„Qualität im Ganztag heißt: Alle an einen Tisch!“ : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Birgit Schröder und Hiltrud Wöhrmann leiten die Serviceagentur „Ganztägig lernen“ NRW. Im Interview berichten sie über neue Wege der Serviceagentur zu einer kinder- und jugendorientierten Ganztagsbildung.
Online-Redaktion: Die Serviceagentur unterstützt seit 2005 die Ganztagsschulen im Land. Jetzt sollen Arbeitsfelder und Formate strategisch neu ausgerichtet werden. Was ist geplant?
Hiltrud Wöhrmann: Das Land Nordrhein-Westfalen strebt eine Neuausrichtung an, mit der wir zwei Entwicklungsausgaben in den Fokus nehmen werden: eine kinder- und jugendorientierte Ganztagsbildung und die multiprofessionelle Teamarbeit. Zur Weiterentwicklung der Qualität sollen die Arbeits- und die Steuerungsebenen stärker miteinbezogen werden.
Zukünftig wollen wir partizipativ zusammen mit Praxis und Wissenschaft Themen identifizieren. Dazu werden wir Entwicklungswerkstätten durchführen und Instrumente, wie zum Beispiel „QUIGS – Qualitätsentwicklung in Ganztagsschulen“, aktualisieren. Die Expertise wissenschaftlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bildungsberichts Ganztagsschule fließt in die Arbeit der Serviceagentur mit ein.
Online-Redaktion: Was war Anlass für die Veränderungen?
Birgit Schröder: Der 15. Kinder- und Jugendbericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und der 10. Kinder- und Jugendbericht der Landesregierung Nordrhein-Westfalen haben aufgezeigt, dass die Partizipation, also die echte Beteiligung von Kindern und Jugendlichen, in den Ganztagsschulen noch nicht umfangreich berücksichtigt wird.
Aus den Berichten geht hervor, dass insbesondere Jugendliche die Ganztagsschule nicht gerne besuchen. Darüber brauchen wir uns nicht zu wundern, da ihre spezifischen Bedürfnisse oftmals nicht berücksichtigt werden. In den folgenden Jahren wird die Aufgabe der Serviceagentur sein, noch stärker die Perspektive der Kinder und Jugendlichen einzunehmen, ihre Interessen und Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellen. Die Zusammenarbeit verschiedener Professionen in den Ganztagsschulen ist eine Gelingensbedingung, um gezielt bedarfsorientiert Angebote für Kinder und Jugendlichen zu entwickeln.
Online-Redaktion: Der Ganztagserlass des Schulministeriums gibt Multiprofessionalität gewissermaßen vor, so die Zusammenarbeit mit der Kinder- und Jugendhilfe.
Schröder: In Nordrhein-Westfalen ist die Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe und weiterer Partner im Grundlagenerlass geregelt. Kooperation ist damit nicht beliebig, sondern sozusagen ein Gebot. Das Leitbild eines erweiterten Bildungsverständnisses bietet dabei den Kindern und Jugendlichen eine gute Plattform für das Lernen. Und gerade deswegen müssen wir uns fragen, warum die Zusammenarbeit in der Praxis nach inzwischen 15 Jahren oft nicht so stattfindet, wie sie sollte. In vielen Schulen ist es bei rein additiven Systemen geblieben.
Schwerpunkt muss sein, dass die verschiedenen Professionen sowohl im Primar- als auch im Sekundarbereich abgestimmter zusammenarbeiten. Im Kontext der Ganztagsschule gibt es bisher auf der Jugendhilfeseite kein Beratungssystem wie auf der Schulseite. Wir werden daher auch überlegen, wie wir diese Seite noch stärker aktivieren können, damit sich Tandems aus Jugendhilfe und Schule zusammenfinden, um gemeinsam Akteure aus der Praxis zu beraten. Eine abgestimmte Schulentwicklungs- und Jugendhilfeplanung innerhalb der Kommunen ist dafür zielführend.
Online-Redaktion: Das wäre die sogenannte Steuerungsebene, die Sie erwähnten, für die Sie künftig noch stärker Ansprechpartnerin sein wollen?
Schröder: Die regelmäßig stattfindenden Regionalkonferenzen der Dezernentinnen und Dezernenten mit der Generale Ganztag der Primarstufe der Bezirksregierungen waren ursprünglich ein Austauschforum mit den unteren Schulaufsichten. Dieser Teilnehmerkreis ist sukzessive in den vergangenen Jahren erweitert worden, um die Kompetenzen der Vertreterinnen und Vertreter der Jugendhilfe, zum Beispiel Landesjugendämter, Jugendamtsleitungen oder Jugendamtspfleger. Zugleich sollen neue Partner, die Landesarbeitsgemeinschaft Freie Wohlfahrtspflege, der Landesjugendring, in die Weiterentwicklung der Qualität der Ganztagsschulen und der Angebote ihrer Partner einbezogen werden.
