doch wie sieht es mit der Zufriedenheit von Kindern und Eltern aus? Was muss man verbessern, um mehr Eltern von der Ganztagsschule zu überzeugen? Um dies herauszufinden, stellten sich die Schulen einer umfassenden Evaluation.
Hinter den Grundschulen im ostwestfälischen Herford liegen anstrengende Jahre: Die Gebäude sind bei laufendem Schulbetrieb umgebaut worden - was eine hohe Beeinträchtigung durch Lärm und Schmutz sowie dem Zwang zu Provisorien und Umzügen mit sich brachte. "Dies ist besonders für die Schulleiterinnen und Schulleiter bis an die Grenzen der Belastbarkeit gegangen, bei Einzelnen sogar darüber", ist sich Rainer Schweppe, Leiter der Abteilung Bildung, des Kraftaktes des seit 2003 eingeschlagenen Weges bewusst.
Einerseits müsste man den Schulen nun Ruhe gönnen. Andererseits ist mit Beendigung der Bauarbeiten die Arbeit am Aufbau der Ganztagsschule aber nicht abgeschlossen, sondern fängt jetzt erst richtig an: Die neuen Räume und die neuen Möbel sollen Anstoß für eine veränderte Pädagogik sein, in der zum Beispiel kooperatives Lernen den Vorrang vor Frontalunterricht erhält. Es gilt, die richtige Mischung zu finden zwischen der Selbstverantwortung der Schulen, die ihr eigenes Tempo finden und ihre auf die jeweilige Schülerschaft zugeschneiderten Methoden anwenden, und Anstößen von außen, welche die Schulen aus eingefahrenen Gleisen führen können.
Doch es sollte keine Veränderung um der Veränderung willen sein. Um aber die verbesserungswürdigen Aspekte zu ändern, muss man diese erst einmal kennen. Die Alltagshektik lässt grundsätzliche Bestandsaufnahmen kaum zu: An welchem Punkt stehen wir eigentlich gerade? Was hat sich bewährt, was läuft gut? Wo aber hakt es noch, was ist verbesserungswürdig? Die Stadt wollte dies genauer wissen, um das weitere Vorgehen planen zu können, und ließ die Ganztagsschulen im Herbst 2007 evaluieren. Die Blicke von außen liehen Dr. Marianne Berger-Riesmeier, eine Meinungsforscherin aus Lemgo, und PD Dr. Thomas Coelen, Erziehungswissenschaftler an der Universität Siegen.
Unterstützungsbedarf bei Teambildung und Raumnutzung
"Thomas Coelen kam in einer kritischen Zeit, als die Schulen gerade anfingen, ihren Alltag in den neuen Räumlichkeiten zu gestalten", erklärt Rainer Schweppe. Der Wissenschaftler sollte den "Unterstützungsbedarf für die Team-Entwicklung und die Raumnutzung an den Herforder Ganztagsgrundschulen" ermitteln. Anlass für seine Expertise war das Anliegen der Kommune, die "pädagogischen Chancen der neuen Räume umfassender zu nutzen" und die "Zusammenarbeit der Professionen" zu verbessern. Dazu führte Coelen Gespräche mit den Schulleitungen sowie Lehrerinnen und Lehrern und nahm als Beobachter an Schulstunden teil.
Bei der Vorstellung der Ergebnisse seiner Expertise in einer Sondersitzung des Schulausschusses am 5. Februar 2007 betonte Coelen, es handele sich um einen "Zwischenstand in einem sehr dynamischen Prozess, in dem täglich eine enorme Weiterentwicklung stattfindet". Allen Beteiligten sollte nach dem Stress der Umbauphase Zeit eingeräumt werden, sich in den neuen Räumen einzurichten. Unterstützungsbedarf hat der Wissenschaftler nichtsdestotrotz in mehreren Punkten ausgemacht: Bei der gemeinsamen Nutzung von Räumen und der Nutzung von Team-Räumen, der klassen- und jahrgangsübergreifenden Arbeit. Ferner bei der Beteiligung von Kindern an der Raumgestaltung, der Verbesserung der Mittagsmahlzeit, der Bewegung im Unterricht und der flexibleren Nutzung der Räume, Flure und der Außengelände. "Der dezentrale Unterrichtsstil, den die Räume nahe legen, wird noch von wenigen erprobt", hat Coelen beobachtet.
