Kultur für Kinder: "Eine kluge Stadt braucht alle Talente" : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf
Die Hansestadt Hamburg hat in den vergangenen Jahren einen raschen Wandel seines Schulsystems erlebt und einen starken Ausbau des Ganztagsschulangebots zu verzeichnen. Ein wichtiger Partner der Hamburger Ganztagsschulen ist dabei die Kultur, die mit ihrem vielfältigen Angebot Akzente für eine bessere Schulkultur setzt. Die Zusammenarbeit mit den Kulturinstitutionen und den Kreativen ist für die Schulen das sprichwörtliche Salz in der Suppe, wie der 2. Fachtag "Kultur für Kinder. Ganztagsschule weiterdenken!" bewies, der am 18. September 2010 in der Stadtteilschule in Altona stattfand.
Hamburg ist weltoffen, wohlhabend und eine Metropole der Kultur. Doch in der Hansestadt gibt es, wie in vielen anderen Großstädten auch, neben gut gestellten Vierten diverse Stadtteile, in denen Kinder und Jugendliche, die sich ein Kulturangebot, etwa den Gang in ein Konzert oder in ein Museum für moderne Kunst, aus eigener Tasche kaum leisten könnten.
Beim Umgang mit der Vielfalt im Stadtteil und der zunehmenden Heterogenität in den Klassen schöpft die Kultur gewissermaßen aus dem Vollen. So war es kein Zufall, dass das 2. Fachforum "Kultur für Kinder. Ganztagsschule weiterdenken!" mit der Stadtteilschule Altona in einer Einrichtung durchgeführt wurde, die gegenwärtig einen erheblichen organisatorischen Wandel erfährt.
Das Hamburger Schulsystem im Wandel
Die Hamburger Stadteilschulen ersetzen seit dem 1. August 2010 die Haupt-, Real-, und Gesamtschulen und eröffnen den Eltern die Möglichkeit, ihre Kinder nach der vierten Klasse entweder auf das zwölfjährige Gymnasium oder auf die Stadtteilschule zu schicken, wo sie das Abitur nach der 13. Klasse ablegen können.
Als die Senatorin der Behörde für Schule und Berufsbildung, Christa Goetsch, an einem Samstagvormittag ihre Begrüßungsrede hielt, war die Aula der Stadtteilschule Altona voll besetzt. Neben Repräsentanten der Verwaltung und der pädagogischen Praxis waren insbesondere zahlreiche Repräsentanten aller Kultursparten (Theater, Tanz, Literatur, Musik etc.) gekommen.
"Eine kluge Stadt braucht alle Talente", führte Christa Goetsch aus. Anliegen ihrer Behörde sei es, die strukturellen Rahmenbedingungen weiterzuentwickeln. Die Stadt habe Rahmenverträge mit der Jugendhilfe, dem Sport und der Kultur abgeschlossen. Im Jahr der Kultur 2009 seien viele Kooperationen aufgebaut worden: "Die Ganztagsschule ist eine Herausforderung an alle Partner: konzeptuell, praktisch und organisatorisch." Alle Stadtteilschulen werden Götsch zufolge als Ganztagsschulen geführt. Darüber hinaus habe die Behörde den Startschuss für 23 gebundene Ganztagsschulen gegeben.
Die Schule als wichtigste Kulturinstitution im Gemeinwesen
Bis zum Jahr 2013 soll in der Hansestadt die Ganztagsschule im Grundschulbereich flächendeckend eingeführt werden. Der Auf- und Aufbau von Ganztagsschulen erfolge nicht top down (von oben), sondern in der Verantwortung der Stadtteile vor Ort. Die Senatorin versicherte, dass es im Bildungsbereich keine Kürzungen geben werde. "Lassen Sie uns den Spielraum der Freiheit mit ganz viel Kultur ausfüllen", schloss Christa Goetsch ihren Vortrag mit einem Plädoyer.
Prof. Wolfgang W. Weiß, ehemaliger Schul- und Kulturdezernent der Stadt Bremerhaven und Honorarprofessor an der Universität Bremen, griff das Plädoyer der Schulsenatorin auf. Er betonte zunächst: "Die Schule ist die wichtigste, größte und teuerste Kulturinstitution im Gemeinwesen." Die Schule sei die einzige Institution, in der alle Individuen mit der Kultur in Kontakt kommen. Zur Funktion von Schule gehörten das Unterrichten und Erziehen, das Beurteilen und Benoten sowie die Organisation und Verwaltung, um systematisch Lernfortschritte der Schülerinnen und Schüler zu gewährleisten. Demgegenüber zeichne sich die Kultur durch das Unwägbare aus, sie sei ein (ästhetisches) Erlebnis, die sich nicht dadurch legitimieren müsse, dass durch sie Lernfortschritte erzielt werden.
