Zug um Zug zum Selbstvertrauen: Schach in Ganztagsschulen : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
800 Schülerinnen und Schüler in seinem Landkreis haben Schach schon für sich entdeckt. Dafür, dass es noch mehr werden, engagiert sich Horst Leckner vom „Verein Schulschach Landkreis Miesbach e. V.“ in Oberbayern.
Wie Goethe eine seiner – weiblichen – Dramenfiguren sagen lässt: „Dies Spiel ist ein Probierstein des Gehirns.“ Schach soll die Aufmerksamkeit, logisches Denken und das Konzentrationsvermögen stärken. Nach einer Studie der Universität Trier profitieren besonders auch leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler. Im Landkreis Miesbach (Oberbayern) bieten bereits alle Grundschulen und viele weiterführende Schulen ein Schachtraining an. Horst Leckner, der Initiator des Schulschachprojekts, sieht noch weitere Potenziale für Kinder und Jugendliche.
Online-Redaktion: Herr Leckner, Ihr Verein hat Schulschach schon in die Grundschulen Ihres Landkreises, ebenso in Realschulen und Gymnasien gebracht. 2018 haben Sie ein Pilotprojekt für Mittelschulen gestartet. Wie läuft es?
Horst Leckner: Schon in den Jahren zuvor haben wir versucht, Schach auch an die Mittelschulen zu bringen. Aber es fanden sich leider zu wenig Schülerinnen und Schüler in den 6. Klassen, um das längerfristig zu etablieren, so wie es das in den anderen Schularten bereits gab. Mit Unterstützung von Sponsoren haben wir nun eine Art Stipendium geschaffen. 15 Schülerinnen und Schüler an den drei größten Mittelschulen des Landkreises in Holzkirchen, Miesbach und Rottach-Egern erhalten seit einem Jahr und bis zu ihrem Schulabschluss ein regelmäßiges Training von einer Wochenstunde.
Online-Redaktion: Wer führt dieses Training durch?
Leckner: Das ist ein wichtiger Punkt. Die Arbeit mit den Kindern ist hoch anspruchsvoll, und nicht jeder ist dafür geeignet. Es gibt begnadete Schachspieler, die aber nicht in der Lage sind, Schülerinnen und Schülern das Spiel richtig zu vermitteln. Wir hatten das Glück, dass wir einen der besten deutschen Spieler, Schachgroßmeister Michael Prusikin, gewinnen konnten, bei uns mitzumachen.
Er war schon staatlich geprüfter Erzieher, bevor er Schachprofi wurde, und er ist ein hervorragender Trainer. Er leitet seit zehn Jahren den D4-Nachwuchskader der Bayerischen Schachjugend, 2012 und 2016 war er „Trainer des Jahres“. Unter seinem Training sind schon einige Spielerinnen und Spieler Jugendmeister und Frauenmeisterinnen geworden. Leider musste jetzt bei uns aufhören, obwohl es ihm riesig Spaß gemacht hat, weil er mit seiner Familie nach Regensburg gezogen ist. Aber mit Thomas Walter, der beim Schachclub in Erlangen Jugendtrainer gewesen ist und dort große Erfolge gefeiert hat, haben wir einen erstklassigen Nachfolger gefunden. Für die Kinder und Jugendlichen sind beide echte Glücksfälle.
Online-Redaktion: Warum soll Schach auch in Mittelschulen gelernt werden?
Leckner: Im Landkreis unterrichten wir derzeit an Grundschulen und weiterführenden Schulen rund 600 Schülerinnen und Schüler, in der Spitze sind es 800 gewesen. Doch an die sieben Mittelschulen sind wir zunächst nicht herangegangen, nachdem ich einige ernüchternde Erfahrungen gemacht hatte, weil das Interesse nicht so da war. Dennoch war und bin ich überzeugt, dass viele Mittelschülerinnen und -schüler Potenzial haben, gut Schach zu spielen. Ich bin auch fest davon überzeugt, dass Schach gerade bei Kindern, die Frustrationserfahrungen im Schulalltag erlebt haben, bewirken kann, dass sie sehen, es gibt da was, das sie gut können. Das stärkt ihr Selbstbewusstsein, motiviert sie, und sie verbessern sich dann auch insgesamt in ihren Schulleistungen.
