Filmbildung von Babelsberg bis Prenzlau : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Zur Medienbildung gehört die Filmbildung. Dr. Jürgen Bretschneider von FILMERNST Brandenburg engagiert sich mit Kinobetreibern, dass Kinder und Jugendliche in Stadt und Land die Leidenschaft des Kinos ergreift.
Online-Redaktion: Herr Dr. Bretschneider, wie ist Ihre Liebe zum Kino entflammt?
Jürgen Bretschneider: Das rührt wahrscheinlich von meiner Familie her. Ich war als Kind sehr häufig mit meiner Oma und mit meinen Eltern im Kino, auch in Filmen „ab 14 Jahre“, für die ich noch zu jung war. Es gab ja damals noch in jedem Nest ein Kino. Die Atmosphäre hat mich immer sehr beeindruckt. Das Cineastische hat sich dann in Leipzig während meines Studiums entwickelt. Dort gab es ein außerordentliches und außerordentlich gutes Kino, das „Casino“. Das war eines der wenigen Kinos in der DDR – ich glaube, es gab so was nur noch in Berlin mit dem „Studio Camera“ –, in dem es schon am Vormittag Vorstellungen gab. Da sind wir schon um 10 Uhr reingegangen, haben zum Beispiel morgens Viscontis „Tod in Venedig“ gesehen. Und dann Ärger mit der Uni bekommen, denn eigentlich sollten wir ja in den Vorlesungen sitzen.
Meine Filmbildung erhielt ich durch das „Casino“ und später bei der Zeitschrift des Filmverbandes, „Film und Fernsehen“. Das hat auch auf FILMERNST ausgestrahlt, denn im „Casino“ wurden damals viele Filme mit einer Einführung eingeleitet und dann in einem Nachgespräch vertieft. Das hat meinen Horizont schon enorm erweitert, und ich zehre heute noch davon. Ich finde es nach wie vor sehr wichtig, dass man einen Film nicht nur schaut und dann mit seinen Gedanken alleine bleibt, sondern dass man sich darüber austauscht. Was es leider selbst in einer Kinooase wie dem „Casino“ nicht gab, waren Retrospektiven mit dem Gesamtwerk einzelner Künstler. So konnte man bedauerlicherweise nur schwer Entwicklungen verfolgen.
Online-Redaktion: Wie ist die Kinodichte heute in Ihrem FILMERNST-Land Brandenburg?
Bretschneider: Die Situation der Lichtspielhäuser in Brandenburg war einer der Gründe, warum wir FILMERNST einst ins Leben gerufen haben. Um die Jahrtausendwende verschwanden immer mehr Kinos aus den Kleinstädten. Wir wollten zum Erhalt beitragen, indem wir schon bei den jungen Zuschauern Begeisterung für das Kino schüren. Und die Situation hat sich eigentlich insofern positiv entwickelt, dass fast alle, die es 2004 gab, noch heute existieren – etwa 35 Kinos.
Und mit rund 25 dieser Häuser arbeiten wir regelmäßig zusammen – anfangs sind es sechs gewesen. Was herausfällt, sind die Multiplexe. Nicht, weil die nicht interessiert wären, aber für die lohnt es sich nicht, das ganze Riesengebäude zu öffnen, wenn wir vormittags nur einen Saal bespielen. Ein Drittel unserer FILMERNST-Kinos sind dementsprechend Ein-Saal-Kinos mit privaten Betreibern.
Online-Redaktion: Was heißt „lohnt sich nicht“? Über welchen Preis für die Kinokarte reden wir?
Bretschneider: Wir nehmen von den Schülerinnen und Schülern 4 Euro Eintritt, die komplett den Kinos bleiben. Mit den SchulKinoWochen, die wir für das Land Brandenburg jeweils im Januar in Kooperation mit „Vision Kino“ organisieren, und dazu noch den FILMERNST-Terminen als Angebote für einzelne Schulen kommen rund 30.000 Schülerinnen und Schüler zusammen. Das sind jährlich 120.000 Euro – ein Posten, mit dem die Kinos durchaus rechnen.
