Bürgernähe und "lokale Bildungsplanung" in Marburg : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf

Wie kaum eine andere Stadt in Deutschland zeichnet sich Marburg durch seine reiche Bildungslandschaft aus. Seit beinahe 500 Jahren lockt sie Menschen aus den verschiedenen Ländern und aus vielen Nationen an. Egon Vaupel, Oberbürgermeister der Stadt Marburg, nahm sich in einem Gespräch mit der Online-Redaktion viel Zeit, um die Bedeutung des Investitionsprogramms "Zukunft Bildung und Betreuung" (IZBB) für den Ausbau der Ganztagsschulen in der Kommune zu verdeutlichen. Das Herzstück der kommunalen Schulentwicklung ist für den bürgernahen Politiker die "lokale Bildungsplanung". Mit dieser wird in den Ganztagsschulen die kreative und musische Bildung gefördert.

Oberbürgermeister Egon Vaupel am Mikrofon
Oberbürgermeister Egon Vaupel: "Den Kindern mehr Zeit lassen, um sie individuell zu fördern" © Stadt Marburg

Online-Redaktion: Herr Oberbürgermeister, die Stadt Marburg ist dafür bekannt, dass sie die erste protestantische Universität weltweit gründete. Bildung hat hier beinahe 500 Jahre Tradition: Wie wirkt sich dieser Hintergrund denn auf die aktuellen Herausforderungen Ihrer Kommune aus?

Vaupel: Marburg ist eine Stadt der Bildung. Das verdeutlicht die gleichzeitige Gründung der Universität und des Gymnasiums Philippinum, das auf das Studium vorbereiten sollte. Ohne Philipp den Großmütigen, der diese Stadt auch zur Bildungsstadt gemacht hat, wäre Marburg heute nicht die Universitätsstadt, wie man sie weltweit kennt.

Bildung ist ein wichtiger Standortvorteil für die Universitätsstadt Marburg. Man muss bei 78.000 Einwohnern davon ausgehen, dass sich jeden Tag deutlich über 35.000 junge Menschen in Ausbildung befinden, sei es in studentischer, in schulischer Ausbildung oder als Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Weiterbildungsangeboten. Das macht deutlich, wie wichtig Bildung für die Stadt ist.

Online-Redaktion: Sie haben sich in der Vergangenheit gerade im Bildungssektor sehr engagiert. Welche Bedeutung hat Bildung für Sie?

Vaupel: Bildung hat für mich als Oberbürgermeister einen großen Stellenwert. Bildung ist etwas, das nicht allein durch einen Schulabschluss oder einen universitären Abschluss erworben wird, sondern Bildung ist ein lebenslanger Prozess.

Bildung hat heutzutage auch existenzielle Bedeutung. Deshalb müssen wir unsere jungen Menschen zu qualifizierten Abschlüssen führen, um sie nicht in die Arbeitslosigkeit zu entlassen. Nichts ist teurer für unsere Gesellschaft als die Bewältigung der Arbeitslosigkeit. Bereits heute beziffern Firmen in der Bundesrepublik Deutschland ihren Bedarf an Akademikern auf 50 bis 60 Prozent der Beschäftigten. Und dieser Bedarf an Frauen und Männern mit einem akademischen Abschluss wird aller Voraussicht nach ansteigen.

Auch für mich persönlich hat Bildung einen großen Stellenwert. Mein ursprünglicher Bildungsabschluss war ein Hauptschulabschluss. Über weitere Schritte konnte ich dann in das berufliche Leben hineinwachsen. Diese Chance haben heutige Jugendliche aber kaum noch. Ihnen wird sehr wenig Zeit gelassen, um sich zu entwickeln. Ich hatte diese Zeit, und ich konnte mir auch Fehler leisten. Brüche in der Bildungsbiographie werden heute längst nicht mehr so toleriert wie das früher der Fall war. Durch meine eigene Bildungsbiographie bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass es darauf ankommt, den Kindern mehr Zeit zu lassen, um sie individuell fördern zu können.

Online-Redaktion: Welche Mehrheit gibt es im Rat der Stadt Marburg denn für die Ganztagsschulen?

Vaupel: Der Beschluss für die Ganztagsschule wurde in der Stadtverordnetenversammlung einstimmig verabschiedet. Die Entscheidung - ob ja oder nein - besagt jedoch nicht viel. Wenn man fragen würde, was jeder Einzelne, der sich für die Ganztagsschule ausgesprochen hat, damit verbindet, würden die Unterschiede deutlich werden. Für einige wäre ausschlaggebend, dass die berufliche Situation vieler Eltern eine verlässliche Nachmittagsbetreuung bis 16 oder 17 Uhr erfordert. Der Mangel an Betreuungsplätzen hat meiner Meinung nach aber wenig mit dem Konzept Ganztagsschule zu tun. Ganztagsschule hat für mich vor allem eine inhaltliche Bedeutung, die viel mit rhythmisiertem Unterricht und ganzheitlicher Bildung zu tun hat. Ob es dafür in der Stadtverordnetenversammlung eine 100-prozentige Zustimmung gäbe, wage ich zu bezweifeln.

