Ganztag im Lahn-Dill-Kreis: „Die Strukturen sind richtig gut“ : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
2018 hat der Lahn-Dill-Kreis seinen ersten Bildungsbericht vorgelegt. Über die Bedeutung ganztägiger Bildung im Konzept des Landkreises sprechen Heinz Schreiber, Simone Vetter und Annette Sinkel im Interview.
Zum Gespräch empfängt Heinz Schreiber die Online-Redaktion in seinem Büro in Wetzlar nicht alleine. „Wir arbeiten hier im Team“, betont der Schuldezernent des Lahn-Dill-Kreises. Zu diesem Team gehören Simone Vetter, die Leiterin der Schulabteilung und des Medienzentrums Lahn-Dill, und Annette Sinkel, die Leiterin des Fachdienstes Schulservice. Alle drei waren auch am ersten Bildungsbericht des Lahn-Dill-Kreises beteiligt, der seit Januar 2018 vorliegt.
Online-Redaktion: Herr Schreiber, wie sieht die Schullandschaft im Lahn-Dill-Kreis aus?
Heinz Schreiber: Unser Landkreis hat 253.000 Einwohner. Es gibt 92 Schulen, darunter fünf Berufsschulen, mit aktuell insgesamt knapp 34.000 Schülerinnen und Schülern, davon circa 25.000 in den allgemeinbildenden Schulen. Im Jahr 2004 waren es noch 41.000. Im Moment sehen wir, dass sich die Schülerzahlen stabilisieren, weil sich auch die Geburtenzahlen leicht ansteigend eingependelt haben.
Online-Redaktion: Wie hat sich der Ausbau der Ganztagsangebote entwickelt?
Simone Vetter: 2008 gab es 20 Sek I-Schulen mit ganztägigen Angeboten von damals insgesamt 92 allgemeinbildenden Schulen, was 22 Prozent entspricht. Nun im Jahr 2019 sind es 28 Grundschulen und Sek I-Schulen plus 14 Grundschulen im Pakt für den Nachmittag, insgesamt also 42 Schulen mit Ganztagsangeboten von heute insgesamt 86 allgemeinbildenden Schulen. Das sind 49 Prozent. Also etwa die Hälfte unserer Schulen hat ein Ganztagsangebot in irgendeiner Form.
Heinz Schreiber: Ganztag heißt in Hessen nicht, dass alle Schülerinnen und Schüler den ganzen Tag in der Schule sind. Es gibt drei Ganztagsprofile und eben den Pakt für den Nachmittag. Dahinter stehen unterschiedliche Angebote und Verbindlichkeiten. Nur das Profil 3 entspricht einer gebundenen Ganztagsschule mit verpflichtender Teilnahme. Das ist bei all unseren Förderschulen der Fall. Im Pakt für den Nachmittag an den Grundschulen und Grundstufen der Förderschulen zum Beispiel dauert der Schulvormittag bis 14.30 Uhr, und es folgt dann ein freiwilliges Bildungs-und Betreuungsangebot in unserer Verantwortung als Schulträger bis 17 Uhr.
Simone Vetter: Es zeigt sich, dass der Einstieg mit Profil 1 gut zum Profil 2 und dann zum Profil 3 führen kann. Dabei ist immer eine Entwicklung notwendig, die alle mitnimmt. Die Qualität muss stimmen, es muss kommuniziert und evaluiert werden.
Online-Redaktion: Mit dem „Pakt für den Nachmittag“ begann 2015 in Hessen eine neue Stufe des Ausbaus ganztägiger Angebote für die Schulträger...
Annette Sinkel: Als wir damals begannen, für den Pakt für den Nachmittag zu werben, gab es anfangs noch viel Zurückhaltung. Aber wenn eine Grundschule den Mut hat, in den Pakt für den Nachmittag zu gehen, dann stellt sich der Erfolg von selbst ein. Bei vielen dieser Grundschulen sind die Teilnehmerzahlen schon im zweiten Jahr angestiegen, weil das pädagogische Konzept und die Qualität der Angebote die Eltern und ihre Kinder überzeugt haben. Drei Viertel unserer Grundschulen im Pakt für den Nachmittag haben bereits Teilnehmerzahlen über den vom Land avisierten 60 Prozent. Ab dieser Teilnehmerzahl gibt es zusätzliche Landesmittel.
Heinz Schreiber: Dass es in den 1980er Jahren in Hessen bereits viele Betreuungsangebote nach Schulschluss in Elterninitiativen gab, ist übrigens noch heute sichtbar. Es gibt aktuell noch 33 Eltern- beziehungsweise Fördervereine, die die Trägerschaft der Ganztagsschule übernommen haben. Diese Trägervielfalt im Landkreis macht es manchmal schwerer in der Zusammenarbeit, weil es da auch häufiger personelle Wechsel gibt. Aber wir wollten diese gewachsenen Strukturen beibehalten und nichts Neues draufpfropfen. Und ich bin stolz darauf, dass wir das so erhalten haben. Wir unterstützen die Fördervereine auch administrativ.
