Friedrichshain-Kreuzberg investiert gezielt in Ganztagsgrundschulen : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Kommunen sind Impulsgeber beim Ausbau von Ganztagsangeboten. Heute im Interview: Bezirksstadtrat Dr. Peter Beckers, Berlin Friedrichshain-Kreuzberg.

Online-Redaktion: Welche Bedeutung messen Sie Bildung und Betreuung in Berlin Friedrichshain-Kreuzberg zu?
 

Portraitfoto Dr. Beckers
Bezirksstadtrat Dr. Peter Beckers © Dr. Beckers

Dr. Peter Beckers: Bildung ist der Schlüssel zu einem selbstbestimmten Leben. Ohne Bildung wird es nicht möglich sein, die eigenen Wünsche erfüllen zu können, und was droht, ist die lebenslange Abhängigkeit von anderen, die einem den Platz im Leben zuweisen. Leider gibt es auch in Friedrichshain-Kreuzberg noch Eltern, die diesen Zusammenhang nicht erkennen oder nicht in der Lage sind, ihren Kindern einen guten Start ins Leben durch das Wecken von Neugier und Unterstützung beim Lernen zu ermöglichen. Hier sind insbesondere die Ganztagsgrundschulen mit ihren vielen Betreuungsangeboten gefragt, denn sie haben den großen Vorteil, dass sie die Vermittlung von Bildung und von sozialen Fähigkeiten, den so genannten soft skills, fördern. Dieses Zusammenspiel ist angesichts der Komplexität unserer Welt der zentrale Schlüssel für Innovationen und den wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes.
 
Online-Redaktion: Wie sehen die Angebote im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg aus, und gibt es Ausbaubedarf?
 
Beckers: Der Bezirk verfügt über insgesamt 31 öffentliche Grundschulen, von denen der überwiegende Teil offene Ganztagsschulen sind. „Offen" bedeutet, dass je nach Neigung und Zeit bis maximal 18 Uhr individuelle Angebote gewählt werden können oder darauf verzichtet wird. Die Teilnahme an den Angeboten ist einkommensabhängig kostenpflichtig und an den elterlichen Nachweis eines Betreuungsbedarfs gebunden, wie z.B. wegen Berufstätigkeit oder aus besonderen familiären, sozialen oder pädagogischen Gründen.
 
Sieben Schulen bieten ein verbindliches Ganztagsangebot für alle ihre Schülerinnen und Schüler und zwei für einen Teil ihrer Schülerinnen und Schüler. Der Unterschied zu den offenen Ganztagsgrundschulen besteht hauptsächlich in der Rhythmisierung von Unterricht und Freizeitangeboten, was eine gezielte Förderung der Kinder erleichtert. Auch ist der Schulbesuch der gebundenen Ganztagsgrundschule bis 16 Uhr kostenlos.
 
In die Angebote der Ganztagsgrundschulen wurde in den vergangenen Jahren sehr viel Geld investiert. Neben den Klassenräumen mussten auch Aufenthalts- und Freizeitbereiche geschaffen und ausgestattet werden. Allerdings besteht noch Nachbesserungsbedarf beim so genannten Berliner Musterraumprogramm. Das Programm ist eine Norm, mit der die finanzielle Zuweisung des Senats an den Bezirk mit der Formel Kostensatz mal Fläche mal Zahl der Kinder festgelegt wird. Da die Norm nicht auf die jeweiligen baulichen Bedingungen der Schule und individuelle Förderung der Kinder eingehen kann, ist der Bezirk ständig in der Not, finanzielle Zuschüsse an die Schulen zu gewähren und in anderen Bereichen des Bezirkshaushalts zu kürzen, um für die Kinder entsprechende räumliche Bedingungen anbieten zu können. Das ist aber auf Dauer für einen Berliner Bezirk, der keine eigenen Einnahmen generieren darf, nicht durchzuhalten.
 
Online-Redaktion: Welche Bedeutung haben Ganztagsangebote für die Eltern?
 
Beckers: Die Eltern wissen das Angebot der Ganztagsgrundschulen in Berlin zu schätzen. Gerade berufstätige, vor allem auch alleinerziehende Eltern freuen sich über die guten Angebote wie die Schularbeitenhilfe oder neigungsorientierte Arbeitsgemeinschaften/Projekte zu gesunder Ernährung, Medien, Film, Theater, Musik, Schulband, Zeichnen, Malen, Schreibwerkstatt, Computer, Tierschutz, Konfliktlotsen, Fußball, Schwimm- und Fahrrad-AG, um nur einige Angebotsbeispiele der Schulen zu nennen. Berlin ist da richtig gut aufgestellt und es gibt fast nichts, was es nicht gibt. Als früherer Niedersachse denke ich, wie gut es Berliner Kinder hier eigentlich haben können und dass manche Flächenländer sich da heute immer noch recht schwer tun.
 
