Ganztag: Kindern und Jugendlichen ihre Räume lassen : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Der kulturellen Bildung in Ganztagsschulen widmet sich der Sammelband „Perspektive Ganztag!?“. Mitherausgeberin Kerstin Hübner von der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung im Gespräch.
Online-Redaktion: Frau Hübner, warum finden sich im Titel Ihres Buches „Perspektive Ganztag?!“ Fragezeichen wie Ausrufezeichen?
Kerstin Hübner: Als Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung, kurz bkj, sind wir überzeugt, dass ein pädagogisch gut gestalteter Ganztag mit interessanten Angeboten, der die Rechte, Interessen und Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen zentral berücksichtigt, notwendig ist. Er bietet Chancen für gute Bildungskonzepte. Das symbolisiert das Ausrufezeichen.
Das Fragezeichen steht wiederum für die Erfahrungen vor allem aus der Praxis, dass der Ganztag sehr stark von der formalen Bildung geprägt ist. Auch nach 15 Jahren ist es für Träger Kultureller Bildung nicht immer leicht, ausreichend Räume für Kunst und Kultur im Ganztag zu finden, sei es im Unterricht, in AGs oder Freizeitangeboten, und die Prinzipien außerschulischer Bildung oder informelle und non-formale Ansätze zu implementieren. Mit dem Fragezeichen schwingen also die Zweifel mit, ob das, was als Potenzial der Zusammenarbeit angelegt ist, sich umfassend durchsetzen wird.
Online-Redaktion: Wovon hängt eine erfolgreiche Zusammenarbeit ab?
Hübner: Vieles hängt vom Engagement der einzelnen Schule und der Träger ab, wie weit sie sich aufeinander zubewegen. Wir nehmen aber auch wahr, dass sich Länder wie Nordrhein-Westfalen und Rheinland, wo sich Ministerien auf den Weg gemacht haben, mit Verbänden zu diskutieren, wie ein guter Ganztag aussehen sollte. Dort verständigen sich die Ministerien über eine Förderung, um Schulen und außerschulischen Trägern die Zusammenarbeit zu erleichtern. In Nordrhein-Westfalen beispielsweise arbeiten das Schulministerium und das Jugendministerium zusammen, teilweise auch mit dem Kulturministerium.
Online-Redaktion: Ist Ihr Buch „Perspektive Ganztag!?“ als Bestandsaufnahme gedacht?
Hübner: Ja, und auch als Diskursangebot. Wir haben versucht, einerseits den Ist-Stand der Jugendarbeit und Kultureller Bildung im Rahmen der Ganztagsdebatte darzustellen, aber andererseits auch die Entwicklungsperspektiven und Forderungen zu zeigen, die sich daraus ergeben. Daher haben wir im Buch auch unsere „Grundsätze für gute Ganztagsbildung“ veröffentlicht, um einen Anstoß zur weiteren Debatte zu liefern. Wir stellen dar, was sich aus unserer Perspektive ändern müsste, damit wir einen kinder- und jugendgerechten Ganztag mit kultureller Bildung erreichen. Diese jugendpolitische Schwerpunktsetzung fehlt in den Debatten noch immer – momentan wird die Ganztagsdiskussion aus unserer Sicht sehr vom formalen Bildungserfolg der Schülerinnen und Schüler und vom Unterstützungsbedarf von arbeitenden Eltern dominiert.
Online-Redaktion: 18 Autorinnen und Autoren haben zu dem Buch beigetragen. Was war Ihnen bei der Auswahl wichtig?
