Wie viel Schulsozialarbeit braucht die Ganztagsschule? : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf

Noch vor zehn Jahren war die Schulsozialarbeit kaum mehr ein Thema. Doch im Gefolge des Ganztagsschulausbaus und des gesellschaftlichen Wandels erlebt sie ein unerwartetes Comeback. Unter der Überschrift "Wie viel Schulsozialarbeit braucht die Schule?" diskutierten am 5. November 2008 rund 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus dem gesamten Bundesgebiet über das Düsseldorfer Modell und die Ziele der Zusammenarbeit von Ganztagsschulen und Schulsozialarbeit.

Die Schulsozialarbeit, dies hat die "Studie zur Entwicklung der Ganztagsschulen" (StEG) herausgefunden, ist der größte außerschulische Partner von Ganztagsschulen in Deutschland. Während sie in vielen Kommunen allerdings eher eine Feuerwehrfunktion einnimmt, spielte sie in Düsseldorf sogar eine Vorreiterrolle beim Aufbau der Ganztagsschulen: "Die AWO hat die Stadt Düsseldorf zur Schulsozialarbeit inspiriert", so Johannes Horn, Amtsleiter im Jugendamt Düsseldorf während der gut besuchten Tagung, die von der AWO-Bundesakademie in Kooperation mit dem AWO-Kreisverband Düsseldorf veranstaltet wurde.

Laut Bernd Flessenkemper, Vorsitzender der AWO Düsseldorf, kam der kommunale Bericht der Stadt Düsseldorf im Jahr 1999 zu der Erkenntnis, dass in der reichen Landeshauptstadt rund 22.000 Mädchen und Jungen in Armut leben. So wurde der Handlungsbedarf nicht nur früh erkannt, es wurde auch rasch gehandelt. "Die Schulsozialarbeit kann für Schulen eine zentrale Rolle spielen und unter anderem benachteiligte Kinder und Jugendliche gezielt fördern", fügte Flessenkemper hinzu.

Ein Sprung über die Quartiersgrenzen

Mit der Schulsozialarbeit gerieten auch die außerschulischen Lernorte in den Fokus der Zusammenarbeit zwischen der Jugendhilfe und den Schulen. Dazu Anita Garth-Mingels, Geschäftsführerin der AWO Düsseldorf: "Es gibt viele Kinder in Düsseldorf, die ihr Stadtviertel noch nie verlassen haben." Obwohl der Rhein praktisch vor ihrer Haustür liegt, habe erst die Schulsozialarbeit in Düsseldorf es ihnen ermöglicht, den Rhein zum ersten Mal selbst in Augenschein zu nehmen.

Eine Kooperation mit dem Verband der europäischen Spitzenköche bringt ferner das Thema Schulverpflegung und gesunde Ernährung in die Klassenräume. Auch ein Film der AWO, "Kinder bestimmen die Gestaltung der Schule", den die Schulsozialarbeiterin Karin Würth an der Theodor-Heuss-Schule in Düsseldorf-Wersten auf der Tagung vorführte, verdeutlichte die gute Zusammenarbeit zwischen der Ganztagsgrundschule und der Schulsozialarbeit.

"Kinder in Armut gehen der Gesellschaft verloren"

Die Vorreiterrolle, die Düsseldorf in der Schulsozialarbeit eingenommen hat, besitzt mit Davorka Bukovcan, Leiterin der Schulsozialarbeit, ein Gesicht. Die gebürtige Kroatin erkannte bereits im Jahr 1981, dass viele Schulen mit den besonderen Anforderungen bei der Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, aber auch mit sozialen Problemen überfordert waren. In dieser Situation nahmen die Schulen gerne die Unterstützung der Schulsozialarbeit in Anspruch.

Gegenwärtig seien nun immer mehr Kinder von Armut betroffen. "Kinder in Armut gehen der Gesellschaft verloren", warnte Bukovcan. Die Sozialpädagogen der AWO fördern die Kinder und Jugendlichen heute in ihrer Persönlichkeitsentwicklung, den sozialen Kompetenzen, der Berufsorientierung oder in Erziehungsfragen. Sie sind gegenwärtig flächendeckend an zwölf Grund-, Haupt- und Förderschulen mit einer Stelle Sozialarbeit aktiv und leisten im Rahmen des Ganztagsangebotes Unterstützung beim Mittagessen, bei der Hausaufgabenbetreuung und in der Elternarbeit. "163 Kolleginnen und Kollegen betreuen gegenwärtig in der Offenen Ganztagsgrundschule 1200 Kinder", führte Bukovcan aus.

