Ganztagsschulkongress 2007: Ganztagsschulen als Vernetzer in der sozialen Stadt : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Das den 4. Ganztagsschulkongress am 21. und 22. September 2007 bestimmende Thema "Lokale Bildungslandschaften" lässt sich nicht auf die Zusammenarbeit mit Kooperationspartnern reduzieren. Die Vortragsreihe im Kuppelsaal machte deutlich, dass auch Stadtentwicklung, Bildungsmonitoring und die Frage nach der Partizipation von Migranten eine Bildungslandschaft prägen.
Die Welt macht nicht am Schultor Halt. In manchen Schulen bündeln sich wie unter einem Brennglas die Probleme des umgebenden Stadtteils und spiegeln dessen Auf- oder Abwertung wider. Aber - und dies war die Botschaft des Stadt- und Regionalsoziologen Prof. Dr. Uwe-Jens Walter in seinem Vortrag "Stadtentwicklung und Schule. Perspektiven integrierter Ansätze" auf dem 4. Ganztagsschulkongress - Schulen können die Stadtentwicklung nicht nur abbilden, sondern sie auch beeinflussen.
"In Deutschland ist der Zustand der Wohnsegregation weniger beunruhigend als in den Vereinigten Staaten, aber die zunehmende Dynamik des Entmischungsprozesses ist es durchaus", so Walter. Will heißen: Stadtteile, aus denen die Deutschen wegziehen und die Migranten unter sich bleiben, finden sich zunehmend in einer ökonomischen und sozialen Abwärtsspirale gefangen, bis ein Quartier zu einer symbolisch schlechten Adresse wird.
Schulen bemerken diese Abwärtsspirale als erstes, denn laut Walter stehen "die Wahlurnen heute auch in den Schulämtern", sodass sich an einzelnen Schulstandorten Migranten, aber auch bildungsferne Familien konzentrieren, was wiederum den Wegzug von sozial besser gestellten Familien oder das Abmelden ihrer Kinder von diesen Schulen beschleunigt. Die Schulen werden so selbst Faktoren, welche die soziale Entmischung in einzelnen Stadtteilen vorantreiben.
Ganztagsschulen werden zu Mitgestaltern der sozialen Stadt
Können Schulen solchen Entwicklungen gegensteuern und dadurch Stadtentwicklungsarbeit leisten? "Sie wären alleine überfordert, aber Chancen bieten integrierte Ansätze", meint Walter. Das Städtebauförderungsprogramm "Soziale Stadt" des Bundes und der Länder ist für ihn ein solcher viel versprechender Ansatz. Seit 1999 sind mit diesem Programm, das den Abwärtstrend in bestimmten Quartieren stoppen will, rund 450 Maßnahmen in über 280 Gemeinden gefördert worden.
Das Wort Städtebau ist hierbei irreführend: Es geht bei der "Sozialen Stadt" nicht nur um bauliche Maßnahmen, sondern um Projekte, die geeignet sind, die Lebensqualität eines Stadtteils aufzuwerten. Die betroffenen Bürger werden in die Entwicklung einbezogen. Die Verzahnung unterschiedlicher Politik- und Handlungsfelder ist notwendig, um integrierte Handlungskonzepte mit den Zielen, Maßnahmen, Projekten, Synergieeffekten und Kostenplanung zu erstellen. "Die Arbeit im Stadtteil wird auf vielen Schultern verteilt", erläuterte Walter.
Ganztagsschulen seien dabei besonders gut für die Vernetzung der verschiedenen Akteure geeignet, weil sie durch die Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe, Vereinen und anderen Kooperationspartnern bereits viele Handelnde unter ihrem Dach versammeln. Vom Leidtragenden sozialer Prozesse könnten die Schulen zu Mitgestaltern werden. "Programme wie die ,Soziale Stadt' sind auf solche Beispiele angewiesen", so der Wissenschaftler.
Walter kritisierte die flächendeckende Förderung der Ganztagsschulen unabhängig von den Sozialräumen als Fehler. Auf Nachfrage aus dem Publikum musste er aber einräumen, dass die Förderung von Ganztagsschulen ausschließlich in sozialen Brennpunkten eine Stigmatisierung dieser Schulform hätte bewirken können, die im Widerspruch zu dem übergeordneten Ziel gestanden hätte, bessere Bildungschancen für alle Schülerinnen und Schüler zu ermöglichen.
Bildungsmonitoring als Frühwarnsystem
Eine Option, schleichenden Entmischungsprozessen auch in der Schullandschaft entgegenzuwirken, könnte das "Bildungsmonitoring für Kommunen" darstellen. Der Diplom-Geograf Tobias Terpoorten von der Ruhr-Universität Bochum erläuterte dem Plenum die "Möglichkeiten kleinräumiger Bildungsberichterstattung am Beispiel des Ruhrgebiets". Terpoorten hat nichts anderes gemacht, als aus amtlichen Quellen verfügbare Daten über Kommunen und Schulen zu sammeln, zu qualifizieren und in einer virtuellen Landkarte optisch aufzubereiten. In einer Sozialraumanalyse bestimmte er das Verhältnis zwischen Alt und Jung, den Anteil von Migranten, von Arbeitern, von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern in sechs Kategorien. Für die Schulen wies er die Schülerstruktur, die Übergänge zu anderen Schulformen, die Abschlüsse und weitere Daten wie Sitzenbleiberquote aus und ordnete diese den Sozialräumen zu.
