Ganztägig Lernen mit der Grundschule der Künste : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Räume sind für ganztägiges Lernen von enormer Bedeutung. Prof. Kirsten Winderlich forscht an der Universität der Künste Berlin zur ästhetischen Bildung in der Kindheit und hat die „grund_schule der künste“ initiiert.
Online-Redaktion: Frau Prof. Winderlich, wie lässt sich kurz „Ästhetische Bildung in der Kindheit“ erklären, das Fach, das Sie an der Universität der Künste vertreten?
Kirsten Winderlich: Ästhetische Bildung bezieht sich auf eine Bildung in und mit den Künsten. Da sie auf der sinnlichen Wahrnehmung beruht, ist sie für Kinder von Anfang an bedeutsam. Für die Bildungspraxis sind wir entsprechend gefordert, Orte zu suchen und Räume zu gestalten, die Wahrnehmung und Imagination anregen. Wir stehen vor der Aufgabe, Zugänge zur Kunst und Begegnungen mit den Künsten zu initiieren und dafür Materialien bereitzustellen.
Online-Redaktion: Dazu forschen Sie auch?
Winderlich: Eine aktuelle Forschungsfrage ist beispielsweise, inwieweit Kinder in intrinsisch motivierten Bildproduktionen eine eigene Bildsprache entwickeln, das heißt, wie sie in ihren Bildern auf vorangegangene Bilderfahrungen zurückgreifen. Eine andere Fragestellung, der ich nachgehe, ist, wie Lehrbücher aufgebaut und gestaltet sein müssten, um nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern Kinder unterstützen, selbstständig Wissen hervorzubringen. In meiner Arbeit geht es immer wieder um ein „Raum geben“, im Sinne medialer oder auch konkreter und materialisierter Räume, wie wir es beispielsweise in unserem Lehr- und Forschungsmodell „grund_schule der künste“ der UdK Berlin realisiert haben.
Online-Redaktion: Was verbirgt sich hinter der grund_schule der künste?
Winderlich: Die grund_schule der künste ist ein Ort unter dem Dach der Universität der Künste, an dem Studierende und Lehrende gemeinsam mit Kindern und ihren Lehrkräften erproben, wie Bildung in und mit den Künsten gelingen kann. Für dieses Experiment haben wir Räume in Kooperation mit Künstlerinnen und Künstlern so gestaltet, dass sie einerseits die Auseinandersetzung der Kinder mit der Welt unterstützen und anregen, andererseits den Studierenden und Lehrenden ermöglichen, an diesen Prozessen teilzuhaben. Zur grund_schule der künste gehört beispielsweise die Bilderbuchwerkstatt, die der Künstler Ólafur Elíasson als „Raum für Bildung und Bilder“ gestaltet hat.
Ausgangspunkt war die Frage, wie Kindern das Betrachten und Lesen von Bilderbüchern aus unterschiedlichen Raum-Lage-Beziehungen heraus ermöglicht werden kann. Elíasson hat jenseits von Stuhl und Tisch sowie einer frontal ausgerichteten Anordnung der raumkonstituierenden Elemente einen Raum geschaffen, der den Kindern Bewegung erlaubt und Orte bereithält, die ein Eintauchen in die Bücher und Geschichten zulassen.
Online-Redaktion: Wie muss man sich die gemeinsame Arbeit vorstellen?
Winderlich: Wirklich einzigartig ist, dass hier Studierende für das Grundschullehramt mit den Fächern Bildende Kunst und Musik der UdK und der FU zusammenwirken und dass gleichzeitig Kinder an den Lehrveranstaltungen partizipieren. Sie erproben Formen intermedialen Erzählens, experimentieren mit Klang und Musik, entdecken Baukultur, lernen von „Artists in Residence“, also Künstlerinnen und Künstlern, die vor Ort in Schulen arbeiten, diskutieren ihre Wahrnehmungen. Zum Konzept gehört auch die Öffnung von Lehre und Forschung in die Stadt. Wir veranstalten zum Beispiel Lehrveranstaltungen im öffentlichen Raum, in Museen, Theatern und Konzerthäusern. In gewisser Weise bringen wir permanent Modelle für die Grundschule von heute hervor, die wir erproben und verwerfen, entwickeln und gemeinsam reflektieren.
