Ganztag im „Weiterstädter Modell“: Bildung aus einer Hand : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Kommunen sind längst Impulsgeber beim Ausbau von Ganztagsangeboten. In Weiterstadt sind diese Teil eines Bildungsgesamtplans 2016–2020. Im Interview: Bürgermeister Ralf Möller.
Online-Redaktion: Herr Bürgermeister, wie viele Ganztagsschulen gibt es in Weiterstadt?
Ralf Möller: Wir haben in vier Weiterstädter Stadtteilen eine Grundschule, drei davon sind Ganztagsschulen. Die Schloss-Schule in Gräfenhausen ist mit ihrem gebundenen Ganztag bis 14:30 Uhr sicher am weitesten entwickelt. Die Carl-Ulrich-Schule im Stadtteil Weiterstadt und die Astrid-Lindgren-Schule im Stadtteil Braunshardt machen sich gerade im „Pakt für den Nachmittag‟ neu auf den Weg und werden im Sommer mit dem Ganztag starten. Die Wilhelm-Busch-Schule in Schneppenhausen ist eine sehr kleine, einzügige Grundschule mit zwei gebundene Nachmittage bis 14:30 Uhr und einem freiwilligen Angebot an den anderen drei Tagen. Die Anna-Freud-Schule ist eine Förderschule mit gebundenem Ganztag von Klasse 1 bis 9.
Dann gibt es noch zwei weiterführende Schulen: Die Hessenwaldschule und die Albrecht-Dürer-Schule sind Kooperative Gesamtschulen mit einem offenen Ganztagsangebot in den 5. und 6. Jahrgangsstufen. Wir unterstützen diese beiden Schulen mit zusätzlichen Mitteln aus der Jugendförderung, weil wir der Auffassung sind, dass der Bedarf nach dem Ganztag nicht mit Ende der Grundschulzeit endet, sondern auch für die 5. und 6. Jahrgänge noch besteht.
Online-Redaktion: Wie hat sich dieses Engagement entwickelt?
Möller: In Sachen Vereinbarkeit von Familie und Beruf sind wir als Stadt schon lange engagiert und haben bereits in den 1990er Jahren die Trägerschaft für Betreuungsinitiativen übernommen, wenn Fördervereine das nicht mehr alleine zu schultern vermochten. Inzwischen ist uns als Träger des Nachmittags aber auch der inhaltliche Anspruch der Angebote wichtig. Wir wollen nicht nur die Schülerinnen und Schüler betreuen lassen, damit die Eltern arbeiten können. Wir möchten auch Chancengleichheit befördern. Jedes Kind soll am Tag eine warme Mahlzeit erhalten. Wir wollen den individuellen Lernbedürfnissen der Schülerinnen und Schüler mit qualitativ guten Angeboten, die unter anderem Sprachförderung umfassen, begegnen.
Am Nachmittag unterstützen nicht mehr nur städtische Bedienstete die Kinder in den Lernzeiten, sondern auch Lehrkräfte, die am Vormittag den Stoff unterrichtet haben. Der Ganztag muss mehr sein als die Betreuung einer Gruppe, bei der eine Person zuguckt und nur darauf achtet, dass kein Kind wegläuft. Und dabei geht es nicht darum, dass die Kommune, der Bürgermeister oder die Eltern glücklich sind. Sondern die Schülerinnen und Schüler müssen im Mittelpunkt aller unserer Bemühungen stehen.
Online-Redaktion: Was ist in diesem Prozess der Ausgestaltung der Ganztagsschulen die größte Herausforderung?
Möller: Die unterschiedlichen Menschen zusammenzubringen. Es gibt Lehrerinnen und Lehrer, und es gibt kommunale Bedienstete, die schlechter bezahlt werden. Ich sage ganz offen, dass mir in meiner Zeit als Bürgermeister bewusst geworden ist, dass viele Menschen in den Bildungseinrichtungen für ihre gesellschaftlich wertvolle Arbeit wirklich schlecht entlohnt werden.
Dass aus der Multiprofessionalität echte Teams wachsen, sehe ich als große Herausforderung. Diese Zusammenarbeit läuft nicht immer reibungsfrei. Die eine Profession möchte der anderen mitunter zeigen, „wie es richtig geht‟. Das Potenzial, dass die verschiedenen Berufsgruppen gemeinsam qualitativ gute Arbeit zum Wohle der Schülerinnen und Schüler leisten, ist aber ganz klar vorhanden und zeigt sich ja auch in der Schloss-Schule Gräfenhausen. Es braucht halt Zeit, bis sich das eingespielt hat – das war in Gräfenhausen auch nicht anders.
Online-Redaktion: Sie investieren in Millionenhöhe in Ihre Bildungslandschaft. Was ist Ihr Antrieb?