Wöhrmann: In den letzten Jahren haben viele Schulleitungen und Ganztagskoordinatoren gewechselt. Daher nehmen wir zum Beispiel auch die rund 80 Beraterinnen und Berater im Ganztag der Primarstufe neu in den Blick. Welche Rolle können sie bei der Weiterentwicklung der Qualität offener Ganztagsschulen im Primarbereich einnehmen? Welche Bedarfe liegen vor? All das werden wir am 4. September 2019 in einer Auftaktveranstaltung in Essen mit den Beraterinnen und Beratern sowie der unteren Schulaufsicht thematisieren. Dort möchten wir einerseits den Austausch unter den Beraterinnen und Beratern befördern und gleichzeitig ein gemeinsames Leitbild „Was heißt Ganztagsbildung in Nordrhein-Westfalen?“ füllen.
Aus den Ergebnissen der Tagung wird die Serviceagentur Bausteine „Systemwissen Ganztagsbildung“ im Format eines Werkzeugkoffers entwickeln, der langfristig auf unserer Homepage den Akteuren zur Verfügung stehen wird. Es können auch Unterstützungsmaterialien für Evaluationsmethoden sein, je nachdem welchen Bedarf die Teilnehmenden an uns zurückmelden.
Online-Redaktion: Wie werden Sie den Bedarf an der Basis ermitteln?
Wöhrmann: Im Rahmen unseres neuen Projektantrages sind einzelne Arbeitspakete geschnürt worden. Dazu hat unser Team Anfang des Jahres in einer Klausurtagung begonnen, Ideen zu entwickeln und Maßnahmen davon abzuleiten. Im Rahmen von Entwicklungswerkstätten werden wir den Austausch mit Expertinnen und Experten mit der Praxis suchen. Eine Möglichkeit besteht darin, qualitative Interviews mit Kindern und Jugendlichen zu führen, deren Ergebnisse wiederum in die zukünftige Arbeit einfließen werden.
Online-Redaktion: Wie erreichen Sie Schülerinnen und Schüler als Interviewpartner?
Wöhrmann: Zum Beispiel über unsere InGAs (innovative Ganztagsberater/innen der Primarstufe) und die Ganztagsberaterinnen und -berater in der Sekundarstufe I, die verschiedene Professionen abbilden, Schulleitungen, Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter. Da haben wir das Ohr an der Praxis. So hat beispielsweise Anne Weddeling-Wolff an ihrer Schule, der Martinus-Schule in Meerbusch im Regierungsbezirk Düsseldorf, Schülerinnen und Schülern zum Wohlbefinden befragt und uns die Antworten übermittelt. Im Sekundarbereich haben wir selbst 2017 Befragungen in Schulen und an außerschulischen Lernorten zum Stellenwert des Ganztags durchgeführt. Die Ergebnisse konnten wir 2018 auf einem Praxistag in Essen präsentieren und daraus Schlussfolgerungen ziehen.
Online-Redaktion: Welche Veränderungen für die Serviceagentur sehen Sie in näherer Zukunft?
Schröder: Es bleibt dabei, dass die Serviceagentur sich weiterhin multiprofessionell zusammensetzt, aus Lehrkräften aller Schulformen, Sozialpädagogen, Soziologen, Diplompädagogen und Schulsozialarbeitern. Wir stehen vor neuen Entwicklungsaufgaben, werden alte Zöpfe abschneiden, Bewährtes ausbauen und wollen als Motor Impulse setzen für die Weiterentwicklung der Ganztagsbildung in Nordrhein-Westfalen. Dazu wird sich die Zusammenarbeit mit den Partnern vor Ort verändern.
Zusätzlich werden wir uns stärker auf der Ebene der Multiplikatoren und der Steuerungsebene bewegen, wollen wir neue Akteure miteinbeziehen, zum Beispiel die Landesarbeitsgemeinschaft Freie Wohlfahrtspflege, die Schulträger, den Landesjugendring und die Jugendamtsleitungen. Das bedingt auch eine Veränderung unserer Formate und Veranstaltungen.
Was wir merken und sehr begrüßen, ist, dass sich vermehrt Kommunen bei uns melden, die die Qualitätsentwicklung in ihren Ganztagsschulen voranbringen wollen. Die Quantität des Ausbaus in Nordrhein-Westfalen ist da; jetzt schaut man verstärkt auf die Qualität. Und Qualität heißt erst einmal: Alle Akteure an einen Tisch! Die Kommunen laden also zu „Runden Tischen“ ein: Schulleitungen, Ganztagskoordinatoren, Schulaufsicht, Jugendamtsvertreter, Bildungsbüros, freie Träger der Jugendhilfe. Gemeinsam erfassen sie den Bedarf in ihrer Kommune. Dazu ist unsere Fachexpertise gefragt.
Wöhrmann: Das Thema „Räume neu denken“ ist derzeit aktuell. Auch hierbei muss letztlich die Gestaltung der Kooperation zwischen Schule und Jugendhilfe in den Blick genommen werden, die mit einem veränderten Denken von „meinem Raum“ hin zu „unserem Raum“ einhergeht.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Kategorien: Kooperationen - Eltern und Familien
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