Ganztagsangebote in Gotha: „Das ist Leben!“ : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Kommunen sind Impulsgeber beim Ausbau von Ganztagsangeboten. Doch die Residenzstadt Gotha hat außerdem schon deutsche Schulgeschichte geschrieben. Oberbürgermeister Knut Kreuch im Interview.

Online-Redaktion: Herr Oberbürgermeister Kreuch, wenn jemand noch nie in Gotha gewesen ist...

Oberbügermeister Knut Kreuch
Oberbügermeister Knut Kreuch © Lutz Ebhardt

Knut Kreuch: ...dann hat er etwas versäumt und sollte den Besuch umgehend nachholen! Gotha liegt in der Mitte Thüringens, in der Mitte Europas, direkt an einer Perlenkette von kostbaren Städten zwischen Eisenach und Weimar. Wir verfügen über ein großes kulturelles Erbe, eine starke wirtschaftliche Basis und natürlich eine riesige Schultradition.

Online-Redaktion: Womit wir nahtlos beim Thema wären...

Kreuch: In Gotha gab es im 17. Jahrhundert die erste deutsche Schulpflicht und im 19. Jahrhundert das erste deutsche Volksschulgesetz. Und – das wird immer vergessen – der erste Kindergarten Deutschlands wurde vor 175 Jahren hier eröffnet, nicht in Bad Blankenburg oder Frankfurt am Main. Friedrich Fröbel hat ihn hier in Gotha gesehen. Unsere Stadt hat gewissermaßen deutsche Schulgeschichte geschrieben.

Online-Redaktion: Leider müssen wir gleich ins 21. Jahrhundert springen: Wie sieht aktuell Gothas Schullandschaft aus?

Kreuch: Gotha hat acht Grundschulen, drei staatliche Regelschulen, eine Staatliche Gemeinschaftsschule, eine Gesamtschule, drei Gymnasien und zwei Förderschulen. Von 2016 bis 2020 betrug die durchschnittliche Geburtenzahl in Gotha 425 Kinder pro Jahr. Damit liegen wir in Thüringen auf einem recht hohen Niveau. Für die kommenden Jahre rechnen wir mit etwa 400 Geburten jährlich, dass sich also der stabile Trend fortsetzt. Insofern werden alle Standorte im Primarschulbereich weiterbestehen können. Im Umland, dem Landkreis Gotha, gibt es ebenfalls ein dichtes Netz an Grund- und Regelschulen. Nur für den Besuch des Gymnasiums und der Gesamtschule, die übrigens sehr gut besucht ist, müssen die Eltern ihre Kinder in die Stadt schicken.

Online-Redaktion: Haben Sie wie andere Großstädte mit dem „Speckgürtel“-Phänomen zu kämpfen, dass gerade junge Familien ins Umland ziehen?

Kreuch: Das Thema ist sehr durchwachsen, das muss man klar sagen. Nach der Deutschen Einheit haben viele junge Familien ihre Häuser rund um Gotha gebaut, weil dort günstiges Bauland vorhanden war. Diese Menschen sind Gothaer geblieben, zählten aber nun zu den Einwohnern der umliegenden Kommunen, wo auch ihre Steuern hinflossen. Jetzt sind diese Bürgerinnen und Bürger im Seniorenalter, verkaufen ihre Häuser und kommen zurück in die Stadt. Und an wen verkaufen sie? An junge Leute aus Gotha. Denn das Wohnen dort ist immer noch günstiger als bei uns in der Residenzstadt. Für diese jungen Menschen ist es noch irrelevanter und schwerer erkennbar, dass Ärzte, Öffentlicher Personennahverkehr, Einkaufen und eine lebendige Innenstadt wichtiger sind als das günstige Leben am Rande.

Online-Redaktion: Welchen Wert haben Ganztagsangebote für Sie?

Imker-AG "BEE Ernst" an der KGS Herzog Ernst © KGS Gotha

Kreuch: Dass die Schülerinnen und Schüler an einem Ort bis 16 Uhr Bildung und Betreuung erfahren, ist auch eine Vorbereitung auf das spätere Leben. Raus aus der Familie, jeden Tag etwas Neues lernen und entdecken, Freunden und anderen Menschen begegnen – das ist Leben! Die Nachfrage der Eltern nach den Ganztagsangeboten steigt, weil sie wollen, dass ihre Kinder gemeinsam essen, gemeinsam Hausaufgaben machen und gemeinsam spielen, statt dass sie alleine zu Hause rumhängen. Jetzt, in der Pandemie, haben Eltern ja den Wert von Bildung in Kindergarten und Schule endlich voll erkannt. „Homeschooling“ ist das Unwort des Jahrhunderts! Eltern, die seit Jahren aus der Schule raus sind, sollen ihren Kindern nun mit einem wackeligen Tablet etwas beibringen? Das ist doch absurd!