Die Schulsozialarbeit der AWO Düsseldorf bringt ihre Professionalität auch an der Schnittstelle zwischen Schule und Beruf ein. So bietet das Berufsbildungszentrum (BBZ), das dieses Jahr sein 30-jähriges Bestehen feierte, den über 1100 Teilnehmern von Berufbildungsmaßnahmen und Auszubildenden eine Fülle von Angeboten wie Buchbinden, Drucken, Holz und Metall, Floristik, Friseur oder Handel an.

Mit der beruflichen Bildung ist ferner eine Brücke zwischen der Schule, dem Elternhaus und den Jugendlichen vorhanden - so zum Beispiel im Projekt "Step by Step", das Haupt- und Förderschülern den Übergang von der Schule in den Beruf ebnet. Frühzeitig werden in den offenen Ganztagsgrundschulen an 20 Standorten rund 1.700 Kinder erreicht.

Ohne die präventive Arbeit in Gestalt der Sucht-, Drogen- und Gewaltprävention ist die Schulsozialarbeit gar nicht zu denken. Nicht zuletzt dieser schwierige Aufgabenbereich erfordert die enge Verzahnung von Schule und Jugendhilfe. Die Schulsozialarbeit sei ein Kommunikationsknoten zwischen Eltern, Kitas und Vereinen, so Bukovcan. "Die Vernetzung der Bildungspartner soll den Prozess der lokalen Bildungslandschaften voranbringen." Möglichst alle Schulen in benachteiligten Stadtteilen in Düsseldorf sollten darin einbezogen werden.

Der Bildungsauftrag der Schulsozialarbeit

Der Bildungsauftrag der Schulsozialarbeit lebt davon, dass viele Institutionen eng in der Kommune zusammenwirken. Aber wie trägt diese Kooperation zum Gelingen von Bildung im Sozialraum bei? Prof. Karin Böllert vom Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Münster, die auch die Evaluation der lokalen Bildungslandschaft verantwortet, gab darüber Auskunft.

Die Gutachten verschiedener Verbände zeigten unterschiedliche Auffassungen darüber, wie das Problem der Bildungsungerechtigkeit zu beheben sei. Auch die Frage nach der Bildung werde unterschiedlich beantwortet. Klar sei, dass das deutsche Bildungssystem Ungleichheit produziere. Die Tochter einer Putzfrau werde eher an die Hauptschule überwiesen, auch wenn sie höhere Kompetenzen besitze. Dagegen werde dem Sohn eines angesehenen Architekten wie selbstverständlich das Gymnasium empfohlen. Bildung sei zum einen der Schlüssel für die individuelle Zukunft und zum anderen der Schlüssel für die gesellschaftliche Zukunft. "Bildung hat viele Orte, und sie hat einen enormen Bedeutungszuwachs erfahren", so Karin Böllert.

Ein umfassender Bildungsbegriff, der die formelle (Schule), nonformale (z. B. Jugendhilfe) und informelle (Peergroup) Bildung zusammenbringen möchte, würde gegenwärtig mit dem Konzept der Ganztagsbildung diskutiert. Dieser an die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum anknüpfende Begriff liege dem 12. Kinder- und Jugendbericht zugrunde und sehe die gleichberechtigte Anerkennung unterschiedlicher Bildungsbereiche wie Schule und Schulsozialarbeit vor: "Beide Institutionen schaffen gemeinsam etwas Neues." Auch seien das Aufwachsen und die Kindheit mehr als Bildung: "Die Kinder leben doch im Hier und Jetzt."

"Die Grenzen der Allmacht von Bildung"

Man müsse aber auch über "die Grenzen der Allmacht von Bildung" diskutieren, so Karin Böllert, denn soziale Ungleichheit lasse sich nicht nur mit mangelnder Bildung erklären, und Bildung kann andererseits nicht vollständig die ungleichen Voraussetzungen der außerschulischen Lebenswelten ausgleichen.

Welche Bedeutung hat die Schulsozialarbeit aus Sicht des nordrhein-westfälischen Kultusministeriums? Dafür lenkte Ulrich Thünken, Referatsleiter im Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW, den Blick auf das Schulgesetz: Jeder junge Mensch habe ohne Rücksicht auf seine wirtschaftliche Lage und Herkunft ein Recht auf Bildung. "In jeder Schule werden viele Schicksale gefällt. Die Entscheidungen, die in der Schule fallen, sind gewichtig." Die Schule sei deshalb heute auf eine enge Zusammenarbeit mit der Schulsozialarbeit angewiesen.