Hübner: Wir wollten diejenigen, die in der Kinder- und Jugendarbeit und in der Ganztagsschuldebatte eine Rolle spielen, einbeziehen, ebenso Studien, wie beispielsweise die StEG-Studie. Daneben möchten wir den Aspekt der Bildungslandschaften beleuchten. So ist zum Beispiel Professor Werner Thole, mit dem wir gerade ein Projekt abgeschlossen haben, vertreten. Dann wollten wir die Debatte abbilden, wie Kinder und Jugendliche Kulturelle Bildung und Freizeitangebote nutzen. Professor Ivo Züchner beispielsweise hat nicht nur im Ganztagsbereich geforscht, sondern mit dem Deutschen Jugendinstitut auch die Studie „Medien, Kultur und Sport bei jungen Menschen“ (MediKuS) vorgelegt. Und natürlich stehen viele Autorinnen und Autoren für die kulturelle Bildung in Forschung und Praxis, um zu zeigen, welche gesellschaftspolitischen und Bildungspotenziale Kulturelle Bildung hat.
Online-Redaktion: Ein Teil des Buchs bietet Steckbriefe von neun Kooperationspartnern, vom Bundesverband Tanz bis zum Deutschen Bibliotheksverband, die ihre Arbeit mit Ganztagsschulen vorstellen. Welche Essenz lässt sich daraus für eine gelingende Kooperation ziehen?
Hübner: Aus Trägersicht ist es wichtig, sich über die eigenen Stärken klar zu werden. Was können Musikschulen, Zirkusse, Spielmobile, Jugendkunstschulen oder Medienzentren hinsichtlich ihres Personals und ihrer Methoden in Schulen einbringen, um die Kinder und Jugendlichen in ihrer Persönlichkeit zu stärken? Der zweite Schritt besteht darin, zu schauen, wie diese Stärken in der Kooperation mit der Schule in einer guten Abstimmung zur Entfaltung gebracht werden können.
Die Schule als Bildungsinstitution ebenso wie außerschulische Bildungspartner besitzen jeweils spezifische Qualitäten, Erfahrungen und Fachkräfte. Beide Seiten sollten sich mit Offenheit und Neugier begegnen und gemeinsame Vorstellungen und Ziele entwickeln und klären, wer an welcher Stelle Verantwortung übernimmt.
Im Buch formulieren einige außerschulische Träger in den Steckbriefen auch, dass es wichtig ist, selbstbewusst Grenzen zu ziehen und an bestimmten Stellen zu sagen, für welche Tätigkeiten sie sich gegebenenfalls nicht eignen, oder auch, dass sie nicht für ein reines Dienstleistungsverhältnis zur Verfügung stehen.
Online-Redaktion: In Ihrem eigenen Beitrag im Buch schreiben Sie vom „Spannungsfeld von Jugendarbeit als Bildung zwischen Bildungsinstitution und Rückzugsraum“.
Hübner: Dieses Spannungsfeld spielt immer noch entscheidende Rolle. Und da müssen wir gar nicht erst in die Schule mit ihrem verpflichtenden Charakter schauen. Auch unsere Angebote im außerschulischen Bereich grenzen ja die Zeit der Kinder und Jugendlichen ein, die sie ansonsten für ihre freie Gestaltung zur Verfügung hätten. In dem Moment, in dem wir als außerschulische Träger ein Angebot mit einem gewissen Verbindlichkeitscharakter oder mit einer pädagogischen Intention machen, in dem die Erwachsenen stärker bestimmen, müssen wir uns mit dieser Frage auseinandersetzen.
Wir haben diese Diskussion unter den Begriff „Freiraum“ gefasst. Wir reflektieren stark, wie dieses Prinzip von selbstbestimmten Räumen, die Kinder und Jugendlichen zur Verfügung stehen, innerhalb der Ganztagsschule, aber auch in außerschulischen Einrichtungen und Bildungslandschaften vorgesehen ist. Zeit zum Chillen, zum Treffen mit Freunden, zum Experimentieren oder auch durchaus mal zum Zeigen von Widerspenstigkeit.
Das bleibt eine Frage: Je mehr sich der schulische Alltag ausdehnt und je mehr Angebote im außerschulischen Bereich geschaffen werden, müssen wir darauf achten, den Kindern und Jugendlichen ihre eigenen Räume nicht vollständig zu versperren.