Online-Redaktion: Was war Ihre Motivation, zum Schuljahr 2017/2018 dem Pakt für den Nachmittag beizutreten?
Simone Vetter: Im Grundschulbereich war die Ganztagsnachfrage, wie Annette Sinkel eben gesagt hat, noch sehr zögerlich. Nur acht von über 60 Grundschulen hatten ganztägige Angebote, die von Fördervereinen durchgeführt wurden. Die liefen parallel zur Schule, Vormittag und Nachmittag waren sozusagen zwei verschiedene Veranstaltungen. Es gab kein gemeinsames pädagogisches Konzept und teilweise sogar Konkurrenzveranstaltungen. Das Ziel des Paktes war aus unserer Sicht sehr vernünftig: Informelles Lernen am Nachmittag kann auch mit Lerninhalten formaler Art verbunden werden. Wir sind hier alle von dem Konzept überzeugt.
An manchen Standorten ist allerdings nicht ganz einfach, die Eltern zu überzeugen, sich von den ganz flexiblen Ganztagsangeboten der Profile 1 und 2 zu verabschieden und eine bestimmte Form der Verpflichtung einzugehen, das Kind bis mindestens 14.30 Uhr verbindlich anzumelden. Aber wenn man beispielsweise ein Theaterstück einüben oder eine Sportart mit einem bestimmten Ziel betreiben will, dann braucht es Kontinuität.
Annette Sinkel: Toll ist der ganzheitliche Blick, den dieser Ganztag ermöglicht. Das haben einige Schulen erkannt und setzen es sehr gut um. In einer Grundschule zum Beispiel gehen die Betreuungskräfte des Nachmittags morgens mit in den Unterricht. So können sie die Schülerinnen und Schüler wirklich den ganzen Tag zu erleben und zusammen mit den Lehrkräften Stärken und Schwächen schneller erkennen. Dem Schulleiter war sehr daran gelegen, dass sich Vor- und Nachmittagskonzepte verbinden. Und das ermöglicht der Pakt.
Online-Redaktion: Gibt es ein Stadt-Land-Gefälle in Sachen Ganztag?
Heinz Schreiber: Das nehme ich nicht wahr. Ein prägnantes Beispiel: Es gibt eine Grundschule, die ländlich liegt, mit vielen kirchlichen Einrichtungen in der Nähe. Wir waren der Meinung, dass der Bedarf nach Ganztagsplätzen dort nicht ansteigen würde. Aber siehe da – vor zwei Jahren hat sich das geändert. Die Nachfrage hat sich verdoppelt, und jetzt ist die Rede davon, dass die Schule sogar einen Anbau benötigt.
Online-Redaktion: Ein wiederkehrendes Thema ist die Raumsituation. Wie ist der Lahn-Dill-Kreis da aufgestellt?
Heinz Schreiber: Bis vor fünf Jahren war die räumliche Situation in den Ganztagsgrundschulen noch sehr unterschiedlich. An manchen Standorten lagen die Räumlichkeiten für den Nachmittag sogar außerhalb der Schule. Da wurde zum Beispiel auf Jugendhäuser und Gemeindesäle zurückgegriffen.
Vor fünf Jahren haben wir angefangen, die Ganztagsangebote in die Schulen zu verlagern. Da haben wir dann festgestellt, dass Bedarf für extra Räumlichkeiten für die Ganztagsangebote besteht. Wir konnten den Bedarf aber nicht stemmen, wenn wir die Klassenzimmer gänzlich außen vorließen. Wir sehen umgekehrt allerdings auch, dass punktuell nicht nur räumlich eine Trennung zwischen Schulräumen und Ganztagsräumen nötig ist. Da müssen wir Zwischenlösungen finden.
Wir haben seit 2009 rund 300 Millionen Euro in Schulbauten investiert, auch in die Erweiterungen und Anbauten von Ganztagsschulen. Mit Unterstützung des IZBB-Programms (2003 bis 2009; d. Red.) sind seit 2006/2007 insgesamt 17 Mensen erstanden. Genau lässt sich die ganztagsspezifische Bausumme nicht nennen, aber ich denke, dass wir da schon von 50 Millionen Euro reden. Dazu kommt noch viel Geld, das wir in die Ausstattung mit digitalen Medien und Bibliotheken gesteckt haben.
Trotz all dieser Investitionen kommen wir räumlich derzeit an unsere Grenzen. Und nicht nur wegen der steigenden Schülerzahlen. In den Ganztagsschulen arbeiten jetzt auch Schulsozialarbeiter, die Schulsozialpädagogen vom Land und die Integrationshelfer. Mittlerweile benötigt auch die Arbeitsagentur einen Raum, in dem sie einmal die Woche Berufsorientierung anbieten will. Es gibt viele zusätzliche Kräfte, die sich zum eigentlichen Lehrpersonal dazugesellen und dann eben auch Räume benötigen. Da können wir bestehende Räumlichkeiten verteilen – aber irgendwann kommen wir an den Punkt, wo die Schule einen Anbau benötigt.