Man hat gesehen, dass da auch bei einigen Schülerinnen und Schülern an der Mittelschule Miesbach was geweckt wurde. Ein Schüler zum Beispiel, der so richtig cool getan hat und zunächst mal widerspenstig war, der ist mit der Zeit aufgeblüht. Ich habe ihn langsam rangeführt, ihm leichte Aufgaben gegeben, dass er auch zu Erfolgserlebnissen kam – und nach acht Monaten hat er vor der Klasse gestanden, um den Mitschülern schwierige Aufgaben zu erklären. Noch zwei Jahre nach den acht Monaten, in denen ich dort unterrichtete, habe ich zu Weihnachten und zu Ostern Kartengrüße von den Jugendlichen bekommen.
Online-Redaktion: Wie kam es zu dem Stipendium?
Leckner: Mir hat das einfach keine Ruhe gelassen. Ich fand, dass es eine Möglichkeit geben muss, auch an Mittelschulen etwas zu machen. Unser Verein hat sich daraufhin entschlossen, es zumindest einigen Schülerinnen und Schülern, die wirklich Interesse zeigen, zu ermöglichen, regelmäßig in kleinen Gruppen Schach zu spielen, und sie auch darüber hinaus zu fördern. Dazu haben wir Mittel eingeworben, denn auch wenn man in der Öffentlichkeit immer wieder hört, was für ein tolles Projekt das Schulschachprojekt ist – öffentliche Gelder gibt’s keine dafür. Das ist schade. Gerade für Mittelschülerinnen und -schüler wird da meiner Meinung nach viel zu wenig getan. Es wird einfach zu kurz gedacht und zu wenig berücksichtigt, dass das, was jetzt investiert wird, später vielleicht Gelder im sozialen Bereich sparen kann.
Wir haben 2017 viele Gespräche geführt, wir sind auf offene Ohren und auf verschlossene Ohren gestoßen. Dann sind wir auf die Möglichkeit eines Pilotprojekts mit Stipendiaten gekommen. Die drei kontaktierten Schulen waren hellauf begeistert. 35 Schülerinnen und Schüler haben sich beworben, von denen wir 15 aufnehmen konnten. Ein Bub war so begeistert von seiner Aufnahme, dass er selbst Lesezeichen bastelte, die er dann an seiner Schule verkauft und den Erlös von 50 Euro dem Schulschachverein gespendet hat.
Online-Redaktion: Mit Kosten für die Schülerinnen und Schüler ist das Schachtraining also nicht verbunden?
Leckner: Nein, das kostet die nichts. Die Schülerinnen und Schüler erhalten für das Üben und Spielen daheim jeweils einen Tablet-Computer mit einem Schachprogramm, den sie nach dem Schulabschluss auch behalten dürfen. Auf dem Tablet sind auch Lernprogramme, die sich mit dem Thema "Lernen lernen" befassen. Im Herbst hatten wir auf Wunsch der Schülerinnen und Schüler zu diesem Thema eine Initiative gestartet, und ein Schulleiter hat mit den 15 Schülern einen Kurs gehalten, in dem es unter anderem um die Fragen ging: Wie lerne ich effektiv? Wie setzte ich meine Zeit sinnvoll ein?
Online-Redaktion: Sie fördern die Schülerinnen und Schüler über das Schachspielen hinaus. Warum ist Ihnen das wichtig?
Leckner: Wir unternehmen mit den Schülerinnen und Schülern Ausflüge, besuchen mit ihnen auch mal ein Bundesligaspiel von Bayern München, gehen kegeln, wandern, ins Lokal essen und fahren zusammen nach München ins Theater. Die Kinder sollen Erfahrungen machen, die sie sonst so nicht machen können. Und sie sollen spüren, dass sie uns auch persönlich wichtig sind. Für uns ist das Schulschachprojekt auch ein soziales Programm. Daher war und ist es uns wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler nicht nur am Schach, sondern auch am Fortkommen in der Schule und in ihrem Leben insgesamt interessiert sind.