Möller: Wir stecken in der Tat im Rahmen unseres „Weiterstädter Modells‟ jährlich rund eine Million Euro an freiwilligen Leistungen in den Bildungsbereich, hauptsächlich in 16 Stellen, die wir den Schulen zur Verfügung stellen. Damit unterstützen wir Schulen, die sich auf dem Weg zur Ganztagsschule machen, und geben seit zehn Jahren Betreuungsstunden auch in den Unterricht hinein. 100.000 Euro nehmen wir in die Hand, um die letzte Betreuungsstunde von 16.30 bis 17.30 Uhr zu finanzieren. Demnächst fließen dann über den „Pakt für den Nachmittag‟ auch Landesmittel hinein.
Wir werden dennoch unsere Finanzierung aufrechterhalten, um noch bessere Qualität am Nachmittag zu erreichen. Wichtig ist, die Ganztagsschule kostenfrei zu gestalten, damit keine Schülerinnen und Schüler ausgegrenzt werden – schon gar nicht diejenigen, denen die Teilnahme wirklich guttut.
Schon vor meiner Zeit als Bürgermeister hat Weiterstadt beschlossen, dass wir nicht nur Jugendtreffs unterhalten wollen, zu denen die Jugendlichen kommen sollen, sondern dass wir mit den Bildungs- und Freizeitangeboten an die Orte gehen, an denen wir alle Jugendlichen erreichen. Besonders gilt das für jene, die solche Angebote gut gebrauchen können, die aber von sich aus keine Angebote der Jugendhilfe wahrnehmen würden. Deshalb haben wir Mittel aus der Jugendförderung in die Schulen gegeben.
Was den Nachmittag betrifft, setzen wir auf das Konzept „Bildung aus einer Hand‟. Wir haben die Horte auslaufen lassen und die Schulkindbetreuung an den Schulen angesiedelt, wo die Räumlichkeiten ja ohnehin vorhanden waren und sonst am Nachmittag leer standen. Wir konnten so die Schulräume besser ausnutzen und hatten zugleich mehr Platz für weitere Kindergartengruppen. Es wurde dadurch nichts eingespart, aber die vorhandenen Kapazitäten wurden viel besser genutzt.
Online-Redaktion: Wie sieht Beteiligung in Ihrer Bildungslandschaft aus?
Möller: Die Vernetzung der unterschiedlichen Akteure erfolgt über den Bildungsbeirat. Dort treffen sich 24 Personen: Schulleitungen, Schulelternbeiräte, Kirchenvertreter, Mitarbeiter der Jugendhilfeeinrichtungen, Vereinsmitglieder, Vertreter der Volkshochschule und des Fachbereichs Schule. Auch Schülervertreter sind dabei. Die Idee ist: Nicht jede Schule soll für sich denken, sondern das Innovative wollen wir alle gemeinsam weitergestalten. Dieser Schulterschluss zwischen einer Kommune, die sagt, wir wollen den Ganztag unterstützen, und den Schulen, ja auch den einzelnen Lehrkräften, die zum Beispiel im „Pakt für den Nachmittag“ eine Stunde länger bleiben müssen, ist das Entscheidende.
Online-Redaktion: Ende Februar hat der Bildungsbeirat einen offenen Diskussionsabend „Ganztag in Weiterstadt‟ organisiert. Was war Thema?
Möller: Dort wurde insbesondere die Frage der offenen und der gebundenen Form der Ganztagsschule, also die Organisationsform diskutiert. Eine weitere Frage war: Soll der Schultag um 14.30 Uhr oder um 17.30 Uhr enden? Unsere Position ist, dass die Ganztagsschule bis 17.30 Uhr nicht verpflichtend sein sollte, aber bis 14.30 Uhr sehr wohl.
Online-Redaktion: Sie sind nicht nur Bürgermeister, sondern auch Vater dreier Kinder...
Möller: (lacht) Das ist richtig, aber mit 26, 22 und 20 Jahren sind die schon aus der Schule raus. Ich kann sagen: Die Schulzeit, wie ich sie selbst – ich bin 49 Jahre alt –, wie ich sie bei meinen Kindern wahrgenommen habe und wie ich sie heute wahrnehme – das sind drei unterschiedliche Welten. Zu meiner Zeit gab es gar nichts. Bei meinen Kindern gab es eine Nachmittagsbetreuung, in der zumindest auch schon mal gebastelt und Fußball gespielt wurde. Und heute sind wir ja noch einen guten Schritt weiter in dem Bestreben, Bildung und Betreuung qualitativ hochwertig zu verbinden.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Als Expertinnen und Experten berichten auf www.ganztagsschulen.org seit 2012 regelmäßig auch Bürgermeisterinnen und Bürgermeister über die – regional vielfältigen und unterschiedlichen – kommunalen Herausforderungen beim Ausbau der Ganztagsangebote. Alle Interviews finden Sie in der Rubrik „Lokale Bildungslandschaften“: https://www.ganztagsschulen.org/de/253.php.
Kategorien: Forschung - Internationale Entwicklungen
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