Sport und Ganztagsschulen im Sozialraum vernetzen : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Lokale Bildungslandschaften mit einem gemeinsamen Bildungsverständnis von Kommunen, Vereinen und Ganztagsschulen bieten bessere Bildungschancen. Sportwissenschaftlerin Prof. Jessica Süßenbach im Interview.

Prof. Dr. Jessica Süßenbach
Prof. Dr. Jessica Süßenbach © Brinkhoff-Mögenburg/Leuphana

Online-Redaktion: Der Sport ist der beliebteste Kooperationspartner von Ganztagsschulen. Wo sehen Sie seine Chancen und Möglichkeiten?

Prof. Dr. Jessica Süßenbach: Aus pädagogischer Sicht kann der Sport ein Bildungsmedium sein. Natürlich ist der Sport an sich ein Kulturgut in unserer Gesellschaft – Schwimmen, Sportspiele und viele weitere sportbezogene Fähigkeiten gehören zu einer ganzheitlichen Bildung. Gleichzeitig können im Sport überfachliche Kompetenzen wie Teamfähigkeit oder Perspektivenübernahme vermittelt werden. In Ganztagsschulen werden alle Kinder erreicht, und so kommt der Sportverein ins Spiel. Denn in einem vielgestaltig angebotenen Sport finden Kinder und Jugendliche idealerweise „ihren“ Sport und erleben Könnens- und Erfolgserlebnisse, die auf andere schulische Lernfelder übertragen werden können.

Kurz, der Sport dient als Einfallstor, um mit Selbstbewusstsein und durchaus auch Freude erfolgreich zu lernen. Dies trifft auf Kinder und Jugendliche aller sozialen Milieus gleichermaßen zu. Aber ich bin überzeugt, dass er gerade für jene, deren Startbedingungen weniger gut ausgeprägt sind, eine ganz besondere Bedeutung haben kann. Kinder und Jugendliche können einerseits individuelle Entwicklungspotentiale entfalten, und andererseits hat es gesellschaftliche Implikationen. Die Gesellschaft kann es sich aus vielerlei Gründen nicht leisten, junge Menschen zurückzulassen und zuzuschauen, wie manche bereits früh in ihrer Bildungsbiografie „abgehängt“ werden. Außerdem wissen wir um die enormen Folgekosten, wenn es nicht gelingt, erfolgreiche Bildungsbiografien für alle zu ermöglichen.

Online-Redaktion: Wie können Sport und Spiel zum Lernen motivieren?

Süßenbach: Auf vielschichtige Art und Weise. Über Sport kann man sich Erfolgserlebnisse holen. Unabhängig von Geschlecht, Religion, Sprache oder anderen individuellen Merkmalen kann Sport dazu beitragen, dass Schülerinnen und Schüler sich als wichtig und dazugehörig empfinden. Allein schon dieses Gefühl, im besten Fall gepaart mit positiv erlebten und von den anderen anerkannten und geschätzten Leistungen, steigert die Selbstwirksamkeit und das Selbstbewusstsein. Deswegen sind zum Beispiel bei Jungen und zunehmend auch bei Mädchen häufig Fußball oder Kampfsportarten so beliebt. Das Erfolgserlebnis kann sich auch auf den Lernerfolg auswirken.

Online-Redaktion: Nun wird es kaum ausreichen, dass die Lehrkraft auf die erfolgreiche Sport-AG im Ganztag verweist und den Schülerinnen und Schülern zuruft: „Dann könnt ihr auch den Dreisatz“…

Süßenbach: Es muss tatsächlich die individuelle sportliche Leistung der Kinder und Jugendlichen sein, aus der sie Anerkennung und Zugehörigkeit schöpfen und sehen: „Ich kann etwas“. Keine, keiner ist gerne ein Verlierer. Alle Kinder sind von sich aus wissbegierig, neugierig und wollen die Welt und sich selbst im wahrsten Sinne begreifen. Dazu bedarf es einer didaktischen Inszenierung, die an der Lebenswelt der Heranwachsenden orientiert ist. Das gilt für alle Fächer. Ich bin mir der Herausforderung bewusst, in sehr heterogenen Klassen sehr individuell zu arbeiten und gleichzeitig mit der Gruppe. Aber stellen Sie sich die talentierte Fußballerin vor, die in Mathematik nicht eine abstrakte Fläche, sondern den Umfang eines Spielfeldes berechnet oder in einer Fremdsprache die Abseitsregel erklären soll. Ich bin überzeugt, sie geht mit größerer Motivation an die Aufgabe heran.

