Ganztag in Memmingen: „Nicht nur schöne Worte“ : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Kommunen sind Impulsgeber beim Ausbau von Ganztagsangeboten. Für Memmingen sind Oberbürgermeister Jan Rothenbacher pädagogische Gesichtspunkte, qualifizierte Fachkräfte und gute Räumlichkeiten wichtig.
Online-Redaktion: Sie sind seit März 2023 Oberbürgermeister von Memmingen. Wie würden Sie Ihre Stadt beschreiben?
Jan Rothenbacher: Memmingen ist wunderschön, offen und sehr konstruktiv. Ich glaube, die Bezeichnung „Stadt der Freiheitsrechte“ trifft unser Miteinander sehr präzise. Hier herrscht ein fairer, sich wertschätzender Umgang immer unter demokratischen Gesichtspunkten. Was im Übrigen besonders auch für die Politik zutrifft. Wir leben den Diskurs über Themen und natürlich gibt es immer wieder auch intensive Diskussionen, ja manchmal auch Reibereien, wenn es um inhaltliche Fragen geht. Aber sie werden so geführt, dass wir anschließend gemeinsam einen Kaffee trinken können. Die persönliche Wertschätzung wird eben nicht angetastet. Ein wichtiges Zeichen in Zeiten zunehmender Polarisierung. Dieser Umgang miteinander hat hier schon lange Tradition. Er wurde besonders auch durch meine Vorgänger Manfred Schilder, Dr. Ivo Holzinger und Dr. Johannes Bauer geprägt. Daran werden wir anknüpfen. Auch und besonders, wenn es um die Fragen rund um Schule und Bildung geht.
Online-Redaktion: Sie sprechen die Schullandschaft an. Wie stellt sie sich aus Ihrer Sicht dar?
Rothenbacher: Als Oberzentrum ist sie zum einen sehr groß. 19 Schulen befinden sich beispielsweise in städtischer Trägerschaft. Aber sie ist nicht nur von ihrer Größe, sondern auch von ihrer Vielfältigkeit geprägt. Die Eltern, Schülerinnen und Schüler können aus einer bunten Palette wählen. Nicht ohne Stolz kann ich darauf hinweisen, dass wir über den einzigen städtischen Realschulcampus in Bayern verfügen. Auch die Angebote im Bereich der Beruflichen Schulen können sich sehen lassen. Wir sind da gut aufgestellt.
Das alles begleiten wir als Stadt nicht nur mit schönen Worten, sondern lassen es uns auch einiges kosten. Verwiesen sei hier nur auf die Sanierung unserer Gymnasien, des Bernhard-Strigel-Gymnasiums und des Vöhlin-Gymnasiums. Aktuell wird an der Edith-Stein-Grundschule intensiv gearbeitet. Sie wird nach pädagogischen Gesichtspunkten verändert, aber auch die Nachhaltigkeit spielt eine wichtige Rolle. Nach der Sanierung besitzt das Gebäude dann einen modernen Energiestandard, wird mit Hackschnitzeln geheizt und hat eine PV-Anlage auf dem Dach, die einen Großteil des hauseigenen Energiebedarfs decken wird. In Zeiten knapper Haushalte stellt so etwas sicher keine Selbstverständlichkeit dar.
Online-Redaktion: Welche Rolle spielen die Ganztagsschulen in Memmingen?
Rothenbacher: Wie überall kommt dem Ganztag eine große Bedeutung zu. Der pädagogische Wert ist inzwischen völlig unbestritten. Aber wir müssen in diesem Zusammenhang auch immer über die Auswirkung auf die persönliche Situation von Familien und dabei speziell der Frauen sprechen. 80 Prozent möchten in Vollzeit arbeiten, doch möglich ist dies davon noch nicht einmal der Hälfte. Das schränkt die Freiheit der Wahlmöglichkeit und der Selbstverwirklichung ein. Zum anderen aber gehen uns so viele exzellente Arbeitskräfte verloren. Gleichzeitig müssen wir akzeptieren, dass es auch Familien gibt, die ein traditionelles Familienbild befürworten und sich daher für eine Halbtagsschule aussprechen. Wir möchten beides bieten. Aktuell existieren in Memmingen rund 500 Plätze im offenen und gebundenen Ganztag. Hinzu kommen 225 Hortplätze mit Kurz- und Langgruppen.
Online-Redaktion: Was wünschen Eltern in Memmingen mit Blick auf Ganztagsschulen und Ganztagsbetreuung?