Der frühere Lehrer an einer Hauptschule, der seit 1968 im Schuldienst ist, erinnerte auch daran, dass die Schulreform ein langer und schwieriger Prozess sei. Auf seinem Schreibtisch befänden sich Anfragen, die eine Fülle von Spezialinteressen widerspiegeln: "Sie müssen die Schülerinnen und Schüler besser ausbilden", heißt es. Oder angesichts der Finanzkrise müssten die Schulen mehr Wirtschaftskompetenz anbieten. 

Zusammenlegung der Kräfte in einer Bildungsfachstelle

"Weg vom Denken in Blöcken, hin zum ganzheitlichen Denken", möchte auch Johannes Horn, Amtsleiter im Jugendamt Düsseldorf. Dies sei aber nur über eine Zusammenführung der Bereiche von Bildung und Betreuung möglich, z. B. über eine Bildungsfachstelle. Rund 3.000 Schulschwänzer und 120 Vormundschaften sowie eine Verdoppelung der Kindesschutzmeldungen auf fast 1.000 pro Jahr - "das ist nicht die Zukunft, die wir uns vorstellen".

Über zwei Millionen Euro stellt die Stadt Düsseldorf jährlich zur Verfügung, um die Schulsozialarbeit zu unterstützen. Die Zielvereinbarungen zwischen Schule und Schulsozialarbeit müssten zu Schulbeginn getroffen werden. Die gute Kooperation zwischen der Schulsozialarbeit und dem Jugendamt führt auch dazu, dass die Zahlen der Schulverweigerer dem Jugendamt gemeldet werden, so dass sie in die politischen Gremien transportiert werden können.

In den Arbeitsgemeinschaften zu den Themen Schülermitbestimmung, Steuerung und Planung, Qualitätssicherung sowie Bildungsprojekte nutzten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die sogar aus Cuxhaven angereist waren, die Möglichkeit zur persönlichen Vernetzung und Diskussion. Eine zusätzliche Möglichkeit sich einzubringen, gab es im Rahmen der Podiumsdiskussion, die sich auch den Statements des Publikums öffnete.

Defizit an kommunaler und regionaler Steuerung

"Die Jugendhilfe ist in den Schulen kommunal unterschiedlich verankert", so Michael Mertens, Landesrat und Dezernatsleiter für Schulen und Jugend des Landschaftsverbandes Rheinland. Bundesweit gäbe es 604 Jugendämter, und in NRW seien es 184. Vielerorts sei die Schulsozialarbeit nur punktuell entwickelt und nehme eine Feuerwehrfunktion ein: "Es gibt weder eine kommunale noch eine regionale Steuerung." Um weiter zu kommen, solle die Jugendhilfe strukturell im Schulprogramm verankert werden.

Ein neues Landesprogramm, so Mertens weiter, ermögliche die Finanzierung der Schulsozialarbeit aus Lehrerstellen. Ferner könnten sich die Schulen neuerdings auch durch Alexander Mavroudis vom Landschaftsverband Rheinland in diversen Fragen, die die Zusammenarbeit von Ganztagsschulen und Schulsozialarbeit betreffen, beraten lassen.

Die Stadt Düsseldorf ist bei allen sozialen Problemen nach wie vor eine reiche Stadt. Anderen Kommunen stellen sich die Probleme in deutlich zugespitzter Form: "Die schlimmste Form der Insolvenz einer Kommune ist das Haushaltssicherungsgesetz. Diese gibt es in zunehmender Zahl, und Sie können dann nur den Mangel verwalten", gab Mertens zu bedenken.

"Ohne die Jugendhilfe scheitern viele Jugendliche"

Der Sozialdezernent Düsseldorfs, Burkhard Hintzsche, setzte sich für eine stärkere Vernetzung der Bildungspartner ein. Ein Problem sei allerdings, dass die inneren Schulangelegenheiten Ländersache seien. Es sei notwendig, dass sich das Land engagiert, um die Ressourcen gezielt im Sozialraum einzusetzen.

"Scheitert die Ganztagsschule ohne die Jugendhilfe?" Dieser Frage ging schließlich Prof. Anke Spies von der Universität Oldenburg nach. "Nein, sie scheitert nicht. Aber ohne die Jugendhilfe scheitern viele Jugendliche." Wenn die soziale Arbeit an der Schule angekommen sei, möchte sie auch niemand missen.

"In der gemeinsamen Fortbildung von Lehrkräften und Schulsozialarbeitern spielt die Zukunftsmusik." Zum Abschluss der Tagung machte Spies noch einmal Mut: "Das Handlungsfeld Schulsozialarbeit war vor zehn Jahren bereits totgesagt worden." Und nun ist es wichtiger und lebendiger denn je. 

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