Online-Redaktion: Welche Gestaltungsspielräume braucht Marburg im Dreieck Bund, Land und Kommune?

Vaupel: Die Stadt Marburg ist ja "nur" Schulträger, das heißt, die Kommune ist nur für die Rahmenbedingungen zuständig. Und hier braucht die Stadt finanzielle Unterstützung, etwa zum Ausbau von Schulen. Momentan haben wir einen Nachholbedarf im Neubau von Klassenräumen an Gymnasien. In Zukunft wird uns jedoch die Sanierung der Schulgebäude beschäftigen, ich meine damit vor allem die Anpassung der Räume an die jetzigen inhaltlichen Bedarfe.

Schule hat sich ja durch die Entwicklung in Richtung Ganztagsschule in den vergangenen Jahren deutlich verändert. Aufenthaltsräume sowie Arbeitsräume für Schülerinnen und Schüler und Lehrkräfte werden benötigt. Und für Angebote im musischen und kreativen Bereich sowie in der sportlichen Bildung sind die Unterrichtsräume, wie sie bisher gebaut wurden, nicht immer passend.

Neben der reinen Sanierung und Umgestaltung sehe ich aber weiteren erheblichen Finanzbedarf. Durch den Ganztagsbetrieb ergeben sich an den Schulen zwangsläufig neue Aufgabenstellungen. Dazu gehört die kaufmännische Leitung - nicht nur die pädagogische - einer Ganztagsschule. Dazu gehört aber auch der Aufbau und Betrieb einer Mittagsversorgung mit der Verantwortung für gesundes Essen.

Schulen werden auch selbstständiger, und das wiederum verändert beispielsweise die Arbeit in den Schulsekretariaten. Sie werden zu wichtigen, ganzheitlichen Serviceeinheiten, weil in einer Ganztagsschule der Umgang mit den Schülerinnen und Schülern mehr Gewicht bekommt und auch die Kontakte zu den Eltern stärker als bisher gepflegt werden müssen. Hier kommen zusätzliche Kosten auf die Kommunen zu, und dafür bräuchten wir mehr finanzielle Unterstützung vom Land.

Ein weiteres Beispiel ist der Bereich Kommunikation und neue Medien in der Schule. Ich meine nicht, dass jedes Kind über einen Laptop verfügen muss. Aber die Schulen müssen so ausgestattet werden, dass der Umgang mit den neuen Medien gelehrt und gelernt werden kann. Das ist eine Aufgabe, die der Schulträger nicht alleine schultern kann. Hier sind Bund und Land gefordert, die Kommunen zu unterstützen. Und auch hier trifft zu: In diesem Bereich zu investieren bedeutet, in der Zukunft zu sparen.

Online-Redaktion: Welchen Beitrag leistet das Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" (IZBB) konkret für den Ausbau der Ganztagsschulen in Marburg? Können Sie Beispiele geben, wohin und in welche Projekte die Gelder fließen?

Vaupel: Wir sind sehr froh über das IZBB-Programm der Bundesregierung. Wir haben als Schulträger in Hessen aber das Problem, dass wir die Schulen nicht selber aussuchen können, die Fördergelder erhalten. Zu den Vorgaben des Landes gehört, dass von uns nur jene Schulen für den Ausbau nach IZBB-Programm vorgeschlagen werden durften, die vom Land bereits den Status einer Ganztagsschule zuerkannt bekommen hatten.

Wenn ich als Schuldezernent allein hätte entscheiden können, hätte ich vorrangig die Geschwister-Scholl-Schule ausgewählt, eine Grundschule, die vornehmlich Kinder aus einem sozial schwächeren Stadtviertel aufnimmt. Diese Schule hat aus meiner Sicht Bedarf an zusätzlicher finanzieller Unterstützung. Sie wurde aber erst jetzt zum Schuljahresbeginn 2006/2007 als Schule mit pädagogischer Mittagsbetreuung vom hessischen Kultusministerium anerkannt.

Zu Beginn des IZBB-Programms waren die Gymnasien mit der Erstellung eines pädagogischen Konzeptes für ein Ganztagsangebot viel weiter als andere Schulformen. Sie hatten ja in ihrem schulischen Alltag bereits Unterrichtseinheiten am Nachmittag und beschäftigten sich bereits mit der Koordination von Angeboten und der erforderlichen Mittagsversorgung.

Wir als Schulträger konnten deshalb notwendige Investitionen an zwei Gymnasien und an einer Haupt- und Realschule, der Theodor-Heuss-Schule Marburg (THS), vornehmen. Dass die THS in den Genuss der Bundesmittel kam, freut mich ganz besonders. Sie hat den Status einer "Europaschule", und so haben wir dort einen Europa-Pavillon bauen lassen mit viel Platz für das Ganztagsangebot. In einem angenehmen, hellen und freundlichen Ambiente sind Stillarbeitsräume entstanden, ist Raum für Bibliotheken, für eine Schülermensa mit Küche für das Mittagessen.

