Hamburger Elbinseln: Netz für Bildung : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Kommunen sind Impulsgeber beim Ausbau von Ganztagsangeboten. Heute im Interview: Jürgen Dege-Rüger, Leiter der „Koordinierungsstelle Bildungsoffensive Elbinseln“, Hamburg.
Online-Redaktion: Welche Bedeutung messen Sie Bildung und Betreuung für die Hamburger Elbinseln zu?
Jürgen Dege-Rüger: In Hamburg gibt es inzwischen das Bemühen, Planungen der Stadtentwicklung direkt mit den Bildungsplanungen zu verknüpfen. Deshalb wurde im Rahmen der Internationalen Bauausstellung - IBA die so genannte Bildungsoffensive gestartet. Ihr Ziel ist es, die verschiedenen Fachbehörden zu einem stärkeren ressortübergreifenden Denken und Handeln zu bewegen. Modellhaft wird dies auf den Hamburger Elbinseln praktiziert.
Bildung, Beratung und Erziehung werden also gedacht im Zusammenhang des konkreten Sozialraums, der ein anderer ist als zum Beispiel in Blankenese oder den Walddörfern. Wir gehen davon aus, dass Kinder und Jugendliche an vielen Orten, man kann sagen, überall lernen. Wir gehen davon aus, dass Bildung nicht nur in der Schule stattfindet. Beim Aufbau der Ganztagsschulen spielen deshalb auch die Jugendhilfe und sogar die Erwachsenenbildung eine äußerst wichtige Rolle.
Online-Redaktion: Wie sehen die Angebote aus, und gibt es Ausbaubedarf?
Dege-Rüger: Fast überall auf den Elbinseln, in Wilhelmsburg und Veddel, wird der räumliche Ausbau der Schulen für den Ganztagsbetrieb vorangebracht. Große Baustellen und Planungen prägen derzeit das Bild. Mit Jugendhilfeträgern werden konkrete Kooperationen entwickelt. In der neu gegründeten Regionalen Bildungskonferenz Elbinseln ist nun die Arbeit an konkreten Themen beschlossen worden, an denen die Akteure in ihren Netzwerken arbeiten. Dazu zählen der Übergang von der Kita in die Grundschule, der Aufbau des Ganztagslernens sowie der Übergang von der Schule in den Beruf. Struktur, Wege und Aufgabenstellungen sind im Wesentlichen definiert. Für die konkrete Umsetzung braucht es aber wegen der aktuellen Belastungen insbesondere beim Aufbau der Ganztagsbildung und den noch viel zu unklaren Anforderungen für die Inklusion neuen Schwung und geregelte Ressourcen.
Im Rahmen der Bildungsoffensive sind mit der IBA sehr nachhaltig fünf große Projekte auf den Weg gebracht worden. Dank des Einsatzes vieler Akteure und mit Unterstützung der Fachbehörden entstanden das „Haus der Projekte“, das „Sprach- und Bewegungszentrum“ sowie das „MEDIA-Dock“ mit Tanz, Theater, Film und Weiterbildung. Alle drei haben neue, von den umliegenden Einrichtungen getragene, besonders reizvolle Bildungshäuser, architektonische Perlen, die als neue Netzwerk-Knoten fungieren. Darüber hinaus entstanden das Netzwerk „PraxisLernen“ und die „Agentur für Wirtschaft und Schule Elbinseln - AWiS, die auch der kontinuierlichen Zusammenarbeit mit Wirtschaftsunternehmen in der Region dienen, etwa Schülerfirmen, Azubi-Speed-Dating etc.
Und schließlich sei das „Tor zur Welt Bildungszentrum“ genannt. In diesem für 60 Millionen Euro erbauten Gebäude finden drei Schulen sowie verschiedene Beratungs- und Erwachsenenbildungseinrichtungen eine neue Heimat. Diese Gebäude erhalten eine Agora – einen Eingangsbereich unter Einbeziehung der vorhandenen Durchgangsstraße mit Buslinie des ganz normalen ÖPNV. Diese Öffnung des Schulgeländes steht sinnbildlich für die Öffnung der Schulen und der Bildungszentren in den Stadtteil. Die Zeiten der Schulen als „Anstalten“ sind damit vorüber. Dabei hat es eine besondere Bedeutung, dass die Planung und Gestaltung dieser Agora in einem großen und viel beachteten Beteiligungsprozess mit über 1.000 Schülern und Eltern entstanden ist. In diesem Prozess haben Schüler, Landschaftsarchitekten und Mitarbeiter vieler Behörden ungeahnt viel voneinander gelernt. Das Ergebnis wird im Frühjahr 2013 zu sehen sein.
Online-Redaktion: Wie wichtig sind Ganztagsschulen für die Eltern und Kinder in Hamburg-Wilhelmsburg und auf der Veddel?
Dege-Rüger: Auf den Elbinseln leben ca. 50.000 Menschen, es ist ein Raum in Hamburg mit einem hohen Anteil ökonomischer Armut. Im Vergleich mit Hamburg insgesamt erreichen nur ca. 15 bis 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler das Abitur, dagegen sind es immer noch fast 20 Prozent, die nicht einmal den Hauptschulabschluss bekommen. Zum Vergleich: In Hamburg liegt die Abiturientenquote bei 40 bis 50 Prozent, und nur acht Prozent verlassen die Schule ohne Hauptschulabschluss. Die Eltern brauchen dringend die Unterstützung der Ganztagsschule für Versorgung, Erziehung und den Bildungserfolg ihrer Kinder.
Online-Redaktion: Wie zufrieden sind Sie mit der derzeitigen Bildungs- und Betreuungssituation, und wo hapert es vielleicht noch?
Dege-Rüger: Das Angebot muss nach unserer Einschätzung auf zwei Ebenen weiter entwickelt werden: Die Schulen brauchen in einem Sozialraum wie diesem eine andere Ausstattung als in anderen Wohnvierteln. Das gilt konzeptionell und auch sächlich, wie in der Zuweisung des Personals, den Klassengrößen, der Unterstützung durch begleitendes, beratendes Personal. Das haben alle hiesigen Schulleitungen in einem aktuellen „Brandbrief“ an ihren Dienstherrn, den Schulsenator, und die Öffentlichkeit deutlich gemacht. Andererseits kann Schule die gesellschaftliche Aufgabe von Bildung nicht allein erfüllen. Deshalb braucht es hier einen Paradigmenwechsel in Verbindung mit der systematischen Vernetzung aller Bildungs-, Beratungs- und Erziehungseinrichtungen und -initiativen. Das sind neben 17 Schulen auf den Elbinseln etwa 100 weitere Einrichtungen.
Die weitere Entwicklung der konkreten Kooperationen erfordert in vielen Bereichen ein Umdenken gegen die Versäulung in den Bildungsbereichen, die formales, non-formales und informelles Lernen trennen, Es bedarf aber auch dringend und vielfach noch nicht gesehener koordinierender Ressourcen. Es ist insgesamt eben ein dickes Brett, das hier gebohrt werden muss für ein verbessertes regionales Bildungsangebot für alle Menschen. Kooperationen müssen aufgebaut, weiter entwickelt und gepflegt werden. Das schließt ausdrücklich Kapazitäten auch bei den Lehrern, den Schulen und allen anderen Einrichtungen dafür ein. Ohne das können die Ziele nicht erreicht werden.
Die Ganztagsschule sollte eine Einrichtung des Ganztagslernens im Stadtteil werden – sie muss Teil einer Landschaft werden, wo die Schule gewissermaßen aufgeht in einem Netz für Bildung, Beratung und Erziehung im verbesserten Sozialraum.
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