Bedauerlicherweise sind uns letztes Jahr vier Kinos einer kleinen Kette abgesprungen, weil ihnen dieser ermäßigte Eintrittspreis zu gering war. Und leider liegen diese Lichtspielhäuser auch noch in Orten mit vielen Schulen: in den Städten Brandenburg, Neuruppin, Oranienburg und Prenzlau. Einige Lehrerinnen und Lehrer, die FILMERNST sehr verbunden sind, haben uns geschrieben, wie sehr sie FILMERNST für ihren Unterricht vermissen.
Zum Glück ist das Union-Kino in Prenzlau jetzt doch wieder dabei, denn dort ist der Bürgermeister Hendrik Sommer selbst filmbegeistert. Die Stadt übernimmt nun die Differenz des Kartenpreises von jeweils einem Euro, sodass unsere Filmvorführungen weiter stattfinden können.
Online-Redaktion: Kinos waren längere Zeit geschlossen. Wie sieht die aktuelle Situation aus?
Bretschneider: Die Kinos haben die drei Monate ganz gut überstanden. Problematischer ist für sie jetzt eher die seit Anfang Juni mögliche Wiedereröffnung, denn es fehlen die Premierenfilme, die sonst das Geld einspielen. Die Filmstudios haben ihre neuen Filme meist schon Streaming-Diensten überlassen oder auf Ende des Jahres verschoben. Die Abstandsregeln sind natürlich auch ein Problem. Für Kinobetreiber ist es schwierig, die Kosten bei halbem Spielbetrieb aufzubringen.
Wir haben unsere 25 Kinos angeschrieben und gefragt, ob sie auch unter diesen Bedingungen der Hygiene- und Abstandsregelungen weiter mit uns zusammenarbeiten. Noch diesen Monat werden wir ein Stimmungsbild haben, und ich bin da ganz zuversichtlich. Uns sind zumindest durch die Krise bis auf Eisenhüttenstadt keine Kinos verloren gegangen, Eisenhüttenstadt hat aber weniger mit Corona zu tun, und das muss auch nicht das endgültige Aus bedeuten. Als zum Beispiel das Kino in Schwedt schließen müsste, haben die Stadtwerke es übernommen und führen es jetzt in Eigenregie weiter – letztes Jahr hatten wir da die zweithöchste Besucherzahl bei FILMERNST.
Online-Redaktion: Wer steht hinter dem Medienbüro FILMERNST?
Bretschneider: Meine Kollegin Jana Hornung, eine erfahrene Medienpädagogin, und ich leiten das Projekt, auf freiberuflicher Basis. Unsere dritte Kollegin Kathrin Lantzsch kümmert sich um die Organisation der konkreten Termine mit Kinos und Verleihen, und Susanne Guhlke ist speziell in der Uckermark aktiv. Monika Reimann und Regine Jabin unterstützen uns in organisatorischen und anderen wichtigen Dingen.
Angesiedelt ist unser Projekt – wir sind ja kein Verein – beim Filmverband Brandenburg. Finanziell gefördert werden wir vom Medienboard Berlin-Brandenburg, und unsere Schirmherrin ist die Bildungsministerin des Landes Brandenburg. Ein Büro haben wir im Landesinstitut für Schule und Medien (LISUM), unserem Partner und Verbündeten von Anfang an. Diese Zusammenarbeit bietet den Riesenvorteil eines leichteren Zugangs zu den Schulen. Für das Medienboard sind wir eines der wichtigen Projekte im medienpädagogischen Bereich – und die kontinuierliche Förderung unterstreicht diese Wertschätzung.
Online-Redaktion: Wie viele Veranstaltungen für Schulen organisieren Sie im Jahr?