Projekt "Sport vernetzt" in Kaltenmoor
Projekt "Sport vernetzt" in Kaltenmoor © ALBA Berlin

Online-Redaktion: Sie sprachen die natürliche Neugierde an. Wo bleibt sie auf der Strecke?

Süßenbach: Häufig geschieht dies tatsächlich an den Bildungsübergängen – also beispielsweise an der Schnittstelle zwischen Kita und Grundschule oder von der Grundschule zur weiterführenden Schule. Nicht zuletzt deshalb unterstützen wir das Projekt „Sport vernetzt“, das von ALBA Berlin mit Ex-Nationalspieler Henning Harnisch initiiert wurde. Als eine Pilotregion mit enger Verbindung zur Universität wurde ein Stadtteil, in denen Kinder nicht so privilegiert aufwachsen, ausgewählt. Eine Gruppe von 20 Kindern aus Kita und Grundschule verbringen wöchentlich anderthalb Stunden gemeinsam in der Sporthalle.

Sie werden von Lehrkräften und Erzieherinnen begleitet, lernen keine spezielle Sportart, sondern sollen Freude an der Bewegung gewinnen. Das fördert den Kontakt, erleichtert den Übergang und verbessert unserer Einschätzung nach die sozialen Chancen der Kinder. Wir evaluieren das Projekt. Ich bin überzeugt, dass sich die Bildungschancen der Kinder verbessern. Zudem gewinnt der Sport respektive der Sportverein vor Ort an Bedeutung, wenn er sich als wesentlicher Bestandteil einer lokalen Bildungslandschaft versteht, sich entsprechend engagiert und von den anderen Akteuren im Sozialraum eingebunden und geschätzt wird.

Online-Redaktion: Welche Rolle können dabei die Ganztagsschulen spielen?

Süßenbach: Sie können viel zu einem gemeinsamen Bildungsverständnis der im Sozialraum Handelnden beitragen. Es geht um ganzheitliche Bildung, um eine Verzahnung dessen, was im Unterricht und im Ganztag, also beispielsweise in Arbeitsgemeinschaften, geschieht. Und natürlich geht es darum, Talente auch dort zu entdecken und zu fördern, wo der Zugang zum organisierten Sport nicht selbstverständlich ist. Es ist wichtig, im Ganztag, im Fachunterricht und in den Sportangeboten Werte wie Demokratie, Solidarität, Fairness und Inklusion zu leben. Einen Ball in die Mitte der Sporthalle zu legen und zu glauben, alles werde gut, reicht sicher nicht aus.

Online-Redaktion: Wird das Potenzial des Sports in Schulen ausreichend geschätzt und genutzt?

Drachenbootrennen in Hamburg
Drachenbootrennen in Hamburg © Claudia Pittelkow

Süßenbach: Ich fürchte, dass der Stellenwert des Schulsports nach wie vor zu klein ist, dass ihm zu wenig Bedeutung und damit auch Ausstattung zuteil wird. Ich möchte keine Fächer gegeneinander ausspielen, aber über eine ausfallende MINT-Stunde wird mehr als über eine ausgefallene Sportstunde diskutiert. Sport wird häufig noch nach der Devise, „das können wir am Nachmittag machen“ behandelt. Andererseits – und daher ist die Geringschätzung umso unverständlicher - sollte die gesundheitsbildende Perspektive von hohem Interesse sein: der Schulsport fördert motorische Fertigkeiten, tut etwas gegen Übergewicht und Bewegungsmangel und letztlich für ein gesundes Aufwachsen.

Online-Redaktion: Was muss passieren?