Simone Vetter: Wir versuchen, frühzeitig in die Bauplanung mit eingebunden zu werden und auch die Schulen einzubinden. In den letzten Jahren wird viel flexibler gebaut als früher, mit Lernlandschaften, Bibliotheken und Gruppenräumen. Denn für Unterricht in Kleingruppen, in Tablet-Klassen oder für die individuelle Förderung ist der starre Klassenraumbezug nicht mehr optimal. Bei der Erarbeitung von Medienbildungskonzepten sind wir auch einbezogen.
Online-Redaktion: Wo ist Ihr Engagement als Landkreis noch gefordert?
Simone Vetter: Die Überzeugungsarbeit bei Kollegien und den Eltern gerade vor dem Einstieg in den Pakt für den Nachmittag ist weiter ein Thema. Rund 50 Grundschulen sind dem Pakt bisher noch nicht beigetreten. Der Landkreis ist sehr groß und ländlich, und da gibt es sehr viele ganz unterschiedliche Strukturen und Mentalitäten. Die müssen wir berücksichtigen, wenn wir nicht gegen die Wand fahren wollen. Das ist manchmal anstrengend, aber das versuchen wir. Wir haben erkannt, dass wir entlang dieser unterschiedlichen, vielfältigen Bedarfe unsere Unterstützungsstrukturen etablieren und fachlich unterstützen müssen.
Zum Beispiel haben wir in einem Fachdienst alles rund um Medien und EDV gebündelt. Wir haben die Schulmediotheken miteinander vernetzt, die wir jetzt zentral bedienen. Auf dem Weg zur Digitalisierung ist das ein Pfund für selbstorganisiertes Lernen mit Medien. Da sind wir gut aufgestellt. Und der Ganztag bleibt ja nicht von der Digitalisierung unberührt. Unsere vielen gezielten Beratungs- und Fortbildungsangebote, die wir bedarfsgerecht auf allen Ebenen anbieten, werden sehr gut angenommen.
Online-Redaktion: Engagiert sich der Landkreis bei der Etablierung einer lokalen Bildungslandschaft?
Simone Vetter: Wir wollen über die Schule hinausblicken und die Bildungsbiografien aller Bürgerinnen und Bürger über das ganze Leben in den Blick nehmen. Entlang dieser Bildungsbiografien berücksichtigen wir verschiedene Aspekte. Ein Ergebnis ist die Einrichtung einer Arbeitsgruppe, die sich darum kümmert, wie schulische und außerschulische Bildung gut zusammengeführt werden können. Wir wollen, wo sie noch vorhanden ist, Skepsis bei Sportvereinen, Musikvereinen und der Freiwilligen Feuerwehr abbauen. Die Befürchtung, dass ihnen durch den Ganztag die Kinder und Jugendlichen am Nachmittag abhandenkommen, besteht. In unserer Arbeitsgruppe sitzen nun auch die Jugendhilfe, die Jugendförderung und das Staatliche Schulamt, und gemeinsam schauen alle diese Partner, wie man Kooperationsprojekte am besten hinkriegt.
Heinz Schreiber: Noch etwas ist wichtig: Wir haben den Bildungsbegriff deutlich erweitert. Früher hieß es: Bildung ist Schule. Dann hieß es: Bildung ist auch Kita. Jetzt sagen wir: Wenn sich ein Sportverein, ein Gesangsverein, ein Kulturverein engagieren, ist das Bildung. Und wir überlegen, wie wir die Schule mit den Aktivitäten, die es vor Ort gibt, zusammenbringen. Auf Landesebene läuft beispielsweise das Programm „Sportverein und Schule“. Wir unterstützen unsere Musikschulen und unsere Kulturvereine, sich stärker in die Ganztagsangebote einzubringen. Und ich kann nur sagen: Die Strukturen, die wir dazu in den letzten fünf Jahren aufgebaut haben, die sind richtig gut.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Simone Vetter ist seit Ende 2014 Leiterin der Schulabteilung des Lahn-Dill-Kreises und seit 2004 des zugehörigen Fachdienstes Medienservice.
In der Schulabteilung werden in zwei Stabsbereichen (Schulentwicklungsplanung und Bildungslandschaft Lahn-Dill) sowie zwei Fachdiensten (Schulservice und Medienservice) alle nicht-baulichen Schulträgeraufgaben (Schulverwaltungsaufgaben) und ein professionelles datengestütztes Bildungsmanagement für den Lahn-Dill-Kreis wahrgenommen.
Annette Sinkel ist seit 2016 Leiterin des Fachdienstes Schulservice der Schulabteilung, zu dessen Aufgabenschwerpunkten der Bereich Betreuungs- und Ganztagsangebote der Schulen gehört.
Kategorien: Kooperationen - Kulturelle Bildung
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