Bretschneider: Etwa 190 FILMERNST-Veranstaltungen, hinzu kommen rund 160 Veranstaltungen während der SchulKinoWochen im Januar. Anfangs hatten wir noch bis zu fünf Medienpädagogen engagiert, die als Moderatoren jeden Film mit einer Einführung und einem Filmgespräch begleitet haben. Inzwischen stellen wir den Schulen Begleitmaterialien zur Verfügung und bitten die Lehrkräfte, mit diesen Materialien die jeweiligen Filme mit ihren Schülerinnen und Schülern vor- und nachzubereiten. Eine Moderation gibt es nur noch dann, wenn die Schulen dies ausdrücklich wünschen. Das schmerzt uns, aber es sind einfach zu viele Veranstaltungen geworden, als dass wir das für alle Termine leisten könnten, wie wir uns das am Beginn von FILMERNST vorgenommen hatten.
Online-Redaktion: Warum muss der Film einen Platz in der Schule haben?
Bretschneider: Film ist ein leichter Anknüpfungspunkt für die Arbeit mit Kinder und Jugendlichen. Kinder und Jugendliche gucken heute mehr Filme denn je. Aber es gibt auch immer mehr Kinder, die noch nie im Kino waren. Für die ist unser Schulkino ihr erster Kinobesuch. Aber auf jeden Fall sind Kinder und Jugendliche für das Kino eher zu begeistern als vielleicht für Theater und Museen, es ist sozusagen niedrigschwelliger.
Die Filme, die wir auswählen, berühren wichtige historische, gesellschaftliche und soziale Themen, die auch im Unterricht eine Rolle spielen. Und dafür öffnen die Filme, die wir zeigen, oft neue Horizonte: Wir spielen Produktionen aus aller Welt. Die Filme versetzen die Kinder und Jugendlichen so in andere, ihnen unbekannte Regionen – und das in einer überschaubaren Zeit von meistens nur zwei Stunden.
Online-Redaktion: Was motiviert Lehrkräfte, das Angebot von FILMERNST zu nutzen?
Bretschneider: Ganz am Anfang haben einige Lehrerinnen und Lehrer unser Angebot mit einem Wandertag, wie sie ihn von früher kannten, verwechselt. Einem bequemen Wandertag, wo man mal hingeht und die Kinder für zwei Stunden abgibt. Da haben wir kräftig gegengesteuert. Heute wissen unsere Lehrkräfte, dass wir für die Teilnahme eine ernsthafte und gründliche Auseinandersetzung mit den Filmen voraussetzen. Sie wissen das zu schätzen und schreiben uns das auch, dass die Schülerinnen und Schüler mit Hilfe der Filme ihr Wissen erweitern können.
Manche Lehrerinnen und Lehrer rufen uns an und fragen gezielt, ob wir zu einem bestimmten Unterrichtsthema einen Film und einen Experten empfehlen können. 20 Prozent unseres Angebots sind inzwischen solche „Wunschfilme“. Und für einige Lehrkräfte sind die Filme nach eigener Aussage selbst ein Erlebnis.
Während der SchulKinoWochen befragen wir die Lehrerinnen und Lehrer im Anschluss mit detaillierten Fragebögen und stellen erfreut fest, wie viele mit unseren Materialien arbeiten. Manche nehmen sich bis zu drei Stunden Zeit für die Nachbereitung des Films! Das Schöne ist, dass die Nachfrage der Schulen eher noch steigt. Und die Kinos wären noch mehr Terminen nicht abgeneigt. Wir könnten noch mehr machen.
Online-Redaktion: Wie wählen Sie die Filme aus?
Bretschneider: Wir zeigen in der Regel Filme, von denen die Schüler, aber auch ihre Lehrer oft noch nie gehört haben. Dabei sind auch viele Dokumentarfilme, wie zum Beispiel im vergangenen Jahr „Die Wiese – Ein Paradies nebenan“, ein Naturfilm aus Bayern, in dem es um Artenschutz geht. Viele dieser Produktionen haben Schwierigkeiten, einen Verleiher zu finden. Sie kommen hier in Brandenburg häufig nicht mal in die Kinos.
