"Zusammenleben in der Schule ist ein Lerngegenstand" : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Im Bereich der Kindertagesstätten sind die Kirchen als Träger bereits stark engagiert. Gibt es auch die Bereitschaft, an Ganztagsschulen Angebote zu machen? Oder sieht man die Ausweitung des Unterrichts als Konkurrenz zu eigenen Angeboten in der Jugendarbeit? Wir sprachen mit Oberkirchenrat Dr. Jürgen Frank, dem Bildungsexperten der Evangelischen Kirche Deutschlands.
Online-Redaktion: Herr Frank, wo sind die Berührungspunkte der Evangelischen Kirche in Deutschland mit den Ganztagsschulen?
Frank: Die Gesamtthematik beschäftigt uns schon seit längerem, weil wir in einem Dreiklang von Schulen, Kirchengemeinden und Kommunen denken. Diesen würde ich als unseren sozialräumlichen Ansatz bezeichnen. Bereits in der Vergangenheit sind regional einzelne Träger der Jugendarbeit auf die Schulen zugegangen und haben Schülercafés eingerichtet oder waren in das Nachmittagsangebot der Schule integriert. Die Öffnung der Schulen nach außen ist von der Kirche in unterschiedlichster Form aufgenommen worden, und die Kirche hat dabei ihre Möglichkeiten als außerschulischen Lernort angeboten. Die Schule ist in kirchliche Bereiche reingegangen wie zum Beispiel bei Diakonie-Praktika, und auf der anderen Seite sind wir in die Schulen reingegangen.
Die ganze Ganztagsschulthematik hat also aus unserer Sicht schon mal einen Vorlauf. Wir haben mit dem Burkhardthaus in Gelnhausen eine zentrale Institution, in der Weiter- und Fortbildungen im Bereich der Jugend- und Jugendsozialarbeit angeboten wird. Dort hat man sich dieses Themas auch schon seit längerem durch Konsultation angenommen.
Vor diesem Erfahrungshintergrund ist noch etwas zu sehen: Die Evangelische Kirche mit ihren verschiedenen Trägern hat ja auch evangelische Schulen, und diese evangelischen Schulen - besonders im süddeutschen Raum - bieten seit längerem nicht verpflichtende Nachmittagsangebote in Form von Arbeitsgemeinschaften, Förderangeboten und Projekten an, die dem sehr nahe kommen, was wir mit Ganztagsschulen verbinden.
Als jetzt nach PISA und den Folgeuntersuchungen klar war, dass wir uns im Ganztagsschulbereich stärker engagieren sollten, hat die evangelische Kirche der Pfalz eine Vorreiterrolle übernommen, indem sie vertragliche Vereinbarungen mit den dortigen Schulträgern abgeschlossen hat. Dort wird festgelegt, welche Ressourcen die Kirche besonders aus dem Bereich Jugendarbeit zur Verfügung stellt, aber auch aus anderen Arbeitsfeldern, zum Beispiel der Kirchenmusik und der Familienbildung.
Online-Redaktion: Gibt es auch Konfliktbereiche?
Frank: Es gibt Verhandlungsnotwendigkeiten in einzelnen Regionen, weil die Kirche mit ihren eigenen Angeboten wie dem Konfirmanden-Unterricht, der ja nachmittags stattfindet, darauf achten muss, dass es zu keinen Kollisionen der Ganztagsschule mit den Angeboten der Jugendarbeit im kirchlichen Bereich kommt. Funktionierende und intakte Angebote dürfen nicht zerstört werden. Diese sind ja auch sozialisationsbegleitend und Orte informellen Lernens und haben oft eine hohe pädagogische Qualität.
Online-Redaktion: Halten Sie Ganztagsschulen gesellschafts- und bildungspolitisch denn für einen richtigen Weg?