Online-Redaktion: Welche Impulse bieten die Artists-in-Residence-Projekte?
Winderlich: In Artists-in-Residence-Projekten haben Kinder die Chance, sozusagen „Dritte“ kennenzulernen, neben den Lehrkräften und den anderen Kindern. Künstlerinnen und Künstler, die den Ort ihres Schaffens in die Schule verlegen und künstlerisches Arbeiten unmittelbar erfahrbar machen. Ich halte Artists-in-Residence-Projekte für eine Bereicherung des Schulalltags und im besten Fall sogar für einen Impuls für die Schulentwicklung. Sie sind ein Angebot, das auch ohne aktive Annahme der Schülerinnen und Schüler – zum Beispiel durch Besuche des Ateliers, Gespräche oder konkretes Einsteigen in eigene künstlerische Arbeit – eine Wirkung auf die Schulkultur haben kann.
Wenn Künstlerinnen und Künstler in der Schule ihr Atelier einrichten, betreten sie eine Institution, die für sie nicht zu ihrem Alltag gehört. Sie sind die Neuen, die ein anderes Selbstverständnis als die Lehrkräfte mitbringen. Sie kommen idealerweise nicht in die Schule, um Kunst zu unterrichten, sondern um ihre Kunst zu machen und eröffnen damit den Schülerinnen und Schülern Möglichkeitsräume: Gelegenheiten für Begegnung und Austausch, für eigenes Entdecken und Probieren.
Online-Redaktion: Sie haben sich auch mit dem Zugang von Kindern zum Lernort Museum beschäftigt. Was leisten Museen?
Winderlich: Museen sind wunderbare Lernorte! Gleichzeitig bedauere ich, dass die Besuche von Museen häufig auf Führungen von Erwachsenen reduziert werden. Das ist schade, weil doch gerade Museen den Kindern selbstbestimmte und selbsttätige Zugänge zu Exponaten und Sammlungen eröffnen können. Um die den Kindern eigene Lust an der Erkundung und Entdeckung aufzugreifen, haben wir mit Karten und Mappings gearbeitet. In unserem jüngsten Projekt zu Berliner Museen sind in Kooperation mit dem bildenden Künstler Mark Lammert Museumskarten in Form von Leporellos entstanden. Die Leporellos geben den Kindern weniger Richtungen vor, sondern sensibilisieren mehr ihre Wahrnehmung für Details, aber auch für das ganze Museum.
Einen Zugang zum Museum finden, heißt immer auch, Schwellen zu übertreten. Hierfür braucht es meines Erachtens eine Geste der Einladung aus der Institution. Im Fall der „Museumskarten“ haben wir Museumsdirektorinnen und -direktoren, die meist wenig in die direkte Bildungspraxis eingebunden sind, gebeten, ihr Lieblingsexponat ganz persönlich und auch ganz bewusst handschriftlich vorzustellen. Den Kindern wird auf diese Weise nicht nur vermittelt, dass sie willkommen sind, sondern sie erfahren, dass die Perspektiven auf Kunst und Kulturen auch individuell unterschiedlich sind. Und sie erfahren, dass Perspektiven hinterfragt werden können und sollten, dass es kein „Richtig und Falsch“ gibt.
Online-Redaktion: Auch ästhetische Bildung im ganztägigen Lernen war einer Ihrer Forschungsschwerpunkte. Was war Ihr Erkenntnisinteresse?