Süßenbach: Es geht nur gemeinsam. Eine lokale Bildungslandschaft mit Sport aus dem Nukleus Ganztagsschule muss auch politisch gewollt sein. Ein Beispiel aus Lüneburg: Hier hat die Oberbürgermeisterin die Schirmherrschaft über das Projekt „Sport vernetzt“ übernommen und der Dezernent für Bildung, Jugend, Soziales und Kultur hat hervorgehoben, dass Kontinuität für den Erfolg wichtig sei. Wenn es sich, wie hier geschehen, nicht nur um Lippenbekenntnisse handelt, kann Sport in der Stadt seine Rolle ausgestalten. Nicht zu vergessen ist, dass dafür die erforderlichen Mittel bereitgestellt werden. Und: Der Sport bringt mit seinen Strukturen, Sportstätten und zertifizierten Übungsleiterinnen und Übungsleitern sehr viel Potenz mit. In der Ganztagsschule erreichen wir alle Kinder und Jugendlichen. Diese Synergieeffekte im lokalen Raum sollten noch stärker genutzt werden.

Online-Redaktion: Welche Qualifikationen benötigt das Personal, seien es Lehrkräfte, seien es Übungsleiterinnen, um die von Ihnen beschriebenen Ziele zu erreichen?

Bewegung ist überall möglich
Bewegung ist überall möglich © Schillergymnasium Offenburg

Süßenbach: Über das gemeinsame Bildungsverständnis haben wir gesprochen. Einfach formuliert: Es geht um Erziehung zum Sport und Erziehung durch Sport. Idealerweise verfügt das Sportpersonal in Unterricht und Ganztag über Sportkompetenzen in einem weiten Verständnis und vermittelt diese über sozialpädagogische Ansätze. Den Fortbildungsansatz aus dem organisierten Sport zur „Sportpädagogischen Fachkraft im Ganztag“ des Landessportbundes Niedersachsen, den wir evaluieren, finde ich großartig. Wir benötigen mehr Aus- und Fortbildung in diese Richtung.

Als besonders herausfordernd wird im Schulsport der Umgang mit Vielfalt wahrgenommen. Hier gilt es Befangenheiten und Stereotype abzubauen und Kompetenz aufzubauen – es ist zunächst eine Frage der Einstellung und Haltung zu Inklusion. Es gibt viele gute Unterrichtsbeispiele, wie zum Beispiel den Rollstuhlbasketball als neues Spiel im Regelunterricht.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Zur Person:

Prof. Dr. Jessica Süßenbach, Jg. 1969, ist seit 2016 Professorin für Sportpädagogik/Sportdidaktik am Institut für Bewegung, Sport und Gesundheit der Leuphana Universität Lüneburg.
Nach dem Studium der Fächer Sport, Deutsch und Kunst an der Universität Oldenburg war sie von 2000 bis 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sport- und Bewegungswissenschaften, ab Studienrätin im Hochschuldienst an  der Universität Duisburg Essen, wo sie 2003 mit einer Dissertation über „Mädchen im Sportspiel“ promoviert wurde. 2014 erhielt sie den 2014 Diversity-Lehrpreis der Universität Duisburg-Essen. 2015 schloss sie ihre Habilitation „Der Sport im Handlungsfeld Schule: Befunde, Analysen und bildungstheoretische Deutungen unter Berücksichtigung sozialer Differenzkategorien“ ab. In Forschung und Lehre beschäftigen sie aktuell die Themen Inklusion im Sport sowie die Potenziale des Sports in der ganztägigen Bildung. Sie ist seit 2021 Sprecherin des Forschungsverbundes der Deutschen Sportjugend (dsj).

Veröffentlichungen u. a.:

Süßenbach, J. (2021). Der Kinder- und Jugendsport in kommunalen Bildungslandschaften – wo geht die Reise hin? In: N. Neuber (Hg.), Kinder- und Jugendsportforschung in Deutschland – Bilanz und Perspektive (S. 225-243). (Bildung und Sport, Bd. 26). Wiesbaden: VS.

Süßenbach, J. (2020). Evaluation der Bewegungs-, Spiel- und Sportangebote im Ganztag in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. In: P. Neumann & E. Balz (Hg.), Grundschulsport: Empirische Einblicke und Pädagogische Empfehlungen. Aachen: Meyer & Meyer.

Süßenbach, J., & Klaus, S. (Hrsg.) (2015). Herausforderungen für den Sport: kommunale Bildungslandschaften und Sport. in W. Schmidt, N. Neuber, T. Rauschenbach, H. P. Brandl-Bredenbeck, J. Süßenbach, & C. Breuer (Hg.), Dritter Deutscher Kinder- und Jugendsportbericht: Kinder- und Jugendsport im Umbruch (S. 444-465). Schorndorf: Hofmann.

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