Zeit für Physik im Ganztag: „24 Tage sind eine gute Zahl“ : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Er läuft schon mal im Hochsommer im Weihnachtskostüm durch die Uni, um Experimente zu filmen. Mit „Physik im Advent“ und „Zauberhafte Physik“ begeistert der Physiker Prof. Dr. Arnulf Quadt immer mehr Schulen.
Online-Redaktion: Professor Quadt, wir wenden uns einer vorweihnachtlichen Physikstunde zu: Seit nunmehr einem Jahrzehnt lädt der Adventskalender „Physik im Advent“ Schülerinnen und Schüler zu Experimenten ein. Wie ist die Idee dazu entstanden?
Prof. Dr. Arnulf Quadt: Eigentlich gab es mehrere Anlässe. Einer ist privater Natur. Ich wollte meiner eigenen Tochter nahebringen, womit ich mich so den ganzen Tag beschäftige, und wollte ihr zeigen, dass selbst die eigene Beschäftigung und das Leben daheim häufig etwas mit Experimentieren, mitunter eben auch mit physikalischen Phänomenen zu tun hat. Gleichzeitig wurde ich als neu hinzugekommener Professor an der Georg-August-Universität Göttingen gebeten, ein unterhaltsames physikalisches Kolloquium zu organisieren.
An der Uni in Bonn hatte ich schon einmal eine Physik-Show erlebt und kannte beispielsweise „Mathe im Advent“. Aus der Summe all dieser Eindrücke war schnell die Idee geboren, Schülerinnen und Schülern eine Möglichkeit zu bieten, ohne großen Aufwand ihren Forschergeist ausleben zu können – „Physik im Advent“ war geboren.
Online-Redaktion: Warum in der Adventszeit?
Quadt: Zum einen haben mich die bereits existierenden Konzepte wie das eben erwähnte „Mathe im Advent“ fasziniert. Zum anderen benötigt man für so etwas eine vernünftige Zahl von Experimenten. Wir möchten einerseits, dass sich die Schülerinnen und Schüler über einen gewissen Zeitraum kontinuierlich mit dem Thema und mit physikalischen Phänomenen beschäftigen. Einzelaktionen, wie beispielsweise ein monatliches Experiment, bleiben nicht so im Bewusstsein hängen. Gleichzeitig sollen die Schülerinnen und Schüler nicht überfordert werden. Sich täglich auf etwas Unbekanntes einzulassen, sich vorzubereiten, gegebenenfalls auch einmal ein Material beim Nachbarn auszuleihen und anschließend das Experiment durchzuführen, erfordert und schult Durchhaltevermögen und Geduld. Das möchten wir nicht überstrapazieren. 24 Tage am Stück sind eine gute Zahl.
Online-Redaktion: Wer kann sich beteiligen?
Quadt: In erster Linie richtet sich unser „PiA“ an 11- bis 18-jährige, auch wenn Jüngere und Ältere auch mitmachen können. Für die Hauptzielgruppe loben wir attraktive Preise aus – sowohl für solche, die alleine experimentieren, für Klassen oder auch ganze Schulen. Die Anleitung gibt es in deutscher und englischer Sprache, aber auch mit Untertiteln etwa auf Französisch, Italienisch, in diesem Jahr auch Litauisch oder im vergangenen Jahr auch Ukrainisch. Entsprechend kommen die Nutzerinnen und Nutzer aus weltweit rund 80 Ländern. Es beeindruckte uns schon sehr, dass sich 1200 Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine beteiligten, während um sie herum Bomben fielen.
Online-Redaktion: Und wie läuft es in der Adventszeit üblicherweise?
Quadt: Um 5 Uhr morgens kann das jeweilige Türchen, in dem sich dahinter als YouTube-Film das Tages-Experiment verbirgt, geöffnet werden. Um 23 Uhr wird es, angepasst an die jeweilige Zeitzone geschlossen, denn wir möchten, dass die jungen Menschen trotz des spannenden und faszinierenden Experiments irgendwann auch Schluss machen und ihren Schlaf bekommen. Jeder Tag wird mit einer kleinen Alltagsgeschichte von der Weihnachtsfrau/dem Weihnachtsmann eingeleitet, dann folgt das Experiment, und anschließend müssen die Schülerinnen und Schüler aus einer von vier Antwortmöglichkeiten auswählen. Offensichtlich passt das Konzept. 2012 sind wir mir rund 14.000 Teilnehmenden gestartet, heute registrieren wir jährlich rund 70.000.
Online-Redaktion: Eine Menge Aufwand…
Quadt: Zu Beginn habe ich das alleine gestemmt, inzwischen sind wir ein kleines Team. Wir überlegen uns Experimente. Das war anfangs leicht, doch nun, wo bereits etwa 240 Ideen umgesetzt wurden, muss man noch etwas kreativer werden. Dann müssen die Begleitfilme und Instruktionen gedreht und geschrieben werden. Schulen, Kooperationspartner, die „PiA“ auf ihren Webseiten bekannt machen, und jene, die uns mit Spenden und Sachpreisen unterstützen, müssen angesprochen, gewonnen und gepflegt werden. Eigentlich begleiten uns Weihnachtsmann und ‑frau täglich. Es ist schon witzig, wenn wir im Weihnachtskostüm im Hochsommer durch die Uni zur Aufnahme der Filme mit den Experimenten laufen.
Online-Redaktion: Was motiviert Sie und Ihre Unterstützer?