Winderlich: Ganztägiges Lernen bedeutet, dass Schule für die Kinder auch zu einem Lebensort wird. In der Schule findet im Kontext ganztägigen Lernens also nicht nur Unterricht statt. Vielmehr sollten die Kinder die Möglichkeit erhalten, auch ihren persönlichen Interessen nachzugehen, in fächerübergreifenden Projekten oder Werkstätten, und natürlich sich mit ihren Freunden zu treffen und auszutauschen. Also, kurz gefasst: Ganztägiges Lernen erfordert nicht nur Raum für formelle, sondern auch für informelle Bildungsgelegenheiten.
In meiner Forschung hat mich interessiert, wie Schulbau und Architektur mit dieser Herausforderung umgehen. Zu Beginn der Einführung von Ganztagsschulen wurde häufig von Ergänzungen der Raumpläne, zusätzlichen Funktionsräumen wie Mensa, Bibliothek, Pausen- und Freizeiträumen gesprochen. Gleichzeitig entstand eine Bewegung, Schule gemeinsam mit ihren Akteuren zu denken und zu gestalten. Aufgefallen ist mir in diesem Zusammenhang, dass keine der genannten Herangehensweisen ein Garant dafür ist, dass die Schule als umfassender Bildungsraum entsteht.
In gewisser Weise habe ich nach so einer Art Schlüssel für die Gestaltung von Räumen für den Ganztag gesucht. Dabei habe ich mich mit der Entwicklung des Schulbaus im Wechselspiel mit den jeweils vorherrschenden pädagogischen Paradigmen auseinandergesetzt und gleichzeitig in der Architekturtheorie nach Vorschlägen zur Gestaltung von Raum unter Beteiligung der Vielen gesucht. Die vielleicht banal klingende Erkenntnis ist auch in die Raumgestaltung der grund_schule der künste eingeflossen: Ein Zusammenspiel aus gestimmten, also von sich aus stark atmosphärisch wirkenden Räumen und flexiblen Räumen soll die Aneignung und Nutzung durch wechselnde Schülerinnen und Schüler möglich machen.
Online-Redaktion: Eine Ihrer aktuellen Publikationen ist „Der Raum als Lehr-Kraft“. Wie fördern Räume ästhetische Bildung?
Winderlich: Ästhetische Bildung findet zwischen Wahrnehmung und Gestaltung statt. Entsprechend sollten Räume zur Förderung ästhetischer Bildung eine Vielfalt an Aneignung, Deutung und Nutzung bereithalten. Anregend sind Räume, wenn sie ein Gegenüber bieten oder wenn sie als unverwechselbarer Ort wahrgenommen werden. Inspirierend können Räume sein, die Platz und Freiflächen bieten. Ein leerer oder freigeräumter Raum fordert jedoch nicht per se zu Spiel und Experiment auf. Es geht auch um die Gestaltung des Bodens, die Akustik, das Licht.
Ein Problem in Schulen ist häufig, dass in der Wahrnehmung die Funktion der Räume dominiert. Es ist zum Beispiel sehr schwer, in einer Sporthalle eine festliche Atmosphäre zu erzeugen. Wichtig ist, dass Räume zu unterschiedlichen Vorhaben und Projekten einladen. Gleichzeitig dürfen sie nicht kahl sein, sondern sollten einen eigenen Charakter haben und etwas erzählen. Im aktuellen Schulbau finden wir beispielsweise häufig Foyers, in denen die Treppen nicht nur funktional dem Wechsel in eine andere Etage dienen, sondern gleichzeitig zu Aufenthalt und Aktion einladen, als Forum für Versammlungen oder Aufführungen.
Online-Redaktion: Wie sehen Sie die aktuellen Entwicklungen im Schulbau?
Winderlich: Insgesamt hat sich sicherlich viel getan. Es wird mittlerweile anerkannt, dass Bildung und Lernen durch Architektur gefördert, aber auch behindert werden können. Wir beobachten darüber hinaus, dass Beteiligung, Partizipation im Schulbau eine zunehmend wichtige Rolle spielt. Damit Partizipation die Entwicklung des Schulbaus aber tatsächlich bereichern kann, muss meines Erachtens die baukulturelle Bildung in der Lehrerbildung und damit auch im Unterricht nachhaltig verankert werden.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
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