An diesen Stellen könnten Fortbildungen neue Impulse geben und Ideen entstehen lassen. "Allerdings sollte man diese Begleitung im Alltag, die keine Eintagsfliege bleiben darf, behutsam initiieren und Überbelastungen vermeiden", erklärte der Erziehungswissenschaftler. "Die einzelnen Ganztagsgrundschulen können sich die Themen der Fortbildung aussuchen, das Institut für soziale Arbeit und ich beraten sie dann bei der Konkretisierung von Themen und Formen." Strukturelle Defizite wie Ausstattungsmängel oder die Unterschiedlichkeit in den Arbeitsverhältnissen von Lehrern und dem weiteren pädagogisch tätigen Personal ließen sich zwar nicht "hinfortbilden", aber durch "kontinuierliche, kurzzeitige, hochfrequente Denkanstöße ist viel zu erreichen".
Hervorragende Beteiligungsquote bei der Evaluation
Als Anstoß von außen versteht sich auch die Evaluation durch die Meinungsforscherin Dr. Berger-Riesmeier, die an allen elf Ganztagsgrundschulen Schülerinnen und Schüler und deren Eltern mit detaillierten Fragebögen zu verschiedenen Aspekten befragt hatte -
unabhängig von Halbtagsunterricht oder Ganztagsschule Die Gesamtbeteiligungsquote fiel mit knapp 77 Prozent hervorragend aus, sodass die Ergebnisse der Befragung ein wirklich repräsentatives Bild der Zufriedenheit mit der Ganztagsschule widerspiegelt.
Dass insgesamt 2253 Kinder und 2143 Eltern Fragebögen ausfüllten, ist aber nicht nur dem "ungeheuren Engagement der Schulleiterinnen und Schulleiter" geschuldet, wie Dr. Berger-Riesmeier dankte, sondern auch einem Kniff der Abteilung Bildung. Für die drei Herforder Grundschulen mit den höchsten Rücklaufquoten lobten Rainer Schweppe und sein Team Preise aus: Die drittplazierte Schule gewann einen Tierparkbesuch, die zweitplazierte eine Theatervorstellung und die erstplazierte - die eine Rücklaufquote von rund 89 Prozent schaffte - kann sich auf eine Woche Mitmachzirkus an der Schule freuen.
Durch die überwiegend positiven Evaluationsergebnisse können sich die Stadt und die Schulen bestätigt sehen, auf dem richtigen Weg zu sein. So sind circa 90 Prozent der Eltern mit der offenen Ganztagsschule zufrieden, und 85 Prozent der Kinder fühlen sich wohl. Ebenso 85 Prozent der Eltern konstatieren einen "guten Einfluss" der Ganztagsschule auf das Verhalten der Kinder, während etwa drei Viertel auch einen "guten Einfluss" auf die Schulleistungen wahrnehmen.
Wie überzeugt man die skeptischen Eltern?
Doch gerade hier macht die Studie eines deutlich: Die Wahrnehmung der Eltern, die ihre Kinder bisher nicht in der Ganztagsschule angemeldet haben, ist diametral entgegensetzt: Nur 30 Prozent erwarten sich einen positiven Einfluss auf das Verhalten ihrer Kinder, und nur 34 Prozent glauben an verbesserte Schulleistungen. Auch im Widerspruch zu den Aussagen der Ganztagsschülerinnen und -schüler steht die Befürchtung von 21 Prozent der Halbtagsschuleltern, die Leistungen in der Schule würden in der Ganztagsschule nachlassen.