Neben den vielen Möglichkeiten, je nach Neigung oder Begeisterung etwas Sinnvolles mit seiner Zeit anzufangen, finde ich es auch richtig klasse, dass die Schularbeiten gemeinsam und mit individueller Hilfe von Fachpersonal erledigt werden. Nach der Schule ist dann auch wirklich nichts mehr für den nächsten Schultag zu tun.
 
Online-Redaktion: Wo hapert es vielleicht noch?
 

Beckers: Leider werden die Angebote der gebundenen Ganztagsgrundschulen noch viel zu zögerlich von Eltern angenommen, und es wird eher auf die offene Ganztagsschule zurückgegriffen. Und das, obwohl sie letztlich für die Eltern sogar Mehrkosten verursacht, wenn die nachmittäglichen Angebote genutzt werden. Eigentlich kaum zu verstehen. Einwanderereltern geben als Gründe oftmals familiäre Verpflichtungen an, wenn z.B. die Kinder Betreuungsaufgaben gegenüber Familienangehörigen wie Eltern oder Großeltern wahrnehmen und sie bei Arztbesuchen oder ähnliches dolmetschen. Auch ist es nicht selten, dass andere Angebote von Eltern gewählt werden, die es aus ihrer Sicht in dieser Qualität nicht an Ganztagsschulen gibt. Manche Eltern beschleicht ein großes Unbehangen, wenn ihre Kinder die ganze Woche über erst nach 16 Uhr wieder zu Hause sind.
 
Die gebundenen Ganztagsgrundschulen haben diese Einwände aufgegriffen. Sie sind bemüht, ihre bereits jetzt sehr guten nachmittäglichen Angebote noch weiter zu verbessern. Sie versuchen die Eltern bereits in der Zeit des Kitabesuchs ihrer Kinder von den vielen Vorteilen der Ganztagsschulen zu überzeugen. Ich bin überzeugt, dass dieses hohe Engagement der Lehrerinnen und Lehrer bald Früchte tragen wird.
 
Online-Redaktion: Welche Bedeutung haben Lokale Bildungslandschaften für Berlin?
 
Beckers: Die skizzierten Angebote der Ganztagsgrundschulen wären kaum möglich, wenn es nicht eine Vielzahl von Kooperationen der Schulen gäbe. Die Zusammenarbeit von Schule und Jugend wurde kürzlich sogar Berlinweit in jedem der zwölf Bezirke institutionalisiert und mit Personal- und Sachmitteln ausgestattet. Es ist sinnvoll, weil es eine unendliche Anzahl von Bezugspunkten aus der Sicht des Kindes zwischen diesen Fachbereichen gibt. Die Kinder bekommen von dieser administrativen Seite nichts mit, doch werden sie die Vorteile genießen und nutzen können, die aus dieser fachübergreifenden Zusammenarbeit entstehen. Viele Eltern, darunter auch viele Eltern aus türkischen Einwandererfamilien, engagieren sich in der Schule.
 
Ich kenne keine Grundschule im Bezirk, die nicht jetzt schon Kooperationen mit freien Trägern der Jugendhilfe aufgebaut hat, die das nachmittägliche Angebot unterstützen und erweitern. Das frühe Heranführen an die Berufswelt wird, naturgemäß eher in den oberen Klassen unserer sechsjährigen Grundschule und in der Sekundarstufe I, durch die Zusammenarbeit mit Unternehmen ermöglicht. Das unterstützen auch die Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen sowie die Handwerkskammer.
 
Allerdings erfordern solche Managementaufgaben auch zusätzliches zeitliches Engagement der Lehrkräfte, was in ständigem Konflikt mit dem Schulauftrag steht, die gestellten Herausforderungen eines jeden einzelnen Schultages immer wieder neu für die Zukunft des Kindes erfolgreich zu bewältigen. Da die Ressource Lehrpersonal hierfür keineswegs üppig ausgestattet wird, ist das bereits eine sehr anspruchsvolle Aufgabe. Auch deshalb erfreut es mich immer wieder aufs Neue zu erleben, mit welcher Kreativität und mit welchem hohen Engagement die Beteiligten daran arbeiten, dass möglichst alle Kinder aus den vielen kulturellen und sozialen Milieus des Bezirks eine echte Chance zum Erwerb von Bildung und damit von selbstbestimmter Zukunft erhalten. 

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