Ganztag zwischen Einfamilienhaus und Großstadtgebrumm : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Jan-Christopher Rämer ist Bezirksstadtrat für Bildung, Schule, Kultur und Sport in Berlin-Neukölln, wo 30.000 Schülerinnen und Schüler von der Grundschule bis zur Berufsschule lernen. Der Ganztag mit "Neuköllner Brille" gesehen.
Online-Redaktion: Herr Rämer, wie würden Sie einem Nicht-Berliner Neukölln erklären?
Jan-Christopher Rämer: Heimat. Ich bin hier aufgewachsen und groß geworden. Alle denken immer, dass der Begriff Heimat mit grünen Auen und Bergen zu tun hat. Aber Heimat kann auch die Karl-Marx-Straße mit dem bunten Treiben sein. Und Neukölln ist spannend, weil es so vielfältig ist: Es gibt die Innenstadtlage mit allem, was eine Metropole ausmacht. Im Norden am Hermannplatz ist Neukölln eher an New York City dran. Im Süden am Grauwackeweg wirkt es eher wie Wanne-Eickel – was auch schön ist!
Es gibt kleine dörfliche Strukturen mit Einfamilienhäusern wie in Britz und Buckow, aber gleichzeitig haben wir das absolute Großstadtgebrumme zu bieten. Jeder Bundesbürger könnte sein Glück in Neukölln finden, weil es irgendwo immer eine Ecke gibt, die ihn daran erinnert, wo er herkommt. Für die Politik ist das wiederum eine große Herausforderung, diese Unterschiedlichkeiten ganzheitlich zu betrachten.
Online-Redaktion: Wie viele Ganztagsschulen gibt es in Ihrem Bezirk?
Rämer: Insgesamt gibt es in Neukölln 60 Schulen, davon sind 34 Grundschulen, und es kommen vier Grundstufen an Gemeinschaftsschulen dazu. Es gibt acht Integrierte Sekundarschulen, sechs Gymnasien, vier Privatschulen und drei Oberstufenzentren, Letztere in direkter Trägerschaft des Landes Berlin. Alle anderen Schulen, ausgenommen die Privatschulen, befinden sich in der Schulträgerschaft des Bezirks.
Von den Grundschulen arbeiten 13 als gebundene Ganztagsschulen, viele als offene Ganztagsgrundschulen, und alle Grundschulen verfügen über eine Hortbetreuung bis 18 Uhr. Bei den Integrierten Sekundarschulen arbeiten zwei als gebundene und die anderen sechs als teilgebundene Ganztagsschulen, in unterschiedlichen Mischformen, was die Tagesanzahl oder die Tageslänge betrifft. Diese Schulen werden von knapp 30.000 Schülerinnen und Schülern besucht. Knapp die Hälfte davon gehen auf die Grundschulen. Und wir haben rund 2.600 Lehrerinnen und Lehrer.
Online-Redaktion: Wie schätzen Sie als jemand, der selbst auf eine Neuköllner Schule gegangen ist, die schulische Entwicklung in Neukölln ein?
Rämer: Die Zeiten ändern sich und damit auch die Schülerinnen und Schüler und die Lehrkräfte, und jede Zeit erfordert bestimmte Antworten, die darauf gefunden werden müssen. In manchen Zeiten sind Politik und Verwaltung schneller und besser, um auf die Anforderungen adäquat zu reagieren, als in anderen. Die Wahrnehmung der Relevanz der Frage, was eigentlich eine gute Bildung ausmacht und wie wichtig Bildungsvoraussetzungen für den weiteren Lebensweg der Kinder sind, unterliegt dabei bestimmten Konjunkturzyklen.
Heute ist in der politischen Diskussion die Betrachtungsweise angekommen, ein gutes staatliches Bildungsangebot auch im Hinblick auf die soziale Gerechtigkeit zu definieren. Und ich bin froh, dass wir jetzt an diesem Punkt sind, dass wir sehr deutlich sagen: Egal wo Kinder herkommen, welche Startbedingungen sie hatten und welche Probleme sie manchmal mitbringen, müssen wir versuchen, sie so gut wie möglich auszustatten, damit sie in ein selbstbestimmtes Leben gehen.
Ich bin überzeugt davon, dass bei vielen Kindern – und natürlich habe ich dabei eine Neuköllner Brille auf – das Ganztagsschulangebot dazu einen entscheidenden Beitrag leisten kann. Denn im Ganztag können durch die zusätzlichen Stunden mehr Wissen, Arbeitstechniken und soziale Umgangsformen vermittelt werden. Andersherum formuliert: Wir haben hier in Neukölln viele Schülerinnen und Schüler, für die jede Stunde, die sie nicht zu Hause verbringen, ein Gewinn ist. Weg von Playstation, Handy und Glotze und manchmal auch der Bildungsferne im Elternhaus. Die Ganztagsschule schafft hier mehr Gerechtigkeit.
Online-Redaktion: Sie haben bei Ihrem Amtsantritt klar formuliert, mehr Ganztagsschulen schaffen zu wollen. Wo stehen Sie aktuell?
Rämer: Ich bin jetzt seit eineinhalb Jahren im Amt und habe bei weitem noch nicht erreicht, was ich mir vorstelle. Ich weiß, dass da noch ein langer Weg vor uns liegt. Man kann Schulen aber nicht zwingen, ganztägig zu lehren und zu lernen. Schulkonferenzen und Kollegien müssen sich auch selbst auf den Weg machen. Diejenigen, die sich dafür entscheiden, laufen bei mir offene Türen ein.
