Kulturelle Bildung im Ganztag: "...nicht nur von 14 bis 15 Uhr" : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Die Landesvereinigung Kulturelle Jugendbildung Baden-Württemberg hat ein Positionspapier zur Ganztagsschule veröffentlicht. LKJ-Geschäftsführerin Susanne Rehm im Interview über das Recht auf kulturelle Bildung und Anforderungen im Ganztag.

Online-Redaktion: Frau Rehm, was kann kulturelle Bildung leisten?

Susanne Rehm: (lacht) Wie lange haben Sie Zeit?

Susanne Rehm
Susanne Rehm © LKJ

Kulturelle Bildung fördert durch sinnlich-ästhetische Lernformen ein Lernen mit Kopf, Herz und Hand. Kinder und Jugendliche können hier Selbstwirksamkeit erfahren und durch künstlerisch-kreative Ausdrucksformen eigene Stärkenerkennen und ihre eigenen Interessen verfolgen. Von diesen Prinzipien der Selbstwirksamkeit, Fehlerfreundlichkeit und der Stärkenorientierung sind wir überzeugt, dass sie in besonderem Maße Kinder und Jugendliche bei ihrer Persönlichkeitsentwicklung unterstützen. Alleine das Selbstbild „Ich kann was!“ und das Erkennen, dass man was kann, was von anderen begeistert aufgenommen wird, ist für viele eine wichtige Erfahrung. Kulturelle Bildung fördert die viel zitierten Soft-Skills, wie Kreativität, Kooperations- und Teamfähigkeit.

Hinzu kommt die Reflexionsfähigkeit. Über künstlerische Ausdrucksweisen kann man sich mit der Welt und mit sich selbst auseinandersetzen und einen Ausdruck für die eigene Haltung finden. Sie regen an, sich Gedanken zu machen und Dinge nicht einfach hinzunehmen, wie sie sind und wie sie einem erzählt werden, sondern sie zu hinterfragen, auseinanderzunehmen, zu durchleuchten und auf eine künstlerische Art und Weise neu zusammenzusetzen und weiterzuentwickeln. Das sind Erfahrungen, die den Blick auf die Welt beeinflussen.

Und drittens bietet kulturelle Bildung die Möglichkeit, Gemeinschaft zwischen Menschen unabhängig von ihrer Herkunft zu stiften, und trägt so ein gesellschaftskonstituierendes Element in sich. Kinder und Jugendliche hierbei zu unterstützen, halte ich auf lange Sicht für eine gute Investition für die Gesellschaft.

Online-Redaktion: Wie engagiert sich die Landesvereinigung Kulturelle Jugendbildung Baden-Württemberg in Ganztagsschulen?

Rehm: Zum einen ist die LKJ Baden-Württemberg ein Dachverband von 26 Organisationen der kulturellen Bildungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen. Wir sind auf der politischen Ebene in Beratungen und Arbeitskreise eingebunden, in denen es um die Weiterentwicklung der Ganztagsschule geht. Zum anderen führen wir eigene Projekte und Programme zur kulturellen Jugendbildung durch, die auch in Ganztagsschulen stattfinden. Da ist zum Beispiel das Programm „Kulturagenten für kreative Schulen Baden-Württemberg“, das die Entwicklung kultureller Schulprofile und den Aufbau von Netzwerken zwischen Schulen, Kulturschaffenden und Institutionen vor Ort unterstützt. Darüber hinaus bietet die LKJ zahlreiche Medienprojekte im Bereich Radio und Video an, zum Beispiel „Radio im Klassenzimmer“, die Produktion von „Hör- und Sehstücken“, also Trickfilmen und Reportagen, oder ein videogestütztes Bewerbungstraining „Von Standby auf Aktiv“.

Online-Redaktion: „Ganztagsschulen brauchen starke kulturelle Partner, ausreichende Ressourcen und abgestimmte Konzepte“ ist das Positionspapier der LKJ überschrieben. Wieso gerade zum jetzigen Zeitpunkt?

