Ganztag am Rauhen Kulm: „Kurze Beine, kurze Wege“ : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Bürgermeister Albert Nickl brennt für die Kommunalpolitik und hat seine Gemeinde in der Oberpfalz schon einmal als „Sehnsuchtsort“ bezeichnet. Seit 2018 hat Speinshart nun eine offene Ganztagsgrundschule.
Online-Redaktion: Herr Nickl, Sie sind seit 22 Jahren Bürgermeister von Speinshart und schon zuvor Gemeinderatsmitglied gewesen. Was reizt Sie an der Kommunalpolitik?
Albert Nickl: Kommunalpolitik ist der schönste Bereich der Politik. Da sieht man, wie Ideen hautnah umgesetzt werden und die Bevölkerung das honoriert und annimmt. Die Arbeit als Bürgermeister ist vielseitig, und man erlebt jeden Tag neue Dinge. Und einmal in der Woche ist es meine Aufgabe, meinen Enkel zum Kindergarten zu bringen.
Online-Redaktion: Wie würden Sie Ihre Gemeinde beschreiben?
Nickl: Speinshart ist eine typisch ländlich geprägte Gemeinde mit 1.102 Einwohnern und Einwohnerinnen, verteilt auf zehn Dörfer und drei Weiler. Bis Mitte des letzten Jahrhunderts haben hier alle von der Landwirtschaft gelebt. Das hat sich natürlich erheblich verändert. Nun ist der Großteil der Menschen in Betrieben der Umgebung beschäftigt. In der Gemeinde selbst gibt es wenig Gewerbe, die meisten Arbeitnehmer pendeln, teilweise bis Weiden, Bayreuth oder Regensburg. Arbeitslosigkeit haben wir seit Jahren so gut wie keine, und in den letzten Jahren hat sich das Dorf unheimlich schmuck rausgeputzt.
Was uns auch auszeichnet, ist ein vielfältiges Kulturangebot und das unwahrscheinlich stark ausgeprägte ehrenamtliche Engagement. Viele Vereine übernehmen Aufgaben des Gemeinwesens, und das prägt natürlich. Wenn man etwas selber macht, ist das mehr wert, als wenn man damit eine Firma beauftragt. Und unser Juwel ist unsere wunderbare Klosteranlage mit einem historischen Klosterdorf, das sicherlich seinesgleichen sucht.
Online-Redaktion: Wie sieht Ihre Schullandschaft aus?
Nickl: Wir sind zusammengeschlossen im Schulverband Am Rauhen Kulm. Dazu gehören die Stadt Neustadt am Kulm, die Gemeinde Trabitz und Speinshart. Bis 2010 gab es eine durchgehende Schule von Klasse 1 bis 9. Aber hier auf dem Land sind die Kinder nicht weniger gescheit als in der Stadt, und es gab immer mehr, die nach der 4. Klasse auf das Gymnasium gewechselt sind. Und auch im ländlichen Raum ist der Geburtenrückgang spürbar. Beide Faktoren haben dazu geführt, dass die durchgehende Schule so nicht weitergeführt werden konnte. 2010 kam dann der große Schnitt, und die auf drei Gebäude in den drei Gemeinden verteilte Schule wurde auf ein Haus reduziert.
Nun ist die Grundschule vor Ort hier in Speinshart. Dort lernen derzeit 118 Schülerinnen und Schüler, womit die Zukunft der Schule gesichert ist und wir weiter den Grundsatz „Kurze Beine, kurze Wege“ umsetzen können. Es ist eine sehr familiäre Schule, an der die Eltern viele Möglichkeiten haben, sich einzubringen. Und im pädagogischen Bereich kann sich unsere Schule sehen lassen. Da sind wir sehr stolz.
Online-Redaktion: Mit diesem Jahr ist Ihre Grundschule als offene Ganztagsschule gestartet. Gab es vorher schon andere Arten der nachmittäglichen Betreuung oder pädagogische Angebote?
Nickl: An der Schule gab es vor dem Ganztag keine Angebote. In jeder Gemeinde gibt es einen Kindergarten, und diese haben früher den Bedarf mit abgedeckt. Zusätzlich zu der Betreuung der Kindergartenkinder haben sie am Nachmittag auch Grundschüler aufgenommen. Das haben die Eltern in den letzten Jahren zunehmend genutzt, und die Kindergärten haben das auch sicherlich gut gemacht. Uns als Gemeinde hat das aber die Notwendigkeit einer Ganztagsschule vor Augen geführt.
Ich bin der Überzeugung, dass es für die Schülerinnen und Schüler pädagogisch besser ist, die Angebote der Schule zu nutzen, und habe deshalb schon seit Jahren ein bisschen neidisch auf eine Nachbargemeinde, in der es bereits die offene Ganztagsgrundschule gab, geschaut. Der Schulverband und ich persönlich sind überzeugt, dass der offene Ganztag auf Dauer zu einer Verbesserung der Schulqualität beiträgt, und eine Schule langfristig nur eine Chance besitzt, wenn sie ein Ganztagsangebot anbietet.
Online-Redaktion: Wie haben Sie das Projekt offener Ganztag auf den Weg gebracht?