Online-Redaktion: Welche Diskussionen rund um das Thema Schule nehmen Sie wahr?

Kreuch: Ein ganz großes Thema, das die Eltern umtreibt, ist die Frage nach dem weiteren Bildungsweg der Jugendlichen nach dem Ende der Schulzeit. Viele Schülerinnen und Schüler haben keine Vorstellung vom Berufsleben. Dieses Problem lässt sich nur lösen, wenn man in der Schule einen alle zwei Wochen stattfindenden sogenannten Arbeitstag einführt. Wir brauchen wieder die Partnerschaft zwischen Unternehmen und Schule – es reicht nicht, dass die Schülerinnen und Schüler mal einen Tag im Schuljahr in einen Betrieb reinschnuppern. Die Jugendlichen müssen regelmäßig in die Firmen und Betriebe gehen, um dort selbst zu erfahren, was sie interessiert, was ihnen Spaß macht und was ihnen nicht gefällt. Die müssen mal eine Säge, die müssen mal eine Feile in der Hand gehabt haben oder mit dem Lärm einer Maschine umgegangen sein.

In einer mittelständisch geprägten Stadt wie Gotha mit 800 Unternehmen, die meisten davon mit etwa 30 Beschäftigten, kann ein Jugendlicher gar nicht wissen, was genau in den Betrieben passiert, was das Unternehmen konkret macht. Sie oder er bewirbt sich dort nicht, und die Wirtschaft klagt über fehlende Facharbeiter und muss auswärts anwerben. Wenn es uns nicht gelingt, diese Vernetzung zwischen Schule und Wirtschaft wiederherzustellen, dann werden wir weiterhin Schwierigkeiten haben.

Online-Redaktion: Wo setzt die Stadt Gotha Schwerpunkte in der Bildungslandschaft?

Kreuch: Mit einem einheitlichen Bildungskonzept, das schon von klein auf ansetzt. Wir haben hier 18 Kindertagesstätten, eine davon wird in diesem Jahr noch in einem Neubau eingeweiht. Die Grundschulen bieten mit ihren Schulhorten ein ganztägiges Bildungs- und Betreuungsangebot, von dem aus die Kinder nach der vierten Klasse in die weiterführenden Schulen gehen. Und alle diese Einrichtungen sind miteinander vernetzt.

2005 mit IZBB-Mitteln ausgebaut: Evangelische Grundschule. © Evangelische Grundschule Gotha

Ich finde allerdings, dass der Übertrittszeitpunkt nach der Grundschule zu früh kommt und wünsche mir ein Bildungssystem, dass die Schülerinnen und Schüler bis zur 8. Klasse zusammen lernen lässt. Das hängt mit einem Staat zusammen, den es seit 30 Jahren nicht mehr gibt, dessen Erfolgskonzept eines polytechnischen Bildungssystems aber zum Beispiel in Finnland und in Schweden noch gelebt wird. Für mich ist daher unsere Staatliche Gemeinschaftsschule in Gotha mit einem durchgängigen System von Klasse 1 bis 10 ein tolles Modell, das ich mir für alle Gothaer Schulen wünsche, gerade für diejenigen Grund- und Regelschulen, die sowieso schon unter einem Dach untergebracht sind.

Jetzt ist es so, dass die Kinder und ihre Eltern zu früh zu Entscheidungen in der Schulwahl gezwungen sind. Eltern schicken ihre Kinder oft aufs Gymnasium, weil sie in den Regelschulen Nachteile für deren Entwicklung befürchten. Die Eltern haben da richtiggehende Ängste. Und wenn in einer Grundschulklasse 15 von 20 Kindern aufs Gymnasium sollen, dann haben die Eltern der fünf anderen Kinder Sorge, dass ihre Kinder jetzt schon den Stempel, sie seien zu dumm, aufgedrückt bekommen.

Online-Redaktion: An welchen Stellen investiert die Stadt in die Bildung?

Kreuch: Langfristig, und nicht in Showprojekte. Wir haben immer kontinuierlich in die bestehenden Gebäude investiert, in Fenster, Fußböden, Möbel und Whiteboards, sodass es in Gotha keine heruntergelotterten Klassenzimmer gibt, wo irgendwann die Eltern sich dranmachen müssten, selbst zu tapezieren. Momentan investieren wir sehr stark in die Digitalisierung und machen die Schulen fit mit Laptops, guten Anschlüssen und Netzwerken.

