Service-Learning im Ganztag: Bildung auf andere Art : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Service-Learning verknüpft Fachunterricht mit zivilgesellschaftlichem Engagement. Franziska Nagy berichtet im Interview über die Expertise der Stiftung Lernen durch Engagement für eine andere Art zu lernen.

Online-Redaktion: Frau Nagy, was versteht man unter Service-Learning?

Franziska Nagy © Stiftung Lernen durch Engagement

Franziska Nagy: Es ist eine Lehr- und Lernform, die aus den USA stammt und Inhalte aus dem Fachunterricht mit einem Engagement für die Gesellschaft verbindet. Beide Aspekte sind dabei frei kombinierbar. Der Fachinhalt kommt immer aus dem Curriculum. Für die Lehrerinnen und Lehrer ist es eine andere Pädagogik, eine andere Art zu unterrichten und für die Schülerinnen und Schüler dementsprechend eine andere Art zu lernen. Die Lehrkräfte oder auch die Schülerinnen und Schüler selbst schauen, was sich in ihrem Jahrgang gerade als Thema anbietet.

Das Engagement richtet sich nach dem Fachinhalt, den Partnern und dem Bedarf und kann alles Mögliche umfassen, was der Engagementpartner oder die Gesellschaft tatsächlich braucht. Die Art der Projekte ist so vielfältig wie die Schulen selbst und ergibt sich auch aus der Kombination je nach Alter der Schülerinnen und Schüler oder dem angestrebten Kompetenzerwerb. Wichtig ist, dass die Schülerinnen und Schüler von Anfang an beteiligt sind an Auswahl, Planung und Umsetzung ihrer Projekte.

Online-Redaktion: Wie kann so etwas konkret aussehen?

Nagy: Ein Beispiel ist die 11. Klasse eines Gymnasiums in Bamberg, die sich mit dem journalistischen Schreiben und mit Biografien beschäftigt hat. Gemeinsam mit Bewohnerinnen und Bewohnern einer Lebenshilfe-Werkstatt haben die Jugendlichen deren Biografien aufgeschrieben und dann in einer Kooperation mit einer lokalen Tageszeitung und in einer Ausstellung veröffentlicht.

Ein anderes Beispiel: Neuntklässler setzten sich in Deutsch und Informatik mit der Nutzung von digitalen Medien auseinander und wie man den Umgang damit anderen Menschen beibringen kann. Dann haben sie die Bewohnerinnen und Bewohner eines benachbarten Seniorenheims zum Handy-Führerschein angeleitet und mit ihnen weitere erste Schritte in die digitale Welt unternommen. Ein Ziel war auch, dass die Seniorinnen und Senioren zum Beispiel mit den Enkelkindern kommunizieren können.

Online-Redaktion: Erleichtert der Ganztag das Service-Learning?

Nagy: Engagement benötigt zusätzliche Zeit, und da bietet der Ganztag natürlich mehr Chancen. Das gilt besonders für die gebundene Form, in der sich der Vormittagsunterricht mit dem Engagement am Nachmittag fest verknüpfen lässt. Wobei auch offene Ganztagsschulen sehr gut Service-Learning umsetzen können. Es gibt viele Beispiele im Netzwerk, wie Projekte gestaltet und Zeitfenster gefunden werden können.

Online-Redaktion: Was steckt hinter der Stiftung Lernen durch Engagement (LdE)?

Nagy: Die Stiftung Lernen durch Engagement ist 2017 als Ausgründung aus der Freudenberg Stiftung entstanden. Carla Gellert, Sandra Zentner und ich hatten bereits in der Freudenberg Stiftung zu Service-Learning gearbeitet und dann die Stiftung Lernen durch Engagement gegründet. Der Zeitpunkt dazu war einfach gekommen, für das Thema gab es inzwischen eine große Offenheit und Relevanz im Bildungssystem.

Kooperationsvereinbarung mit dem Land Thüringen © Stiftung Lernen durch Engagement

Die Freudenberg-Stiftung beschäftigte sich bereits seit 2001 mit Service-Learning. Damals haben wir in einem kleinen Pilotversuch mit zehn Schulen in Baden-Württemberg getestet, ob diese Lernform funktioniert, ob die Schulen das annehmen und wie man das auch in unseren Schulen umsetzen kann. Aus dem Modellversuch ist dann ein Netzwerk und viel Expertise rund um das Thema erwachsen.

Dabei waren von Anfang an zivilgesellschaftliche Partner an Bord, die Schulen regional und lokal begleiten, zum Beispiel die Freiwilligenagentur Halle an der Saale und die Bürgerstiftung in Hamburg. Deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden von uns qualifiziert und begleitet und unterstützen dann selbstständig Schulen bei der Implementierung von Lernen durch Engagement, zum Beispiel durch Fortbildungsangebote. Wir nennen diese Multiplikatoren Schulbegleiterinnen und Schulbegleiter für Lernen durch Engagement.

Online-Redaktion: Wie groß ist Ihr Team?

Nagy: Unser Team besteht aus 14 fest angestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Carla Gellert, Sandra Zentner und ich bilden die Geschäftsleitung. Im Team sind ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer, aber auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Psychologie, Erziehungswissenschaft, Politikwissenschaft und Sozialwissenschaften.

Online-Redaktion: Was sind Ihre wichtigsten Ziele?

Nagy: Schulen brauchen für nachhaltige Veränderungsprozesse Vernetzung, Qualifizierung, fachliche Begleitung und Unterstützung, aber auch Legitimation und Anerkennung aus Bildungspolitik und Öffentlichkeit. Daher setzt unsere Arbeit als Stiftung Lernen durch Engagement an drei Handlungsfeldern an: Praxis stärken, Politik überzeugen und Wahrnehmung schaffen in Öffentlichkeit und Fachwelt.