Nickl: Nach Jahren der Vorüberlegungen starteten die intensiven Planungen 2016. Es müssen natürlich bestimmte Bedingungen erfüllt werden: Die Räumlichkeiten müssen da sein, und es braucht entsprechende Anmeldezahlen. Wenn man nicht die entsprechenden Anmeldezahlen hat, braucht man den Antrag bei der Bezirksregierung gar nicht erst stellen. Nach der Diskussion im Gemeinderat und im Schulverband war die Einbindung der Eltern daher natürlich der entscheidende Punkt. Wir haben eine Elternversammlung veranstaltet, um über unseren Plan zu informieren und den Bedarf zu ermitteln. Die erste Resonanz bei der Versammlung war sehr gut. Und bei der dann folgenden Befragung gab es genügend Absichtserklärungen für die Anmeldung in der offenen Ganztagsschule.
Wir haben bei den dann notwendigen baulichen Veränderungen einen günstigen Moment abgewartet und gute Fördermöglichkeiten genutzt. Es gibt einen älteren und einen jüngeren Gebäudeteil des Schulgebäudes. Im älteren Teil befanden sich früher im Obergeschoss Wohnungen, die wir zu Räumen für den offenen Ganztag umgebaut haben. Zusammen mit der energetischen Sanierung und Modernisierung der Schule hat das Projekt knapp 1,5 Millionen Euro gekostet.
Online-Redaktion: Wie ist die Ganztagsschule angelaufen?
Nickl: Die Akzeptanz ist sehr gut, noch besser, als wir ursprünglich gedacht haben. Die Anmeldezahlen liegen über den durch die Befragung erwarteten Zahlen. Die neuen Räume sind toll geworden. Eltern haben sich die Räumlichkeiten angesehen und waren so begeistert, dass sie ihre Kinder spontan gleich noch angemeldet haben. Momentan sind 29 Schülerinnen und Schüler in der Langgruppe bis 16 Uhr und 14 in der Kurzgruppe bis 14 Uhr. Das Angebot ist für die Eltern kostenlos, während im Kindergarten Beiträge fällig wurden. Für Schülerinnen und Schüler in der Langgruppe ist ein Mittagessen verpflichtend, für die Kurzgruppe ist es freiwillig.
Online-Redaktion: Wie wird das Mittagessen organisiert?
Nickl: Das liefert eine Firma aus Grafenwöhr. Dort sind sie auf Essen für Ganztagsschulen spezialisiert und beliefern schon mehrere Ganztagsschulen in der Region. Gegessen wird in einer kleinen Mensa, und der Schulverband hat eine Fachkraft angestellt, die das Essen verteilt und sich um die Schüler kümmert. Wir sind mit dem Essen sehr zufrieden und haben bisher keine Beschwerden bekommen.
Online-Redaktion: Welches Personal ist am Nachmittag in der Ganztagsschule beschäftigt?
Nickl: Wir haben einen Partner, die „Gesellschaft zur Förderung beruflicher und sozialer Integration“, kurz: gfi, die auch schon in vielen Ganztagsschulen engagiert ist. In der Schule sind drei Mitarbeiterinnen beschäftigt, pädagogisches und nichtpädagogisches Personal mit unterschiedlicher Stundenzahl. Einen bestimmten Betrag für deren Personal schießt die Gemeinde zu, ansonsten wird es vom Freistaat Bayern bezahlt.
Online-Redaktion: Welches Potenzial besitzt Ihrer Meinung nach die Ganztagsschule?
Nickl: Sie ist für die Kinder ganz wichtig, besonders für leistungsschwächere und für diejenigen, bei denen im Elternhaus keine Betreuung gewährleistet werden kann, wenn jemand alleinerziehend ist oder Mutter und Vater beide berufstätig sind. Zu Hause fehlen dann am Nachmittag manchmal die für die Kinder so wichtigen Bezugspersonen. Hier hat sich gesellschaftlich was verändert, und diesen Veränderungen muss man Rechnung tragen. Dieser Wandel darf nicht auf Kosten der Kinder gehen. Da geht es um Bildungsgerechtigkeit und Chancengerechtigkeit. Den Eltern ist zum Beispiel die Erledigung der Hausaufgaben sehr wichtig.
Wir dürfen aber nicht vergessen: Kinder sind Kinder, die möchten vor allem das Gemeinschaftserlebnis nicht missen, das sie zu Hause so nicht erleben können. Da muss man die richtige Balance zwischen einem qualitativ hochwertigen pädagogischen Angebot und Spiel und Spaß finden. Da kommt es uns zugute, dass direkt neben der Schule ein riesiger Spielplatz liegt.
Online-Redaktion: Wie fällt Ihr erstes Fazit seit dem Start der Ganztagsschule im September aus?
Nickl: Die Ganztagsschule ist zum Selbstläufer geworden. Ich sag immer: Wenn es den Schülerinnen und Schülern gefällt, wenn die Angebote gut sind, dann werden automatisch weitere Kinder kommen. Die sorgen schon dafür, dass die Eltern sie anmelden. Langfristig denke ich, dass es irgendwann in eine gebundene Ganztagsschule münden wird.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Als Expertinnen und Experten berichten auf www.ganztagsschulen.org seit 2012 regelmäßig auch Bürgermeisterinnen und Bürgermeister über die – regional vielfältigen und unterschiedlichen – kommunalen Herausforderungen beim Ausbau der Ganztagsangebote. Alle Interviews finden Sie in der Rubrik „Lokale Bildungslandschaften“.
Kategorien: Ganztag vor Ort - Partizipation
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