Darmstadt: „Inklusion und Ganztag vereinen“ : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Kommunen sind Impulsgeber beim Ausbau von Ganztagsangeboten. Darmstadt entwickelt sein System von Bildung, Betreuung und Erziehung mit inklusiven Ganztagsschulen weiter. Oberbürgermeister Jochen Partsch im Interview.
Online-Redaktion: Herr Oberbürgermeister, 2013 haben Darmstadt und der Landkreis Darmstadt-Dieburg eine kommunale Arbeitsgemeinschaft zur Entwicklung einer Bildungslandschaft gegründet. Welche Bilanz ziehen Sie nach knapp zehn Jahren?
Jochen Partsch: Wir haben uns darauf konzentriert, ein abgestimmtes System von Bildung, Betreuung und Erziehung aufzubauen, was eine gelingende Zusammenarbeit von Schule, Jugendhilfe und weiteren Akteurinnen und Akteuren in der Region voraussetzt. Um dies zu erreichen, haben sich verschiedene Gremien, Strukturen sowie Veranstaltungsformate etabliert. Bei uns stehen formales Lernen, non-formales Lernen und informelles Lernen im gesamten Lebensverlauf gleichermaßen im Fokus. Die Aktivitäten der kommunalen Verwaltungen, der nicht-staatlichen sowie der zivilgesellschaftlichen Akteurinnen und Akteure und die vorhandenen Bildungsangebote stimmen wir so aufeinander ab, dass Ressourcen gebündelt und bedarfsgerecht eingesetzt werden.
Online-Redaktion: Welche Themen sind Sie konkret angegangen?
Partsch: In den vergangenen Jahren der Zusammenarbeit haben wir uns klar zu Inklusion und kultursensibler Öffnung positioniert. Mit unserer Checkliste für interkulturelle Öffnung und den Leitlinien für multiprofessionelle Zusammenarbeit haben wir dazu auch Handlungsempfehlungen für den Bildungsbereich geschaffen. Besonders freuen wir uns über das Interesse des Hessischen Kultusministeriums an unserem Modellprojekt „Inklusive gebundene Ganztagsgrundschule bis 14.30 Uhr“, unser Arbeitstitel dafür ist „Halb3+“. In der gemeinsamen Bildungsregion haben wir die Erfahrungen aus dem „Pakt für den Nachmittag“ ausgewertet und Bilanz gezogen.
Ein zentrales Anliegen des Antrages „Halb3+“ ist der quantitative und qualitative Ausbau der Ganztagsschullandschaft. Die inklusive gebundene Ganztagsgrundschule bis 14.30 Uhr mit anschließender optionaler Betreuung bis 17 Uhr stellt eine verbesserte pädagogische und organisatorische Qualität dar, die über eine bloße Verlängerung des Schulvormittags hinausgeht. Nach einer erfolgreichen Umsetzung wäre dieses Modellprojekt auch auf andere Schulträgerbereiche hessenweit übertragbar.
Das Hessische Kultusministerium hat einen konkreten fachlichen Austausch zur Erörterung des Modellprojektes begrüßt. Seitdem tagt eine Arbeitsgruppe der Wissenschaftsstadt Darmstadt und des Landkreises Darmstadt-Dieburg zusammen mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Kultusministeriums regelmäßig. In dem fachlichen Dialog wird ein „Letter of Intent“ für Herrn Kultusminister Lorz vorbereitet.
Online-Redaktion: Die Wissenschaftsstadt Darmstadt hat ein millionenschweres Sanierungs- und Neubauprogramm aufgelegt. Wie ist der Stand?
Partsch: Konkret sind die Ausgaben dafür seit 2012 von 7,6 Millionen Euro auf 85,39 Millionen Euro in 2021 gestiegen. Aktuell nehmen wir zum neuen Schuljahr eine baulich und organisatorisch völlig neu errichtete Grundschule in Betrieb, die Luise-Büchner-Schule in der Lincolnsiedlung, einem Konversionsgebiet. Die Luise-Büchner-Schule wurde auf Basis moderner pädagogischer in ein entsprechendes Raumprogramm in Form von Jahrgangsclustern errichtet, die jeweils Klassenräume, offene Lernkonzepte, Inklusion und Ganztag vereinen. Ergänzt werden die Jahrgangshäuser durch ansprechende Fachräume und großzügige Sport- und Bewegungsflächen.
Eine Bewährung der pädagogischen und planerischen Überlegungen hierzu steht noch aus, aber wir gehen stark davon aus, dass unsere Bemühungen und Investitionen Früchte tragen werden. Ein weiteres Beispiel sind die Ludwig-Schwamb-Schule im Stadtteil Eberstadt, die Herderschule im Stadtteil Besungen, die Erich-Kästner-Schule im Stadtteil Kranichstein, die Frankensteinschule, aber auch das Berufsschulzentrum Nord und andere. Zurzeit sanieren und erweitern wir in mittlerem bis größeren Umfang 22 von insgesamt 44 Schulen in Darmstadt.
Online-Redaktion: Welche Rolle spielen der Ganztag und sein stetiger Ausbau und welche Ziele streben Sie in diesem Kontext an?
Partsch: Es gibt ein großes Interesse bei vielen Bürgerinnen und Bürgern unserer Bildungsregion an Betreuungsangeboten und einer Verzahnung von Schule und anderen pädagogischen Angeboten. Daher haben wir das Angebot weiterentwickelt und sind damit auch einen großen Schritt gegangen im Hinblick auf die Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung von Kindern im Grundschulalter, der bis 2026 in Kraft treten soll.