Ziel des Handlungsfelds „Praxis‟ ist es, qualitätsvolle und vielfältige Praxis mit Service-Learning an Schulen in ganz Deutschland anzustoßen. Dazu vernetzen, qualifizieren und beraten wir Lehrerinnen und Lehrer und LdE-Schulbegleiterinnen und -begleiter, entwickeln Materialien und stoßen Schulentwicklung an. Dies tun wir vor allem im Netzwerk Lernen durch Engagement, dem inzwischen über 270 Schulen aus allen Schulformen und 70 zivilgesellschaftliche Partner in allen Bundesländern angehören. Zur Praxis gehören auch unsere Kooperationsprojekte zu Themen wie „Digitale demokratische Bildung im Netz‟, „Wertebildung‟ und „Berufsorientierung‟. Dazu haben wir viele Materialien für die Lehrkräfte und für unsere Multiplikatorinnen und Multiplikatoren entwickelt. Hier stecken wir die meisten Ressourcen hinein. Wir möchten, dass sich in der Haltung der Lehrerinnen und Lehrer und in ihrer Beziehungskultur zu den Schülerinnen und Schülern langfristig etwas verändert.

© Stiftung Lernen durch Engagement

Ziel des Handlungsfelds „Politik überzeugen“ ist es, gute Rahmenbedingungen, Legitimation und Wertschätzung für die Akteurinnen und Akteure der Praxis zu schaffen und Sog für Neue zu erzeugen. Dazu kooperieren wir mit Bildungsministerien, um Lernen durch Engagement systematisch in den Strukturen der Länder zu verankern und bringen es in die Bildungs- und Engagementdebatten auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene ein.

Beim dritten Handlungsfeld „Die Wahrnehmung stärken“ wollen wir wissenschaftliche Fundierung und gesellschaftlichen Rückenwind für LdE schaffen. Dazu entwickeln wir als Think Tank Service-Learning inhaltlich weiter, publizieren, vernetzen und bauen strategische Partnerschaften auf, um so in Öffentlichkeit und Fachwelt den Diskurs zu Lernen durch Engagement zu fördern und zu bereichern.

Online-Redaktion: Was erwarten Sie, wenn Schulen sich bei Ihnen melden?

Nagy: Sie sollten vor allem die Offenheit mitbringen, sich auf neue Lernformen einzulassen. Dann können sie unsere mehrmoduligen Fortbildungen besuchen – digital oder vor Ort bei den Kompetenzzentren. Sie können mit den Schülerinnen und Schülern ein an den Unterricht angedocktes Engagement-Projekt umsetzen, das zugleich Demokratiebildung bedeutet. Das kann sich über drei Monate ausdehnen und sich auf ein Fach beschränken. Besonders bietet sich aber fächerübergreifendes Arbeiten an, denn bei Service-Learning geht es auch um vernetztes Denken und Kooperation.

Online-Redaktion: Sie haben auch sechs Qualitätsstandards definiert?

Nagy: Die Effekte, die wir mit Service-Learning erreichen wollen, sollen nachhaltig sein: Die Schülerinnen und Schüler sollen Fachwissen anders lernen, ihre Demokratiekompetenz ausbauen, lernen, dass Engagement Freude und Sinn macht. Aus zahlreichen Studien wissen wir, dass diese Effekte nicht von selbst eintreten, sondern mit der Qualität der Umsetzung verbunden sind. Daher haben wir Qualitätsstandards entwickelt, an denen sich die Schulen orientieren können.

Kooperationsvereinbarung mit dem Sächsischen Kultusministerium © Stiftung Lernen durch Engagement

Wir haben mit vier Qualitätsstandards begonnen: „Realer Bedarf: Das Engagement gut vorbereiten“, „Curriculare Anbindung: Den Unterricht mit LdE planen und gestalten“, „Reflexion: Lernen und Engagement verbinden“ und „Engagement außerhalb der Schule: Mit Engagement-Partnern zusammenarbeiten“. Die beiden weiteren „Partizipation von Schüler*innen: Teilhabe ermöglichen und begleiten“ und „Anerkennung und Abschluss: Das Engagement aller Beteiligten wertschätzen“ haben wir im Zuge der Weiterentwicklung von Service-Learning ergänzt.

Online-Redaktion: Gibt es im Service-Learning eigentlich Unterschiede zwischen den alten und neuen Bundesländern?

Nagy: In den neuen Bundesländern gibt es weniger zivilgesellschaftliche Strukturen, also weniger Stiftungen, weniger Vereine. Das ist insgesamt eine andere Situation als in den alten Bundesländern. Aber im Engagement der Schulen sehe ich keine Unterschiede, und wir haben einen guten Draht zu allen Bundesländern, wie ja unter anderem auch die bereits abgeschlossenen Kooperationsvereinbarungen zeigen.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Zur Person:

Franziska Nagy, Jg. 1981, ist Mitglied der Geschäftsleitung der Stiftung Lernen durch Engagement. Sie studierte Publizistik, Politik und Soziologie in München und Berlin. Seit 2010 arbeitet sie zu Service-Learning – Lernen durch Engagement an Schulen. Seit 2017 leitet sie die Bereiche Politik und Kooperationen der Stiftung Lernen durch Engagement, einer Ausgründung der Freudenberg Stiftung. Seit 2019 ist sie eine der drei Sprecherinnen der AG Bildung im gesellschaftlichen Raum im Bundesnetzwerk bürgerschaftliches Engagement (BBE).

Veröffentlichungen u. a.:

Seifert, Zentner, S. & Nagy, F. (2012): Praxisbuch Service-Learning. „Lernen durch Engagement“ an Schulen. Mit Materialien für Grundschule und Sekundarstufe I + II. Weinheim: Beltz.

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