Online-Redaktion: Per Interview kommen auch der Schülervertreter Leandro Cerqueria-Karst und zwei Elternverbandsvertreter zu Wort. Was ist an deren Perspektiven auf die kulturelle Bildung im Ganztag aus Ihrer Sicht bemerkenswert?
Hübner: Spannend ist, dass Leandro Cerqueria-Karst vorrangig aus seiner Rolle als Schüler gesprochen hat. Er schaut stark aus Schulsicht auf das Thema Ganztag, beschreibt seine Erfahrungen und seine Spielräume in der Schule. In dem Moment aber, als wir ihn nach seiner Freizeit fragen, merkt man, dass die Räume jenseits der Schule gar nicht so sehr im Blick sind. Ähnlich ist es bei den beiden Elternvertretern, die beim Thema Ganztag vorrangig über die Schule beziehungsweise Schülerinnen und Schüler sprechen.
Online-Redaktion: Sie leiten auch das Programm „Künste öffnen Welten“ im Rahmen des vom BMBF geförderten Programms „Kultur macht stark“. Was möchten Sie hier erreichen?
Hübner: Das ist ein spannendes Programm für mehr Bildungsgerechtigkeit, auch hinsichtlich dessen, worüber wir gerade gesprochen haben. Zum einen untersucht es, welche Rolle Kooperationen in der Kulturellen Bildung spielen. Das Programm „Kultur macht stark“ trägt den Untertitel „Bündnisse für Bildung“ und fragt entsprechend, welche zivilgesellschaftlichen und welche öffentlichen Akteure mit Kitas und Schulen in Kommunikation und Projektarbeit kommen sollten, um mittels Kultureller Bildung die Bildungsbiografien von Kindern und Jugendlichen zu unterstützen.
Zum zweiten ist das Programm im außerschulischen Bereich angesiedelt. Es fragt nach der Freizeitgestaltung der Kinder und Jugendlichen und danach, welche Angebote im Spielbereich, im Medienbereich, im Musikbereich oder im Tanz nicht nur die Persönlichkeit stärken, sondern auch Kompetenzen vermitteln, die den Kindern und Jugendlichen auch in der Schule helfen.
Bei „Künste öffnen Welten“ sind viele Schulen als Kooperationspartner dabei, und wir merken, dass sich diese auf den Weg machen können, um Schülerinnen und Schüler im offenen Ganztag, im Freizeitbereich und in Ferienprogrammen zu unterstützen.
Online-Redaktion: Noch ein Wort zur Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung, für die Sie stehen. Verändert die Corona-Pandemie Ihre Arbeit?
Hübner: Unserer Ansicht nach zeigt sich jetzt noch mehr, dass Bildungslandschaften eine gute Möglichkeit bieten, die aber noch viel zu wenig genutzt wird: Unterschiedliche Träger können an unterschiedlichen Orten Angebote machen – eben auch für kleinere Schülergruppen, wenn nicht alle in die Schule dürfen. Und zweitens ist die Frage der Digitalisierung stärker in den Blick gekommen. Welche Rolle können Digitalisierungsprozessen der Ganztag bei spielen?
Dabei geht es aber auch um die Frage, welche Unterstützung Lehrerinnen und Lehrer und genauso außerschulische Fachkräfte benötigen, um gemeinsam die Möglichkeiten der Digitalisierung zu nutzen. Welche neuen Ideen und Konzepte entstehen, um besonders diejenigen Kinder und Jugendlichen einzubeziehen, die Unterstützung benötigen? Da lohnt es sich, ins Gespräch zu kommen, um den digitalisierten Ganztag an der Schnittstelle zu analogen Bildungsangeboten voranzubringen. Unser Credo in unserem aktuellen Diskussionspapier ist: „Kulturelle Bildung an und mit Schulen − Jetzt erst recht!“
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Kategorien: Forschung - Internationale Entwicklungen
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