Akademie Remscheid
© Akademie Remscheid

Rehm: Wir haben bereits 2005 ein Positionspapier zur Kooperation von Schulen und kultureller Jugendbildung verfasst, in dem schon wesentliche Punkte formuliert waren, die auch jetzt noch eine wichtige Rolle spielen, wie zum Beispiel die Vernetzung von Bildung vor Ort zwischen Schule und außerschulischen Partnern. Im Rahmen der Debatte, die gerade in Baden-Württemberg um die Ganztagsschule geführt wird, haben wir unser Papier nochmal überprüft und aktualisiert. Die Monetarisierung und die Forderung nach rhythmisiertem Ganztag zum Beispiel eröffnen neue Möglichkeiten und Fragestelllungen auch für Kooperationen.

Online-Redaktion: Wenn die Punkte von 2005 noch immer aktuell sind, hat sich im vergangenen Jahrzehnt zu wenig bewegt?

Rehm: In der Tat sind viele Fragen von damals immer noch aktuell. Und sie werden es in zehn Jahren vielleicht noch immer sein. Da denke ich beispielsweise an den Bildungsbegriff, von dem einerseits in Schulen und andererseits im außerschulischen Bereich ausgegangen wird. In der Schule treffen wir bis heute eher auf einen formalen Bildungsbegriff, bei dem die Inhaltsvermittlung im Vordergrund steht. In der außerschulischen Bildung beschreibt der Begriff eher Kompetenzerwerb und Persönlichkeitsentwicklung.

Diese beiden Bereiche finden immer mehr Überschneidungen, das heißt, auch in der Schule rücken Kompetenzerwerb und Persönlichkeitsentwicklung in den Fokus, aber der grundsätzliche Unterschied wird sich vermutlich in den nächsten zehn Jahren nicht verwischen lassen. Was sich verändert hat, ist die Öffnung von Schule – gerade durch die Ganztagsschulen – hin zu außerschulischen Partnern. In Baden-Württemberg wird das durch Programme wie das Jugendbegleiterprogramm gefördert, das viele Ehrenamtliche in die Schulen bringt.

Bei uns als Dachverband schlagen da zwei Herzen in unserer Brust: Einerseits ist es gut, wenn Ehrenamtliche ihre Interessen und Kompetenzen in die Schule tragen. Auf der anderen Seite sollte ein Ehrenamtlicher nicht in die gleiche Pflicht genommen werden wie ein professioneller Kulturpädagoge. Die Professionen in der kulturellen Bildung erfordern eine universitäre Ausbildung, und das muss sich hinterher auch in der Vergütung widerspiegeln. Leider erleben wir momentan, dass so manche Schulleitung sich eher an den Honorarsätzen für Ehrenamtliche orientiert. Das haben wir in unserem Positionspapier kritisch angemerkt. Hier braucht es Bewusstseinsbildung für den Wert der kulturellen Bildung.

Online-Redaktion: Geht es also neben finanziellen und strukturellen Fragen auch um die Veränderung von Mentalitäten?

Kunst
© Akademie Remscheid

Rehm: Eine Aufwertung der kulturellen Bildung halte ich für sehr wichtig. Kulturelle Teilhabe ist nach der UN-Menschenrechtskonvention, Artikel 27, ein Menschenrecht und auch in der UN-Kinderrechtskonvention verankert. Eigenschaften wie Kreativität und Innovation werden in den Debatten immer als zukunftsweisend für unsere Gesellschaft und Wirtschaft genannt, und gerade diese werden in der Auseinandersetzung mit kreativen und kulturellen Fragen erlernt. In vielen Gemeinden gibt es aber zu diesem Thema keinen Ansprechpartner und auch kein Budget.

Im Schulbereich werden Fächer wie Kunst und Musik manchmal noch immer belächelt, was tatsächlich eine Einstellungsfrage ist. Hier sollte es gelten, die Talente analog zu den MINT-Fächern zu fördern und zu würdigen. Gerade im ländlichen Raum, wo viel vom Ehrenamt in Vereinen und Verbänden getragen wird, muss dieses Engagement auch in der Schule anerkannt und nicht als selbstverständlich erachtet werden.

Online-Redaktion: Welche Punkte Ihres Positionspapiers würden Sie noch hervorheben?

Rehm: Wir wollen klarstellen, dass wir kulturelle Bildung als Recht und Teil der allgemeinen Bildung für alle Kinder und Jugendlichen sehen, unabhängig von ihrem Elternhaus. Da sehen wir die Ganztagsschule als eine ganz wichtige Möglichkeit des Gelingens. Aus den ersten Befragungen von Schulleitungen gebundener Ganztagsschulen in Baden-Württemberg kann das auch schon festgestellt werden: Gerade Schülerinnen und Schüler aus sozial schwächeren Familien können nun an kultureller Bildung teilhaben, was wir als einen ersten großen Erfolg der Ganztagsschule werten.