Die beiden Gymnasien erhalten je eine Cafeteria und eines der beiden erhält weitere Räume für Hausaufgabenbetreuung, Bibliothek und Freizeitgestaltung. Die IZBB-Mittel in Höhe von gut drei Millionen Euro reichen dafür aber bei weitem nicht aus. Als Schulträger legen wir allein für diese Projekte noch einmal eine Million Euro dazu. Und unser drittes Gymnasium hat ebenfalls noch keine Ganztagsräume und nur eine eingeschränkte Mittagsversorgung. Weitere Entwicklungsvorhaben im Ganztagsbereich an Grundschulen und an einer Haupt- und Realschule kommen in den nächsten Jahren noch hinzu.

Online-Redaktion: Marburg hat eine "lokale Bildungsplanung" auf den Weg gebracht. Welches sind die Schwerpunkte der Stadt in Bezug auf den Ausbau der Ganztagsschulen und welche Rolle spielt dabei die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund?

Vaupel: Ein Teil der "lokalen Bildungsplanung" ist die Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund. Wir sorgen zum Beispiel dafür, dass diese Kinder und Jugendlichen die deutsche Sprache lernen. Dafür haben wir Angebote für Kindergärten und für die Volkshochschulen entwickelt. Ein weiteres für Marburg spezifisches Projekt - "Mama lernt Deutsch" - zielt darauf ab, dass auch die Mütter die deutsche Sprache erlernen. Zur lokalen Bildungsplanung gehört aber auch, die kreative, musische und sportliche Erziehung zu stärken. Weil dies vernachlässigt wurde, habe ich in Marburg bereits in den Jahren 1999 bis 2000 eine "lokale Bildungsplanung" ins Leben gerufen.

Was dies für die Praxis bedeutet, möchte ich anhand eines Beispiels verdeutlichen: In Zusammenarbeit mit Vereinen in der Stadt Marburg hat die Stadt begonnen, Kontakte zu den Schulen aufzubauen. Dazu gehört der Verein der Damen-Basketballerinnen, die in der Ersten Bundesliga spielen. Spielerinnen gehen in die Schulen und fördern allein dadurch die Begeisterung für den Basketball-Sport.

Auf der anderen Seite helfen die Schulkooperationen dem Verein, weil die Bundesligaspielerinnen ein Honorar für ihre Tätigkeit erhalten. So ergibt sich eine win-win-Situation, aus der viele AG's entstanden sind, die ohne diese Zusammenarbeit nie gegründet worden wären. Auch mit dem Hessischen Landestheater, der Marburger Musikschule, der Stadtbücherei, der Jugendkunstwerkstatt und dem Weltladen sind Kooperationsprojekte entstanden, die diese lokale Bildungsplanung befördern und aus dem Alltag der Schulen inzwischen nicht mehr wegzudenken sind.

Die Zusammenarbeit funktioniert folgendermaßen. Die Schulen informieren sich über das Angebot der Vereine, erstellen dann ein Konzept für die Zusammenarbeit, und die Stadt stellt über den Haushalt das Geld zur Verfügung, damit die Schulen die Honorare für die Unterrichtenden von außen bezahlen können.

Online-Redaktion: Gibt es Kooperationen zwischen der Uni und den Marburger Ganztagsschulen? Wo sind die Schnittstellen und wie sollen diese für Innovationen fruchtbar gemacht werden?

Vaupel: Es gibt aufgrund der Unterschiedlichkeit der Systeme Schule und Universität einen Nachholbedarf, um die Voraussetzungen für eine Zusammenarbeit erst zu schaffen. Die Rahmenbedingungen müssten in dem Dreieck Bund, Land und Kommunen angebahnt werden. Von unten her konnte ich Vereine und Schulen zusammenbringen. Viel schwieriger ist es aber, Universität und Schulen zur Kooperation zu ermuntern, weil von Bund und Land dafür erst die Vorgaben geschaffen werden müssten.

Die Marburger Gymnasien haben Projekte mit einzelnen Fachbereichen der Philipps-Universität aufgebaut. Oberstufenschülerinnen und -schüler erhalten zum Beispiel die Möglichkeit, durch den Besuch regulärer Vorlesungen und Seminare die Anforderungen von Fächern wie Philosophie, Mathematik, Physik kennen zu lernen.

Egon Vaupel, geboren 1950 in Schlierbach. Vaupel besuchte nach der Volksschule die Handelsschule und absolvierte danach eine Lehre als Großhandelskaufmann. Er arbeitete in der Industrie und machte eine zusätzliche Ausbildung in REFA-Studien (Arbeitszeitstudien und Arbeitsplatzgestaltung). Anschließend wechselte Vaupel in die Marburger Finanzverwaltung. Seit 1. November 1997 ist er Bürgermeister und seit 1. Juli 2005 Oberbürgermeister der Universitätsstadt Marburg.

Kategorien: Bundesländer - Hamburg

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