Macht Musik eigentlich schlau?
Die empirischen Belege dafür, dass Kulturangebote wie Musik zu einer Steigerung der Intelligenz beitragen, stellte der Wissenschaftler infrage. Die entsprechenden Untersuchungen seien nicht aussagekräftig, denn die "Intelligenzsteigerung" bewege sich im Zufallsbereich. Demgegenüber stellte Wolfgang W. Weiß fest: "Der schulische 'Mehrwert' von Kultur kommt nur zum Tragen, wenn sie in ihrem Eigenwert wahrgenommen wird, also nicht in ihrer pädagogisch-didaktischen Funktion." Was Kultur an den Schulen leisten könne, bringe am Besten ein Argumentationspapier der Bundesvereinigung kultureller Kinder- und Jugendbildung (BKJ) zum Ausdruck: Kulturelle Bildung öffne Welten, schaffe eine starke Persönlichkeit, ermögliche Teilhabe, helfe Vielfalt gestalten.
Ein Plädoyer für Genauigkeit, Ausdauer und Verständigung
Allein die nicht-kognitiven Lerneffekte, so der Pädagoge und Kultursoziologe weiter, seien enorm, denn dazu gehörten das soziale Lernen, das Gemeinschaftserlebnis, Ausdauer, Motivation, Begeisterung und nicht zuletzt Genauigkeit. Projekte wie "Jedem Kind ein Instrument" (Jeki) entwickelten eine gesellschaftliche Wirkung, in dem sie kulturelle Identität und die interkulturelle Verständigung förderten.
Die Kooperationen der Kultur mit der Schule seien deshalb so wertvoll, weil sie indirekte Wirkungen zeitigen: "Kunst und Kultur können 'beiläufig' die Entwicklung von Interessen, Identitäten und Sozialverhalten forcieren - in ganz anderer Weise als Schule." Darüber hinaus solle die Schule, so Wolfgang W. Weiß, die Möglichkeit zu kultureller Persönlichkeitsbildung und kommunaler Kulturpflege nutzen.
Seit den 1970er Jahren gewinne im Bereich der kulturellen Bildung immer mehr das Modell der "Community-Education", also die Öffnung der Schule zur Gemeinde und den kulturellen Partnern, an Bedeutung. "Es entwickelt sich nicht von selbst, sondern es braucht immer engagierte Personen". Natürlich komme es dabei zu einem Spannungsverhältnis, aber das gehöre nun einmal dazu: "Lasst das Leben rein", plädierte Weiß.
Der Fachtag bot im Anschluss an den Vortrag, dem viel Beifall gezollt wurde, mit dem "Markt der Möglichkeiten" sowie der Arbeit in sieben parallelen Arbeitsgruppen Gelegenheit, die Struktur und Funktionsweise der kommunalen Vernetzung von Kultur und Schulen in Hamburg kennenzulernen und die Gelingensbedingungen von kultureller Bildungherauszuarbeiten. In jeder Arbeitsgruppe wurden Beispiele aus den jeweiligen Kultursparten vorgestellt. Im Anschluss gab es Gelegenheit zu diskutieren.
Pädagogischer Wandel im Spiegel des Hamburger Schulmuseums
In der Arbeitsgruppe Literatur/ Geschichte wurde das Hamburger Schulmuseum des Landesinstituts für Lehrerbildung und Schulentwicklung vorgestellt. Ein Schulmuseum ist aufgrund seiner speziellen Perspektive auf die Historie der Pädagogik etwas Besonderes: Es benötigt eine Konzeption, die sowohl die Kinder und Jugendlichen als auch die Erwachsenen interessiert. Da das Halbtagsschulsystem in Deutschland eine lange historische Tradition hat, ist es interessant, die pädagogischen Konzeptionen heutiger Ganztagsschulen mit denen in früheren Epochen zu vergleichen.
Das Schulmuseum umfasst Ausstellungsstücke aus der Kaiserzeit (1871 bis 1918), der Weimarer Republik (1919 bis 1933), dem Nationalsozialismus (1933 bis 1945) sowie der Nachkriegszeit. Laut Uta Percy, der stellvertretenden Leiterin des Schulmuseums, erfuhr das staatliche Schulwesen nach dem Hamburger Unterrichtsgesetz vom 11. November 1870, mit dem die Schulpflicht für alle Sechs- bis Vierzehnjährigen eingeführt wurde, einen starken Auftrieb.