Frank: Ich kann Ihnen unsere Position am Beispiel der Kindertagesstätten erläutern, die für uns das Paradigma in dieser Frage darstellen. Die evangelische und die katholische Kirche halten zusammen rund 50 Prozent aller Kindertagesstätten. Da sind wir ja noch viel stärker gefordert, uns dieser Gesamtproblematik anzunehmen, und es wird uns Folgendes deutlich: Wegen der Berufstätigkeit der Frauen und ihrer Bereitschaft, Familien zu gründen, haben wir immer für ein flächendeckendes Angebot bei Kindertagesstätten plädiert. Auf diese Weise kann hinsichtlich des sozial-integrativen Konzepts und des Förderkonzepts genug getan werden, und man berücksichtigt auch die veränderte Situation in den Familien mit vielen Alleinerziehenden. Dies lässt sich in gleicher Weise auf unsere Vorstellungen anwenden, welche gesellschafts- und bildungspolitische Funktion Ganztagsschulen haben. Wir brauchen eine Erziehungspartnerschaft zwischen Elternhaus und Schule, die flexibel und vielfältig ausgestaltet wird. Hierfür bietet die Kirche zahlreiche Unterstützungssysteme. Dazu zählen die Familienbildungsstätten und Familienberatungseinrichtungen ebenso wie die Religionspädagogischen Institute und die Evangelischen Akademien, um nur einige zu nennen.
Online-Redaktion: Wäre da die flächendeckende Einführung von Ganztagsschulen nicht die logische Folgerung aus dieser Problematik?
Frank: Nein, unserer Meinung nach - und das belegen auch eine Vielzahl von Untersuchungen - muss der sozial-integrative Aspekt mit der unverzichtbaren Unterstützung durch das Elternhaus ausbalanciert sein. Daher haben wir auch erhebliche Reserven gegenüber einer flächendeckenden, verbindlichen Ganztagsschule. Wo die Tradition in dieser Form nicht besteht, ist das vermutlich auch nicht zu stemmen. Ich beobachte zum Beispiel in vielen Bundesländern, dass der angemeldete Bedarf gar nicht befriedigt werden kann, weil die Mittel nicht ausreichend zur Verfügung stehen. Und aus der evangelischen Perspektive gesehen, fehlen auch das Personal und die Konzepte. Meiner Meinung nach wäre die von vielen kritisierte, so genannte Sandwich-Lösung - morgens Unterricht, nachmittags Betreuung - verantwortungslos. Das wird keine Akzeptanz finden.
Online-Redaktion: Was schlagen Sie statt dessen vor?
Frank: Wir finden, dass man durchaus regional mit gebundenen Ganztagsschulen Erfahrungen sammeln sollte. Es müsste ein Ganztagsschulkonzept entwickelt werden, dass die räumlichen Ressourcen und die entsprechenden Gestaltungsmöglichkeiten eines ganztägigen Aufenthalts in der Schule garantierte. Und die Betreuer und Pädagogen, die in die Ganztagsschulen gehen, müssten auch ausreichend qualifiziert sein. Nebenbei kritisch angemerkt: Viele, die jetzt auf diesen Markt drängen, sehen auf diese Weise auch eine Möglichkeit, ihr Personal zu refinanzieren. Bei vielen Trägern bin ich jedenfalls nicht sicher, ob auf Dauer die kontinuierliche sozialpädagogische Betreuung geleistet werden kann, die nötig wäre. Auch unsere Lehrerausbildung ist momentan noch nicht dazu geeignet, von jetzt auf gleich auf ein Ganztagsschulangebot umzuschalten. Denn auch von den Lehrerinnen und Lehrern würden mehr fördernde oder persönlichkeitsentwickelnde Maßnahmen und beraterische Tätigkeiten gefordert. Man kann nicht davon ausgehen, dass alle für diese Funktionen qualifiziert sind.
Die Frage der flächendeckenden Einführung stellt sich für uns also erst mal nicht. Hinsichtlich der Finanzen und des Personals ist das eine unrealistische Forderung. Ich beurteile die ganze Situation von einem anspruchsvollen Qualitätsstandpunkt aus, den ich auch in der Debatte vertrete. Wir täten uns keinen Gefallen, mit dieser guten Idee in einem unreifen Zustand zu starten. Das ist einer der Gründe, weshalb sich die evangelische Kirche gut vorbereitet auf dieses Feld begibt: Wir bieten uns als Partner dort an, wo wir meinen, die Qualität bringen zu können, die sich für uns mit diesem Arbeitsfeld verbindet.