Die zweite Herausforderung, die sich dann stellt, folgt in der Umsetzung mit der Senatsverwaltung, denn natürlich verbinden sich mit dem Ganztag personelle und häufig auch bauliche Bedarfe. Dazu müssen Mittel zur Verfügung gestellt werden, und das ist nicht immer auskömmlich. Hier mal ein Beispiel: Für die Silberstein-Schule, eine der letzten Grundschulen, die in den gebundenen Ganztag gegangen ist, haben wir einen Erweiterungsbau mit Mensabetrieb errichtet, der drei Millionen Euro gekostet hat. Jede Schule hat andere bauliche Voraussetzungen, aber diese Größenordnung muss man häufig ansetzen.
Online-Redaktion: Wenn eine Schule bei Ihnen die offene Tür einrennt – wie lange dauert es dann, bis sie als Ganztagsschule starten kann?
Rämer: Wenn wir von Mittelplanung, Bauplanung, Feststellung des Personalbedarfs, Genehmigungsverfahren des Senats und dem eigentlichen Bau bis zum Einzug reden, dann können schon zwei bis vier Jahre vergehen.
Online-Redaktion: Ein Ziel, das Sie zu Beginn Ihrer Amtszeit genannt haben, ist die „bessere soziale Durchmischung“ im Bezirk und in den Schulen. Wie weit sind Sie da gekommen?
Rämer: Wir haben in manchen Grundschulen eine sehr hohe Zahl von fast 95 Prozent Schülerinnen und Schülern, die von der Lernmittelzuzahlung befreit sind. Und es gibt viele Schulen, wo die Quote um die 80 Prozent liegt. Da ist die soziale Mischung noch nicht gesund. Denn wenn wir schon in den Schulen eine Trennung der sozialen Schichten haben, droht die Gefahr, dass sich das auch weiter durch die Gesellschaft zieht. Das sollten wir verhindern, und die Ganztagsschule ist eine Möglichkeit, dazu beizutragen, dass sich der soziale Status nicht vererbt.
Solche Diskussionen wären beispielsweise in Frankreich undenkbar, entstehen hierzulande aber aus der mangelnden Tradition der Ganztagsschule. Dann gibt es auf der anderen Seite sozial schwache Elternhäuser, teilweise auch mit anderem kulturellen Hintergrund, in denen die Frage der Schulpflicht anders gesehen wird. Solche Zusammenhänge muss man im politischen Kontext vorsichtig darstellen, um Menschen nicht zu verprellen sondern möglichst zu überzeugen.
Online-Redaktion: Sie wollen die Schulpflicht „konsequent durchsetzen“. Wie ist das zu verstehen?
Rämer: Wenn vom Elternhaus die Einsicht nicht mitgegeben wird, dass der Schulbesuch und ein Schulabschluss für die Chancen im weiteren Lebensweg entscheidend sind, dann muss die Unterstützung durch den Staat auch erfolgen, indem er die Schulpflicht durchsetzt. Dazu gehört, dass Schulversäumnisanzeigen gestellt werden, und gegebenenfalls auch Ordnungswidrigkeitsanzeigen, bei denen es dann schmerzlich ans Geld geht. Das ist meiner Ansicht nach keine Drangsalierung, sondern dient dem Wohl der Kindes.
Online-Redaktion: Wie vermitteln Sie Ihre Ideen und Vorhaben?
Rämer: Das ist eine große kommunikative Herausforderung, immer wieder die Vorteile nahezubringen und zu diskutieren. Daneben möchte ich konkret vor Ort die Attraktivität bestimmter Schulstandorte durch bauliche Maßnahmen steigern, um Eltern die Wahl einer Schule zu erleichtern und den Lehrkräften die Herausforderungen im Alltag zu erleichtern. Erfreulich ist, dass die Zahlen von Bewerberinnen und Bewerbern auf offene Lehrerstellen in Neukölln steigen.
Ich versuche, sehr viel unterwegs zu sein, weil ich mich als Dezernent in einer politischen Scharnierfunktion zwischen Verwaltung und den Neuköllnerinnen und Neuköllnern verstehe. Und das Meiste bekomme ich halt mit, wenn ich in den Einrichtungen vor Ort bin und dort zuhöre und meine Standpunkte erklären muss. Das hilft auch, die eigene Arbeit zu reflektieren. Was ich von dort als „Hausaufgaben“ mitnehme, muss ich versuchen, in Verwaltungshandeln und Verwaltungssprache umzusetzen. Politik hat unter anderem die Aufgabe, die Übersetzung von Alltagsdeutsch und Verwaltungssprache zu leisten.
Online-Redaktion: Was empfinden Sie als die angenehmen und die weniger angenehmen Aufgaben Ihrer Tätigkeit?
Rämer: Weniger schön sind die exorbitant hohen Arbeitszeiten. Unter der Woche gibt es eine Großzahl von Abendterminen, und das Wochenende beginnt für mich häufig erst am Sonntag um 16 Uhr. Ansonsten erfüllt es mich aber mit unglaublich großer Freude, dass ich dieses Amt bekleiden darf. Niemand zwingt mich dazu, sondern ich darf es machen. Es ist eine Ehre, dass ich in dieser Funktion meinem Heimatbezirk dienen und meine Vorstellungen von einer sozialen und gerechten Gesellschaft einbringen kann.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Gespräch!
Die Videointerviews wurden 2013 zum zehnjährigen Jubiläum des Ganztagsschulprogramms in der Schule in der Köllnischen Heide, einer gebundenen Ganztagsschule, aufgenommen (Film: Marie Patzer, Interviews: Ralf Augsburg).
Kategorien: Forschung - Internationale Entwicklungen
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