Mit Hilfe eines Computerprogramms lassen sich nun alle gewünschten Daten aufrufen und beliebig in einen räumlichen Zusammenhang bringen. "Man kann systematisch Veränderungen beobachten und die Daten vernetzen, um einen Informationsgewinn zu erhalten", erklärte Terpoorten seine Entwicklung. Die anschauliche Darstellung der Daten auf der virtuellen Landkarte mit den farbigen Markierungen könnten zur Bildungsberichterstattung herangezogen werden oder als Frühwarnsystem dienen, wenn sich an einzelnen Schulen zum Beispiel die Quoten für Schulabbrecher und Sitzenbleiber erhöhen würden.
"Für eine stadtteilorientierte Entwicklung muss in den Ressorts zusammengearbeitet werden", kritisierte Terpoorten indirekt den Umstand, dass eine solche aussagekräftige Zusammenführung aller verfügbaren Daten zur Erhellung bestimmter sozialer Prozesse eher die Ausnahme bleibt. "München macht dies auf kleinster Ebene", hob der Wissenschaftler ein positives Beispiel hervor, "dort werden Daten aus dem kleinsten Sprengel ausgewertet."
Während vielen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Ganztagsschulkongresses die bestechend einleuchtende Arbeit mit dem Computerprogramm einleuchtete, fragte Sonja Student von der Serviceagentur "Ganztägig lernen" Rheinland-Pfalz kritisch nach, ob denn wirklich ein Erkenntnisproblem in den Kommunen vorliege. Der von Terpoorten belegte Zusammenhang von gut situierten Stadtteilen und Abgangsquoten zum Gymnasium von 85 Prozent wie im Essener Süden sei doch bereits hinlänglich bekannt, ebenso wie die Schulstandorte und Stadtteile, in denen Förderbedarf bestünde. Das Problem sei nicht das Sichtbarmachen dieser Zusammenhänge, sondern die fehlenden Reaktionen auf bekannte Zustände.
Migranteneltern benötigen Informationen
Eine Herausforderung für alle Beteiligten ist auch die "Partizipation der Schüler und Eltern mit Migrationshintergrund an der Gestaltung der Ganztagsschule". In Nordrhein-Westfalen helfen seit 2005 von der Landesregierung geförderte Elternakademien, Eltern mit Migrationshintergrund durch Fortbildungen zu motivieren, um als Multiplikatoren in den Kommunen und Vereinen aktive Hilfestellung zur Selbsthilfe geben. Darüber hinaus startete das Land eine Werbekampagne, mit der türkische Mädchen zum Lehramtsstudium animiert werden sollen.
Berrin Alpbek, 2. Vorsitzende der Föderation türkischer Elternvereine in Deutschland (FÖTED), lobte in ihrem Beitrag solche Maßnahmen als integrationsfördernd. Auch die Einladung türkischer Schülerinnen zum Besuch des Bundesministeriums für Bildung und Forschung durch Ministerin Annette Schavan sei ein positives Signal gewesen.
Frau Alpbek lobte die Ganztagsschule ebenfalls als einen "Schritt in die richtige Richtung". Während die Halbtagsschule und die Dreigliedrigkeit des Schulsystems die Kinder behindere, hoffe man in der Ganztagsschule auf mehr Zeit für den Spracherwerb und für Elternarbeit. "Eltern benötigen Informationen, um sich beteiligen zu können", erklärte Berrin Alpbek. Dass ein Bildungsabschluss die Voraussetzung für einen Arbeitsplatz sei, hätten inzwischen auch bildungsferne Migranteneltern verstanden.
Mit der Bildungskampagne "Bildung für die Zukunft" der Türkischen Gemeinde in Deutschland hat Berrin Alpbek ehrgeizige Ziele für die Bildungsbeteiligung der türkischen Mitbürgerinnen und Mitbürger formuliert. Bis 2012 möchte man die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund, die keinen Schulabschluss haben, halbieren, die Abschlüsse der Mittleren Reife verdoppeln und die Abiturquote erhöhen. "Dazu müssen wir in den Medien mehr Bildungsbewusstsein schaffen", erläuterte Berrin Alpbek, "die Internetpräsenz zu diesem Thema erhöhen, Bildungsbotschafter ernennen, Elternakademien und Bildungsbusse einsetzen, Good-Practice-Schulen benennen, Informationsmaterialien erstellen und Mentoren für Schülerinnen und Schüler finden."
"Lokale Bildungslandschaften" sind mehr als das Öffnen einer Schule zu außerschulischen Partnern wie Vereinen oder Verbänden. Die Vortragsreihe im Kuppelsaal machte deutlich, dass die Zukunft des deutschen Bildungssystems auch davon abhängt, ob es gelingen wird, soziale Prozesse in den Städten zu verlangsamen oder umzukehren. Für Wissenschaftler und Bildungsakteure ist die Ganztagsschule eine Option, dies zu erreichen.
Lesen Sie hier den 2. Teil unserer Ganztagsberichterstattung.
Kategorien: Kooperationen - Lokale Bildungslandschaften
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