In der Weimarer Republik zeichnete sich die Schullandschaft in Hamburg demgegenüber durch starke Reformpädagogische Bewegungen aus, beeinflusst unter anderem von der Kunsterziehungsbewegung Alfred Lichtwarks, der die Hamburger Kunsthalle als Volksbildungsstätte sah und nach dem die berühmte Lichtwarkschule benannt wurde, sowie die Arbeitsschulbewegung. In Hamburg wirkten die Reformer Heinrich Landahl, Adolf Jensen, Johannes Gläser, Carl Götze, William Lottig, Wilhelm Lamszus, Carl Friedrich Wagner, zeitweise - auch Peter Petersen sowie der spätere Berliner Oberstadtschulrat Wilhelm Paulsen.
Vier Versuchsschulen, alle Volksschulen, wurden als "Lebensgemeinschaftsschulen" gegründet: die Versuchsschulen Berliner Tor unter William Lottig, Breitenfelder Straße unter Kurt Zeidler, Telemannstraße unter Carl Götze, an der auch C. F. Wagner unterrichtete, und die Mädchenschule Tieloh-Süd unter Wilhelm Paulsen, an der u. a. Wilhelm Lamszus unterrichtete. Alle diese Schulen waren Ganztagsschulen. 1925 wurde ein Grundschulgesetz verabschiedet, das verbindlich gleiche Ziele für Regel- und Versuchsschulen die gleichen Lernziele vorsah. Während die Schule Berliner Tor bereits 1930 wegen Schülermangels eingestellt wurde, wurden andere 1933/34 - wie viele Reformschulen deutschlandweit - in normale Volksschulen zurückverwandelt.
Für den Nationalsozialismus ist laut Percy die Frage relevant: "Wie hat die nationalsozialistische Ideologie die Schullandschaft bis hin zu Einzelnen geprägt?" Nach der Machtübernahme wurden alle höheren Schulen, mit Aunsnahme weniger traditioneller Gymnasien, in "Deutsche Oberschulen für Jungen bzw. Mädchen" umgewandelt und die Privatschulen sowie konfessionellen Schulen im Laufe des Jahres 1939 geschlossen. Der Lehrer, der die Rolle eines Führers einnahm, praktizierte mit den Schülerinnen und Schülern Rassenkunde und vermaß die Schädel. Die Ausstellung zum Dritten Reich zeigt aber auch, dass es leise Formen des Widerstands gab, wie die Swingjugend, die als eine private Äußerung des Widerstandes gelebt wurde.
"Verbringe die Zeit nicht mit der Suche nach einem Hindernis...
...vielleicht ist ja keines da". Dieses Franz-Kafka-Zitat, das ein Schüler der Stadtteilschule Altona im Unterricht ausgewählt hatte (es war an der Wand des Klassenzimmers zu lesen), schienen sich auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der sieben AGs zu Herzen genommen zu haben.
Die AG Literatur/ Geschichte erarbeitete konstruktive Vorschläge zur Verbesserung der Kooperation zwischen Schule und Kultur. Wichtig seien engagierte Kollegien, künstlerische Kompetenzen, Vermittlungskompetenzen sowie Vernetzungsleistungen. Ganz wichtig ist die Ansprechbarkeit der Schulen: Es müsse deutlich werden, wer in der Schule für die Partner aus der Kultur zuständig ist. Umso wichtiger ist es, dass die Schulen einen übersichtlichen und gut strukturierten Internetauftritt anbieten, damit die Partner aus der Kultur direkten Kontakt aufnehmen können.
Ein heißes Eisen der kulturellen Bildung ist das Thema Finanzierung, schließlich leiden allenthalben die öffentlichen Kassen unter knappen Mitteln. Da die Hamburger Schulbehörde hier keine Ausnahme bildet, ist das Fundraising, also das Einwerben von Drittmitteln für die kulturelle Bildung, von großer Bedeutung. "Das Fundraising ist sehr aufwendig", meinte ein Lehrer. Auch seien die Sozialräume unterschiedlich ausgestattet, so dass die Lehrkräfte mit den zusätzlichen Aufgaben häufig überfordert seien.
Eine Pilotschule Kultur: Luise-Schroeder-Schule
Eine Vertreterin der Luise-Schroeder-Schule zeigte sich unbeeindruckt: "Die Ganztagsschule ist eine strukturelle Entscheidung." Man habe sie in einer bunten Umgebung ohne liquide Mittel aufgebaut: "Trotzdem gab es Kraftfelder, die die kulturelle Bildung vorangebracht haben." Die Ganztagsgrundschule ist eine von drei Pilotschulen Kultur. Seit über einem Jahrzehnt hat sich die teilgebundene Schule mit Stadteileinrichtungen und der Kunstszene vernetzt: Angebote in Musik, bildender Kunst, Literatur und Theater sind fester Bestandteil des Schullebens geworden. So kommt eins zum anderen: Da die Qualität der Schule in aller Munde war, ließen auch die finanziellen Förderer nicht mehr lange auf sich warten.
Kategorien: Kooperationen
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