Gleichzeitig ist uns wichtig, unsere kleineren Schulstandorte zu erhalten. Unsere größte Schule hat gerade mal 350 Schülerinnen und Schüler. Die Emil-Langen-Realschule in Salzgitter, die hat so viele Schülerinnen und Schüler wie wir im ganzen Regelschulbereich der Stadt mit drei Standorten. Wir setzen bewusst auf diese kleinteiligen Einheiten, weil wir meinen, dass das entschleunigt und Probleme entschärft. Und wir lassen unsere Schulen durch Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter begleiten. Bei uns in Gotha ist die Schulsozialarbeit übrigens schon 1994 gegründet worden, bevor sie 2013 in Thüringen zum Gesetz wurde.

Online-Redaktion: Wo sehen Sie Herausforderungen in der Zukunft?

Kreuch: Wir werden eine internationale Gesellschaft, und dieser Aufgabe müssen wir uns stellen, besonders hier im Osten. Die Älteren von uns sind hier groß geworden mit sowjetischen Soldaten, mit vietnamesischen und algerischen Arbeitern. Ab 1990 sind die alle verschwunden, und hier lebten nur noch Einheimische. Jetzt kommen wieder Menschen von außerhalb hinzu, und es ist schwierig und eben die Herausforderung, die Einheimischen und die Zugezogenen zusammenzubringen. Und es ist natürlich auch eine Herausforderung für die Schulen.

Online-Redaktion: Sie sind auch Lokalhistoriker und Heimatforscher. Schwingt die lange Bildungstradition in Gotha noch heute spürbar fort?

Bildungstradition: Als 1. Leh­rer­se­mi­nar durch Herzog Ernst II. erbaut. © KGS Gotha

Kreuch: Dass nicht alle jeden Tag ins Museum gehen können, ist mir klar. Aber Gotha hat diesen Lokalpatriotismus, dieses innere Feuer, dass Bürgerinnen und Bürger zum Beispiel schwärmen lässt: „Was die da auf Schloss Friedenstein machen, das ist toll!“ Einfach eine Begeisterung für die Kultur und einen gewissen Stolz auf die Stadt und ihre Tradition. Und ich finde, dass wir wieder diesen Lokalpatriotismus der Bürgerinnen und Bürger brauchen.

Dazu gehört für mich auch das verfemte Fach „Staatsbürgerkunde“, von der es immer heißt, das sei eine Erfindung der DDR gewesen. Völliger Quatsch! Herzog Ernst der Fromme hielt 1642 die Bildung der Kinder über den Staat für ganz wesentlich. So eine Staatsbürgerkunde muss allgemeinbildend sein und nicht politisch aufgeladen wie in der DDR. Was leistet der Staat? Wie funktioniert der Staat? Was tut er für mich? Was kann und muss ich beitragen? Wo finde ich meinen Platz?

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Zur Person:

Knut Kreuch, Jg. 1966, ist seit 2006 Oberbürgermeister der Stadt Gotha. Von 1973 bis 1983 besuchte er die Polytechnische Oberschule in Wechmar, anschließend begann er eine Ausbildung zum Fahrzeugschlosser und war von 1985 bis 1989 Schlosser im Fahrzeugwerk Wechmar. Nach dem Fall der Mauer absolvierte er von 1991 bis 1994 ein Studium als Betriebswirt (VWA) und Verwaltungsbetriebswirt (VWA) und übernahm ein Amt in der Abteilung für Kultur der Stadt Gotha. Von 1994 bis 1998 war er Pressereferent des Gothaer Oberbürgermeisters. 1998 wurde er Bürgermeister in seinem Geburtsort Günthersleben-Wechmar. Am 1. Juli 2006 wurde er im ersten Wahlgang zum Oberbürgermeister der Stadt Gotha gewählt und 2012 und 2018 im Amt bestätigt.

Er ist u. a. Vorsitzender des Stiftungsrates der Stiftung Schloss Friedenstein Gotha, Kreisvorsitzender des Städte- und Gemeindebundes Gotha, 2. Vorsitzender der Gothaer Kulturstiftung, Mitglied des Thüringer Denkmalbeirates und stellvertretender Vorsitzender der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten sowie Präsident des Deutschen Trachtenverbandes.

Als Expertinnen und Experten berichten auf www.ganztagsschulen.org seit 2012 regelmäßig Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, Landrätinnen und Landräte über die – regional vielfältigen und unterschiedlichen – kommunalen Herausforderungen beim Ausbau der Ganztagsangebote. Alle Interviews finden Sie in der Rubrik „Lokale Bildungslandschaften“.

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