Dann wünschen wir uns, dass Ganztagsschule nicht „den ganzen Tag Schule“ bedeutet, nicht nur formale Bildung, sondern Aspekte der Rhythmisierung und der nonformalen Bildung über den ganzen Tag enthält. Ich betone das mit der Rhythmisierung über den ganzen Tag, weil zum Beispiel die Jugendkunstschulen uns rückmelden, dass sie fast unisono von den Schulen angefragt werden, ob sie zwischen 14 und 15 Uhr ein Angebot machen könnten, und zwar von allen Schulen vor Ort. Da man sich nicht zweiteilen kann, können die Jugendkunstschulmitarbeiter dann nur in einer Schule arbeiten. Wenn da mehr zeitliche Flexibilität und eine Zusammenarbeit auch am Vormittag möglich wäre, wären mehr Kooperationen denkbar.

Online-Redaktion: Die LKJ fordert im Papier, dass für Schülerinnen und Schülern einer Ganztagsschule, bei der die individuelle Förderung im Zentrum steht, auch Engagement außerhalb der Schule in Vereinen und Initiativen der kulturellen Bildung möglich sein muss. Ist das auch in gebundenen Ganztagsschulen möglich?

Rehm: So, wie das Ganztagsschulgesetz in Baden-Württemberg im Moment diskutiert wird, sind in einer gebundenen Ganztagsschule sieben bis acht Zeitstunden an drei bis vier Tagen in der Woche vorgesehen. Die Hausaufgaben sollen entfallen und stattdessen als Übungszeiten integriert werden. Theoretisch hat also ein Schüler, der um 16 Uhr nach Hause geht, alles erledigt, was er an diesem Tag für die Schule tun muss. Wenn er dann noch Lust auf Musik, Tanzen oder Sport hat, kann er weitere außerschulische Angebote wahrnehmen. Wir sehen das als großen Gewinn für die Schülerinnen und Schüler der Ganztagsschule an.

Schülerinnen bei einem Workshop
© Britta Hüning

Online-Redaktion: Mitte Mai fand in Baden-Württemberg der zweite Ganztagsgipfel statt, auf dem alle an Ganztagsschule Beteiligten über die Ganztagsschulentwicklung diskutieren konnten. Wie hat sich die LKJ eingebracht?

Rehm: Die LKJ und zwei unserer Mitglieder, der Landesverband der Musikschulen und der Landesverband der Kunstschulen, waren auch schon beim ersten Ganztagsgipfel im vergangenen November mit dabei. Die LKJ und der Landesverband der Musikschulen waren als außerschulische Partner in den Arbeitsgruppen eingebunden, die die Forderungen des ersten Gipfels in operative Lösungsvorschläge übersetzen sollten. Dort konnten wir unsere Themen zwar einbringen, aber es wurden auch Fragen ausgeklammert und Einzelanliegen konnten keine Berücksichtigung finden.

So fanden unsere Überlegungen eines Gesamtkonzepts zur konzeptionellen Strukturierung außerschulischer Angebote in den Kommunen oder nach der Implementierung eines Verantwortlichen vor Ort, der Ganztagsschulen und außerschulische Partner gezielt zusammenbringt und die Kooperationen anbahnt, keinen Eingang. Das wollen wir als LKJ jetzt unabhängig vom Gipfel weiter verfolgen, weil uns die kulturelle Jugendbildung am Herzen liegt und aus unserer Sicht ein unverzichtbarer Bestandteil der Ganztagsschule ist.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Zur Person:

Susanne Rehm, M. A. ist Geschäftsführerin der Landesvereinigung Kulturelle Jugendbildung Baden-Württemberg e.V. Von 2011 bis 2015 hatte sie die Leitung des Landesbüros Baden-Württemberg im Modellprogramm „Kulturagenten für kreative Schulen“ inne. Hier wurden langfristige Kooperationen zwischen Kulturinstitutionen/Kulturschaffenden und Schulen initiiert und kulturelle Schulprofile entwickelt.

Kategorien: Forschung - Berichte

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