Quadt: Zum einen möchten wir natürlich die Freude an Physik mit all ihrer Facetten den jungen Menschen nahebringen. Wenn das gelingt, spüren wir die Faszination der Naturwissenschaften. Viele Lehrerinnen und Lehrer, deren Klassen sich an „PiA“ beteiligen, staunen nicht schlecht, wie intensiv ihre Schülerinnen und Schüler sich mit der täglichen PiA-Aufgabe beschäftigen und über ihre Erfahrungen und Ergebnisse diskutieren. Mehr als einmal habe ich schon gehört: „Die reden ja viel mehr über Physik als in meinem Unterricht.“
Unsere Kooperationspartner und Unterstützer schätzen natürlich auch den Effekt, für diese Alters- und Zielgruppe sichtbar zu werden. Deshalb loben manche Unternehmen auch Besuche in ihren Betrieben aus. Auch in der Hoffnung, Fachkräfte von morgen in bis dahin möglicherweise noch völlig unbekannten Berufsbildern zu binden. Manchmal sogar richtige Talente zu entdecken. Das gelingt übrigens auch immer wieder einmal im Unterricht, weil eine Lehrkraft plötzlich eine besondere Begabung einer Schülerin oder eines Schülers erkennt und fördern kann. Dann wandelt sich Physikunterricht mitunter zum Talentscouting durch Physikalischen Breitensport.
Online-Redaktion: Welche Preise winken den Teilnehmenden?
Quadt: Die Palette reicht von Büchern und T-Shirts über Experimentierkästen, Tablets, Besuche an außerschulischen Lernorten wie Wissenschaftsmuseen oder naturwissenschaftlich-technischen Unternehmen, dem Gewinn eines Auftritts der Physikshow der „Physikanten“ bis hin zu unserem Hauptpreis, einer Reise zu einem Spiel der Dallas Mavericks, dem früheren Club von Dirk Nowitzki. Aber auch der Besuch einer ehemaligen Zeppelinwerkstatt, in der heute Bausteine für Flugzeuge hergestellt werden, oder ein Fallschirmsprung in einem vertikalen Windkanal sind begehrt.
Online-Redaktion: Deutschland blickt auf große Physiker wie Albert Einstein, Max Planck oder Gustav Hertz zurück, nicht zu vergessen die Nobelpreisträger Peter Grünberg und Klaus Hasselmann. Warum aber tun sich Schülerinnen und Schüler nicht selten schwer mit dem Fach Physik?
Quadt: Ich möchte nicht über den Physikunterricht in den Schulen urteilen. Sicher aber ist, dass er besonders motivierend und erfolgreich wirkt, wenn er möglichst praxisnah und mit Alltagsbezug angeboten wird. In Deutschland steht häufig die Theorie im Vordergrund. Doch wir wissen, dass selber forschen schlau macht. Ich kann als Lehrkraft natürlich ein Experiment oder einen Versuch „vormachen“. Ich fürchte nur, dass dabei nicht viel bei den Schülerinnen und Schülern hängenbleibt. Ich kann sie aber auch selbst experimentieren lassen, denn Physik kann man spüren. Was man selbst einmal entdeckt hat, vergisst man nicht mehr.
Online-Redaktion: Ein Beispiel bitte…
Quadt: Füllen Sie eine Tasse mit Kaffee oder Kakao und schlagen mit dem Löffel auf den Rand. Anschließend schütten Sie Zucker hinein, rühren um und schlagen mit dem Löffel wieder auf den Rand. Schon entdecken Sie Veränderungen in der Frequenz der Töne. Als Lehrkraft kann ich dann beispielsweise einzelne Parameter verändern, wie etwa die Größe des Gefäßes. Schnell merkt die Schülerschaft, welche Auswirkung veränderte Parameter haben.
Oder auch spannend: Bläst man mit einem Strohhalm in Milch, entstehen Blasen. Die Erkenntnis, dass eine einzelne Blase immer rund ist, sich aber Kanten und Ecken bilden, wenn sich die Blasen berühren, ist faszinierend. Übrigens: Wenn jemand ein Zubehör für ein Experiment nicht hat, kann er sich als „Gedankenexperimentierer“ oder durch Internet-Recherche auch beteiligen. Hauptsache, er beschäftigt sich mit Physik.
Online-Redaktion: Tun sich Mädchen mit Physik oder insgesamt den Naturwissenschaften schwerer als Jungen?
Quadt: Das ist in der Tat ein interessantes Phänomen. Wir stellen bei uns kaum Geschlechterunterschiede fest. Möglicherweise allerdings, weil die Beschäftigung damit im anonymen Feld des Internets möglich ist. Tatsächlich wissen auch wir, dass Mädchen ab der Pubertät zwar Interesse haben an Physik, es aber nicht zeigen wollen. Vermutlich weil sie fürchten, ihr „Ansehen“ könne sinken, wenn sie sich mit „so etwas“ auseinandersetzen.
Online-Redaktion: Ganztagsschulen versprechen mehr Zeit fürs Lernen. Wie kann Physik den Ganztag bereichern?
Quadt: Experimente benötigen mitunter Zeit. Etwa, wenn wir Wasser in einen Joghurtbecher füllen und diesen zwei Stunden ins Gefrierfach stellen. Mit Vorbereitung und Auswertung gehen schnell einige Stunden ins Land. Das kann man durch eine Verknüpfung von Unterricht und Ganztag, beispielsweise in Arbeitsgemeinschaften, besser durchführen. Häufig haben Schulen in den AGs mehr Freiraum, sich losgelöst von den Erfordernissen des Lehrplans kontinuierlich mit einem Thema, einem Phänomen zu beschäftigen. Hinzu kommt, dass die Schülerinnen und Schüler im Kopf freier für ihre Versuche sind – sie werden ja nicht benotet. Wunderbar ist auch, wenn AGs jahrgangsübergreifend organisiert sind und Ältere die Jüngeren ein Stück weit an die Hand nehmen. Denn moderne Naturwissenschaften sind Teamwork.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
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