Für die Stadt Herford ist das ein Dilemma: Knapp 30 Prozent der Grundschulschülerinnen und -schüler besuchen die Ganztagsschule, die Kommune will aber eine Beteiligung von etwa 60 Prozent erreichen. Solange aber bei einer Mehrheit diese Vorbehalte gegenüber der Ganztagsschule bestehen, dürfte es schwierig sein, eine Steigerung zu erreichen. Wie kann man die Skeptiker von den per Evaluation bewiesenen Vorzügen überzeugen, um mehr Bildungszeit für alle Kinder zu erreichen?
Unter anderem darüber wird sich der neu gegründete Runde Tisch Gedanken machen müssen. An diesem Gremium nehmen ein Teilnehmer aus der Jugendhilfe, eine Erzieherin aus einer Kindertagesstätte, eine Teamleitung Frühkindliche Bildung, eine Sozialplanerin, sieben Kooperationspartner, die elf Schulleitungen, ein Teilnehmer der Schulaufsicht, zwei Elternvertreter und zwei Vertreter aus dem Qualitätszirkel der Offenen Ganztagsschule teil. "Der Runde Tisch soll die Themen und Handlungsfelder identifizieren, die vor dem Hintergrund der Expertise, der Evaluation und der persönlichen Erfahrungen und Kenntnisse der Beteiligten anzupacken sind", beschreibt Rainer Schweppe die Aufgabenstellung. In sieben Treffen sollen Ziele und Maßnahmen erarbeitet und Verabredungen zur Umsetzung getroffen werden, die am 2. Juni 2008 dem Schulausschuss vorgelegt werden sollen. Die Umsetzung wird durch den Runden Tisch regelmäßig evaluiert.
Trend geht zur Ganztagsklasse
Man wird sich unter anderem über das Thema Ruhe- und Rückzugszonen verständigen, denn hier hat die Befragung ergeben, dass sich 65 Prozent der Kinder solche wünschen. Auch über die Möglichkeiten, mehr Ruhe in die Hausaufgabenbetreuung zu bringen, kann diskutiert werden, denn hier gaben immerhin 47 Prozent der Schülerinnen und Schüler an, gestört zu werden. Auch wünschen sich 35 Prozent mehr Hilfe bei der Hausaufgabenbetreuung. Diese Zahl wird von den Eltern gestützt, bei denen nur 26 Prozent überzeugt sind, dass die Hausaufgaben von den Kindern selbstständig gelöst werden können.
Während der Runde Tisch am 14. Februar 2008 zum zweiten Mal zusammentritt, um die erreichte Qualität zu bewerten, zu erhalten und weiter zu entwickeln sowie die Akzeptanz des offenen Ganztags zu erhöhen, arbeitet Rainer Schweppe bereits an einer anderen Baustelle, die ebenfalls durch die Evaluation aufgerissen worden ist. Fast 60 Prozent haben dort angegeben, ihr Kind wegen der "zu hohen Kosten" nicht in der Ganztagsschule anzumelden. Der Leiter der Abteilung Bildung möchte nun das nach Einkommen gestaffelte System, das Beiträge bis 100 Euro plus 50 Euro Essensgeld vorsieht, ersetzen und hat sich dazu bereits in anderen Kommunen umgeschaut. Die Kleinstadt Wassenberg bei Mönchengladbach arbeitet zum Beispiel mit einem Festbeitragssystem von 20 bis 25 Euro und erreicht eine Teilnahmequote von über 50 Prozent. In Oberhausen gilt das einfache System eines Beitrags von 50 Euro mit Sozialkomponente. Dort besuchen 38 Prozent der Kinder die Offenen Ganztagsgrundschulen.
Noch muss Herford an diesen Stellschrauben drehen. Sollte sich die von Rainer Schweppe beobachtete und begrüßte Entwicklung fortsetzen, dürfte das in ferner Zukunft vielleicht nicht mehr nötig sein: An zwei Dritteln der Ganztagsschulen sind bereits Ganztagsklassen entstanden, die ganztägig rhythmisieren können. Sowohl die Rückmeldungen der Lehrerinnen und Lehrer, die Kinder dort besser kennen zu lernen, als auch die im Vergleich zu den Halbtagsklassen besseren Schulempfehlungen für den Übergang, könnten manche Eltern zum Nachdenken bringen.
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