Rothenbacher: Wichtig ist ihnen, dass sich ihre Kinder gut aufgehoben fühlen. Dabei genügt es ihnen nicht, dass die Kinder nach dem Motto „sauber, trocken, satt“ untergebracht sind. Sie wünschen sich eine vernünftige Betreuung.
Online-Redaktion: Was verstehen Sie unter vernünftig?
Rothenbacher: Die pädagogischen Gesichtspunkte habe ich bereits erwähnt. Rhythmisierter Unterricht ist das eine, mehr Zeit zum Lernen das andere, die Charakterbildung ein Weiteres. Es reicht eben nicht, einen Raum zum Aufenthalt und eine Person zu haben, die aufpasst,. Eltern, vor allem aber auch die Kinder und Jugendlichen wünschen sich spannende, sie interessierende, motivierende und selbstbestimmte Angebote.
Und sie wünschen sich Ansprechpartnerinnen und -partner sowie ein vertrauensvolles Verhältnis zu ihnen. Es geht um eine Bildungs- und Erziehungspartnerschaft zwischen Schule und Elternhaus. Vielen ist darüber hinaus wichtig, dass die Kinder ihre Hausaufgaben in den Ganztagsschulen erledigen können und dabei von Fachleuten begleitet werden. Dadurch wird viel Druck aus den Familien genommen. Und sie finden mehr gemeinsame Zeit für andere Dinge.
Online-Redaktion: Wo sehen Sie den größten Handlungsbedarf?
Rothenbacher: Natürlich steht auch bei uns die Frage nach ausreichend qualifizierten Fachkräften sowohl bei den Lehrkräften als auch dem gesamten pädagogischen Personal ganz oben auf der Agenda. Aber mit Blick auf den Ganztagsausbau müssen wir uns auch verstärkt damit auseinandersetzen, entsprechende Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen. Es ist illusorisch zu glauben, alle Schulen könnten neu gebaut werden. Aber wir haben umfangreiche Sanierungen angestoßen und schauen dabei, wie man Räume eventuell noch effektiver und vielseitiger nutzen kann, sprich Klassenzimmer auch umfunktioniert. Zugleich suchen wir nach kreativen Lösungen.
Online-Redaktion: Die wie aussehen könnten?
Rothenbacher: Wir schauen uns im Umfeld der Schulen um, sprechen mit potenziellen Partnern – auch übrigens unter dem Gesichtspunkt der Einbindung der Schulen ins soziale Umfeld. Warum sollen wir beispielsweise das Gemeindehaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite nicht für die Ganztagsschule nutzen, wenn dieses zu bestimmten und kalkulierbaren Zeiten leer steht.
Online-Redaktion: Das Staatliche Schulamt hat sich kürzlich mit den Leitungen der Grundschulen zum Thema Offene Ganztagsschulen ausgetauscht. Welche Erkenntnisse haben Sie gewonnen?
Rothenbacher: Wir befinden uns traditionell im engen Austausch mit den Schulen. Sie haben ein großes Interesse, dass alles, und damit meine ich auch die Umsetzung des Rechtsanspruches auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder ab 2026, funktionieren wird. Unsere Schulen wollen das Beste für ihre Kinder. Dabei kennen sie die Bedürfnisse und Wünsche der Eltern. Allerdings sind auch sie noch ein wenig ratlos, wo das erforderliche Personal herkommen soll.
Dazu sage ich klipp und klar: Es ist unsere Aufgabe als Arbeitgeber, dieses Problem mit den Schulen gemeinsam anzugehen. Übrigens sehen wir eine Möglichkeit in der Qualifizierung von Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteigern. Diese können gerne auch aus dem Kreis der Eltern stammen. Im bin überzeugt, da gibt es einige, die mit ihrem Können und ihrer Erfahrung eine Bereicherung für die Ganztagsschulen darstellen können.
Online-Redaktion: Dann blicken Sie dem Rechtsanspruch optimistisch entgegen?
Rothenbacher: Ich begrüße ihn. Ich erwarte aber auch, dass derjenige, der A sagt, auch B sagt. Also auch, dass der Bund uns entsprechend finanziell unterstützt. Klar ist, dass wir die Voraussetzungen schaffen müssen und trotz angespannter Haushaltslage die notwendigen Plätze bereitstellen. Tun wir es nicht, werden wir spätestens dann zur Kasse gebeten und müssen handeln, wenn die ersten juristischen Klagen auf dem Tisch liegen. Soweit wollen wir es in Memmingen nicht kommen lassen. Denn am Ende geht es doch um unsere Kinder und deren Zukunft.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Kategorien: Kooperationen - Lokale Bildungslandschaften
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