Online-Redaktion: Alles in allem halten Sie die Ganztagsschule also für sinnvoll?
Frank: Unbedingt. Es gibt Regionen, es gibt soziale Brennpunkte, es gibt Bereiche, in denen man mit dem bisherigen Schulsystem die geforderte kompensatorische Leistung nicht erbringen kann, wenn die Elternhäuser aus den verschiedensten Gründen dazu nicht in der Lage sind. Die Schule ist da nicht nur in ihrer unterrichtenden, sondern auch in ihrer erzieherischen und sozialisationsbegleitenden Potenz gefragt.
Online-Redaktion: Sie haben die Qualität betont. Haben Sie als evangelische Kirche auch eine Vorstellung davon, wohin Ganztagsschulen steuern sollten?
Frank: Die Ergebnisse aus dem Bereich der Jugendstudien zeigen, dass die Orte des informellen Lernens zu einem erheblichen Teil zum Lernerfolg beitragen. Es war uns auch im Forum Bildung klar, dass wir diesen Bereich viel zu wenig in den Blick nehmen. Für uns bedeutet das, die Ganztagsschule sozialräumlich zu denken, was viel zu wenig beachtet wird. In dem Moment, in dem man Ganztagsschulangebote konzeptioniert, muss man sie in das soziale Umfeld einbetten und daraus dann die Partnerschaften gewinnen. Dies ist neben den von mir genannten kompensatorischen, sozial- und familienpolitischen Aspekten ein weiterer Standard für uns.
Online-Redaktion: Vorbehalte gegenüber der Ganztagsschule werden auch aus den Reihen der Kirchen laut, weil viele die Schule als bildenden, aber nicht erziehenden Ort wahrnehmen. Wie ist Ihre Position dazu?
Frank: Der Bildungsbegriff zielt auf den ganzen Menschen und schließt alle Orte und sämtliche Gegenüber im sozialen Umfeld mit ein. Das sind alles Anreger und professionelle Begleiter für den individuell zu vollziehenden Bildungsprozess. Die Verantwortung liegt auch im sich-selber-Bilden, einem Kernelement des christlichen Bildungsverständnisses. Man kann einen Menschen nicht gegen seinen Willen bilden, die Verantwortung liegt bei dem Einzelnen.
Genauso klar ist aber auch, dass es im Interesse der Sozialisation und der Fähigkeit zum Leben in der Gemeinschaft ganz bestimme Normierungen geben muss, die transparent sein und ausgehandelt werden müssen. Auf Schülerinnen und Schüler muss auch in Form von Einübungen bestimmter Verhaltensweisen eingewirkt werden. Es ist ja eine Illusion zu meinen, jede Verhaltensweise würde spontan entschieden. Nein, die ruht auf einem Fundus von angeeignetem und eingeübtem Verhalten.
Das Zusammenleben in der Schule ist ein eigener Lerngegenstand: Die Beziehung zu Erwachsenen, zu Gleichaltrigen und Älteren, der Umgang mit Fremden und Differenzen, die Domestizierung von Gewalt. Das ist nichts, was man dem freien Spiel der Kräfte überlässt, sondern wo Schule ein Selbstbild, ein Leitbild und einen Normenkodex entwickelt, der für alle verbindlich ist. Die Erfahrung mit Grenzen und das Setzen von Grenzen ist ein enorm erzieherisches Handeln. Ob die Lehrerinnen und Lehrer es wollen oder nicht: Das bildende Handeln setzt das erzieherische schon voraus. Insofern halte ich diese Trennung für künstlich und sehe hier keine Konkurrenz. Man müsste eher überlegen, wie man zu einem stärkeren Dialog zwischen Schule und Elternhaus kommt.
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