Bei den Lehrerinnen und Lehrern müssen wir für diese Filme werben. Wir müssen sie mit wenigen Worten dafür begeistern, dass das etwas sein kann, was zur Bereicherung ihres Unterrichts beiträgt. Ein Höhepunkt unseres Programms – und nach wie vor aktuell und einsatzbereit – ist unsere Reihe „Die DDR im (DEFA-)Film: Vergangenheit verstehen, Demokratiebewusstsein stärken“.
Online-Redaktion: Ist Ihnen eine FILMERNST-Veranstaltung besonders im Sinn geblieben?
Bretschneider: Die herausragendste und unvergesslichste FILMERNST-Veranstaltung bis jetzt ist zweifellos jene mit Roman Polanskis „Der Pianist“ mit Schülerinnen und Schüler aus Potsdam und Szczecin gewesen. Wir hatten den Sohn und die Ehefrau des Pianisten, Andrzej und Halina Szpilman, zu Gast, und die ukrainische Pianistin Kateryna Tereshchenko hat Szpilman- und Chopin-Kompositionen gespielt. Eine Geschichtsstunde der ganz besonderen Art, eben sehend lernen.
Für den DEFA-Film „Berlin – Ecke Schönhauser“ von 1957 hatten wir ein sehr schönes Podium im Filmmuseum Potsdam mit Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase und dem kürzlich leider verstorbenen Schauspieler Ernst-Georg Schwill, damals der Hauptdarsteller und zuletzt aus dem Berliner TATORT bekannt. Schwill, der ein Urberliner war, erklärte in dem Gespräch mit den Pädagogen gleich mal, er habe nichts dagegen, wenn man Kindern „auch mal den Hintern versohlt“. Eisiges Schweigen im Publikum. Kohlhaase versuchte zu glätten: „Na ja, hat ja bei uns nicht geholfen.“ Schwill ließ sich aber nicht bremsen: „Geschadet hat es auch nicht.“
Schön war auch eine Veranstaltung mit Winfried Junge, der am bekanntesten durch seine filmische Langzeitstudie „Die Kinder von Golzow“ geworden ist. 1967 hat er seinen einzigen Spielfilm gedreht, den Kinderfilm „Der tapfere Schulschwänzer“ über einen Viertklässler, der an einem sonnigen Tag einfach die Schule schwänzt, durch Berlin schlendert, unvermutet zum Helden wird und das wegen der Schwänzerei verleugnen muss. Den Film haben wir Grundschülern in Babelsberg gezeigt, und die Kleinen haben so viele Fragen gestellt, das war wunderbar.
Online-Redaktion: Macht FILMERNST auch Angebote am Nachmittag? Bei den vielen Ganztagsschulen in Brandenburg ist das naheliegend...
Bretschneider: Bislang leider nicht. FILMERNST wird eher als Teil des Unterrichts gesehen. Die Schulen und auch die Kinos sind bisher an Vormittagsterminen interessiert, also der klassischen Unterrichtszeit. Durch Ihre Anfrage bin ich jetzt ins Nachdenken gekommen, da mehr versuchen zu wollen. Wir haben deshalb in unserem Brief an die Kinos, den wir vergangene Woche abgeschickt haben, gefragt, ob sie auch Nachmittagsterminen gegenüber offen wären.
Ich bin ein großer Fan der Filmclub-Bewegung, und mir schwebte schon länger vor, mit einigen Schulen intensiver zusammenzuarbeiten, vielleicht Filmclubs von Schülerinnen und Schülern über mehrere Jahre mit passenden Filmen zu begleiten, mit ihnen zu reflektieren, ob und wie sie bestimmte Filme geprägt und beeinflusst haben. Das fände ich sehr reizvoll. Es gibt da Kinobetreiber unter anderem in Fürstenwalde und in Kleinmachnow – wenn man zu ihnen mit so einem Plan ankommt, dann sagen die erstmal: „Ja“. Warum sollte das mit Ganztagsschulen nicht funktionieren?
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
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