Im Rahmen des „Paktes für den Nachmittag“ an Grundschulen und Förderschulen mit Grundstufe übernehmen schon jetzt Land und Schulträger erstmals gemeinsam Verantwortung für ein integriertes Bildungs- und Betreuungsangebot. Es ist mein Ziel, allen Grundschulen und Förderschulen mit Grundstufe so bald als möglich den Beitritt zum „Pakt für den Nachmittag“ zu ermöglichen. Alle weiterführenden Schulen sind bereits mindestens im Profil 1 des hessischen Landesprogramms für ganztägig arbeitende Schulen. Hier könnte ein nächstes Ziel sein, das Profil 2 bei Bedarf flächendeckend zu etablieren.
Online-Redaktion: Was zeichnet ein gutes Bildungsmanagement aus?
Partsch: Am Thema Bildung arbeitet in Darmstadt eine Vielzahl von Akteuren mit unterschiedlichen Zuständigkeiten. Eine wichtige Aufgabe des Bildungsmanagements ist für uns entsprechend, die ämter- und dezernatsübergreifende Zusammenarbeit im Bereich Bildung weiter voranzutreiben, Schnittstellen zu identifizieren und unterschiedliche Akteure – verwaltungsintern wie verwaltungsextern – entsprechend zusammenzubringen. Ein gutes, datenbasiertes kommunales Bildungsmanagement (DKBM) zeichnet sich darüber hinaus durch eine gute Verknüpfung von Daten mit dem Erfahrungswissen der Akteurinnen und Akteure vor Ort aus.
Ein Beispiel hierfür ist die partizipative Entwicklung von Handlungsempfehlungen für die Politik, beispielsweise für den Übergang Kita – Grundschule. Grundlage für die Auswahl der betrachteten Themenschwerpunkte waren die Daten unseres ersten Bildungsberichts der Wissenschaftsstadt Darmstadt. Der Bericht stellte erstmals bildungsspezifische Daten aus Schul- und Sozialdezernat, dem Staatlichen Schulamt und dem Gesundheitsamt zusammen und zeichnete, ergänzt durch qualitative Darstellungen, ein Bild unserer Darmstädter Bildungslandschaft.
Online-Redaktion: Was folgte aus dem Bildungsbericht?
Partsch: Für dort identifizierte Handlungsfelder wurden im Nachgang in einem partizipativen Prozess Handlungsempfehlungen entwickelt. Zunächst wurden Bürgerinnen und Bürger ebenso wie Fachexpertinnen und Fachexperten bei einem Auftaktworkshop eingebunden, um ihre Wahrnehmung von Bildung in Darmstadt einzubringen, und zwar für die verschiedenen Lebensphasen, angefangen mit dem Arbeitspaket Übergang Kita – Grundschule. Neben weiteren Datenauswertungen haben wir eine Vielzahl von Gesprächen mit den jeweiligen Fachexpertinnen und Fachexperten vor Ort geführt. Es galt zum einen, die Daten einzuordnen und mit den vor Ort gemachten Erfahrungen abzugleichen, und zum anderen, Ziele und Maßnahmen zu formulieren, die zu einer Verbesserung in den jeweiligen Handlungsfeldern führen sollen. Auch die Umsetzung der Maßnahmen erfolgt jetzt häufig amts- und institutionsübergreifend.
Online-Redaktion: Warum ist das Thema Bildung in Darmstadt besonders wichtig?
Partsch: Wir als Wissenschaftsstadt Darmstadt haben ein Interesse daran, unser Bürgerinnen und Bürger in ihren individuellen Bildungsbiografien zu unterstützen. Als Wissenschaftsstadt mit einer bedeutenden Hochschullandschaft und regelmäßig hohen Übergangsquoten in gymnasiale Bildungsgänge hat das Thema Bildung traditionell einen hohen Stellenwert in Darmstadt. Der Bildungserfolg hängt in Deutschland aber nach wie vor zu stark von der sozialen Herkunft ab. Entsprechend gilt es für uns als Kommune hier gezielt anzusetzen. Die Entscheidung für die Einführung eines datenbasierten kommunalen Bildungsmanagements soll dies unterstützen, indem wir datenbasiert Unterschiede im Bildungserfolg identifizieren und entsprechende Maßnahmen kooperativ entwickeln können.
Online-Redaktion: Darmstadt steht auch für einen großen deutschen Dichter, der hier das Pädagogium, heute Ludwig-Georgs-Gymnasium, besucht hat. Wie tragen Ihre Schulen dazu bei, Menschen im Sinne Georg Büchners zu politischer Teilhabe, Selbstbestimmung und zur Wahrung der Menschenrechte zu befähigen?
Partsch: Darmstädter Schulen sind Orte gelebter Vielfalt. Ein Beitrag hierzu leistet unter anderem die schulische Inklusion, durch die Kinder mit unterschiedlichen Voraussetzungen gemeinsam lernen und interagieren. Demokratieförderung ist an allen Darmstädter Schulen in unterschiedlicher Umsetzung angelegt. Praktische Demokratie erleben Schülerinnen und Schüler auch in Form ihrer Interessenvertretungen in den Klassen und Schulen. Der Stadtschüler*innenrat übernimmt in Darmstadt eine wichtige Funktion, nimmt an Ausschüssen teil und wird zu den Schülerinnen und Schüler betreffenden Fragen von unterschiedlichen Ämtern immer einbezogen.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview.
Kategorien: Forschung - Internationale Entwicklungen
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