Das rührt auch aus meinen Erfahrungen an der Mittelschule Miesbach, wo ich mit den Schülerinnen und Schülern ins Gespräch gekommen war, was sie für Ziele im Leben haben, was sie erreichen möchten. Ich habe damals mit ihnen diskutiert, dass sie sich dafür einsetzen müssen, wenn sie diese Ziele erreichen möchten. Ohne Leistung geht nichts.
Online-Redaktion: Kann Schach denn die Leistungsbereitschaft stärken?
Leckner: Schach ist dafür perfekt, denn ohne Anstrengung, ohne Leistung erreicht man beim Schach gar nichts. Wer da seine Übungen nicht macht, der verliert halt. Aber die Kinder wollen nicht verlieren. Die Leistungsbereitschaft, die wir im Schach wecken können, wollen wir auch auf andere Bereiche in der Schule übertragen. Es geht weniger darum, tolle Schachspieler auszubilden, sondern die Schüler sollen sich besser motivieren lernen, bessere Schülerabschlüsse erzielen und so ihre Chancen im späteren Leben erhöhen.
Die Vorteile des Schachspielens wie die Schulung der Konzentrationsfähigkeit, der Ausdauer oder des vorausschauenden Denkens sind in der Wissenschaft und in der Presse schon hinreichend beschrieben und bekannt. Für uns gehört aber noch mehr dazu. Vielen Schülerinnen und Schülern fehlt es an Selbstvertrauen. Wir möchten ihnen vermitteln, dass sie was können, und das weist über das Schachbrett hinaus. Sie sollen spüren, dass jemand sie unterstützt, hinter ihnen steht und sich für sie interessiert. Beim Wandern oder beim Essen kann man da viel leichter ins Gespräch kommen. Das verbindet. Und dann sind sie eher bereit, sich anzustrengen.
Online-Redaktion: Es geht also auch um die Persönlichkeitsentwicklung?
Leckner: Verlieren zu lernen – was glauben sie, was das bei uns für ein Thema ist! Verlieren zu können, gehört auch zum Leben, aber für manche ist das eine neue Erfahrung. Im Laufe der Zeit lernen die Kinder, die Leistung des Gegenübers anzuerkennen und nicht einen Veitstanz aufzuführen. Die Kinder geben sich vor und nach der Partie die Hand und zeigen Respekt für den Gegner. Schön sind die Turniere, bei denen die Gewinner die Verlierer getröstet haben. Ein Mädchen wollte einem anderen, das schwer weinte, sogar ihren Pokal schenken. Es sind auch viele neue Freundschaften unter unseren 15 Schülerinnen und Schülern entstanden, die Kinder treffen sich privat und unternehmen etwas miteinander. Es hat uns überrascht, wie schnell sich das entwickelt hat.
Online-Redaktion: So ein Projekt braucht Mitstreiter. Wer gehört zu Ihrem Team?
Leckner: Unsere Geschäftsführerin Diana Steiner ist hier ganz wichtig und sehr engagiert. Ich bin ganz stolz darauf, dass auch unsere Schulamtsdirektorin Ursula Weiss-Brummer bei uns mitmacht, die bis Sommer 2017 Schulrätin im Kreis Miesbach war und von unserem Projekt begeistert ist. Sie bringt die pädagogische Kompetenz mit und besitzt den Kontakt zu den Schulen. Der Kinder- und Jugendpsychologe Dr. Peter Pohl, der auch zum Kultusministerium gute Kontakte unterhält, begleitet unser Projekt wissenschaftlich. Er wird untersuchen, ob sich die Leistungen und Noten der Schülerinnen und Schüler verändern. Dazu werden die Lehrkräfte schriftliche Beurteilungen nach vorgegebenen Kriterien erarbeiten. Diese Evaluation wird alle sechs Monate fortgeschrieben. Wir sind nach unseren bisherigen Erfahrungen sehr optimistisch, dass wir nach vier Jahren positive Effekte feststellen können.
Online-Redaktion: Wie geht es nach dem Pilotprojekt weiter?
Leckner: Wir arbeiten daran, dass das Schulschachprojekt an allen sieben Mittelschulen im Landkreis angeboten werden kann. Das ist natürlich auch eine finanzielle Frage. Gute Schachlehrer gibt es genug. Wir haben gerade eine vierte Stelle ausgeschrieben und viele Bewerbungen erhalten.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Kategorien: Bundesländer - Berlin
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