Neue Wege: Kirchliche Jugendarbeit in Ganztagsgrundschulen : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Seit sechs Jahren engagiert sich die Evangelische Kirche in Esslingen an Ganztagsschulen im Sekundarbereich. Im Interview berichten Schuldekan Heiner Köble und Diakon Michael Proß über die Herausforderungen durch neue Ganztagsgrundschulen in Baden-Württemberg.

Online-Redaktion: Herr Köble, seit wann engagiert sich die Kirchengemeinde Esslingen in Ganztagsschulen?

Heiner Köble: Wir sind vor sechs Jahren auf Basis eines Projekts der Landeskirche Baden-Württemberg gestartet. Dabei finanzierte man uns eine halbe Stelle, um die kirchliche Jugendarbeit in die Ganztagsschulen zu bringen. Unser Kirchenbezirk Esslingen hat diese halbe dann auf eine ganze Stelle aufgestockt, sodass wir die Sekundarstufe im Landkreis mit Grund- und Werkrealschulen, mit Realschulen und mit Gymnasien bedienen konnten. Nachdem das Projekt letztes Jahr ausgelaufen war, führen wir es jetzt mit einer dreiviertel Stelle für die Schulen weiter. Die Stelle besetzt unser Jugendreferent Michael Proß, der diese Aufgabe mit großem Engagement angegangen ist. Insbesondere leitet er die bis zum heutigen Tag sehr stark nachgefragte Jugendbegleiter-Ausbildung.

Michael Proß: Das Projekt war damals unter dem Stichpunkt „Wie kann Kirche der Zukunft aussehen“ angesetzt. Als ein Zukunftsfeld wurde die Schule genannt. Zu Beginn haben wir intern überlegt, was die Kirche den Schülerinnen und Schülern mitgeben kann, und sind auf zwei Themenbereiche gekommen. Das Eine ist die Gemeinschaftsförderung, das Andere ist die Persönlichkeitsentwicklung. Hier fanden wir, dass wir als Kirche schon über ein großes Know-how verfügten. Das wollten wir an die Schülerinnen und Schüler weitergeben.

Mit diesem generellen Ansatz bin ich dann an die Schulen herangetreten, um auszuloten, ob die Bereitschaft zur Kooperation mit der Kirche besteht, denn es galt ja zu schauen, wie sich das mit der weltanschaulichen Neutralität der Schule vereinbaren lässt. Und es ging um die Berührungspunkte, die sich in konkrete Projekte herunterbrechen ließen. Wir haben uns auf grundsätzliche Werte geeinigt, die wir in die Klassen hereintragen wollten, basierend auf dem christlichen Menschenbild.

Online-Redaktion: Welche Angebote können Sie konkret in Ganztagsschulen verwirklichen?

Proß: Im Mittelpunkt steht die Junior-Jugendbegleiter-Ausbildung, die 40 Stunden umfasst. Hier vermittle ich den etwa vierzehnjährigen Jugendlichen ein notwendiges Handwerkszeug für den Umgang mit Kindern, zum Beispiel, wie sie für und mit Kindern ein Angebot planen und durchführen können. Ich biete etwas zum Thema Planung an, aber es geht auch um Aufsichtspflicht oder die Vermeidung von Unfällen.

Porträtfoto Michael Proß
© Michael Proß

Daneben bearbeiten die Schülerinnen und Schüler praktische pädagogische Themen: Wie schaffe ich es, Ruhe in eine Gruppe zu bekommen? Wie verschaffe ich mir Aufmerksamkeit, ohne mit Strafandrohungen zu arbeiten? Auch deshalb gibt es einen Block, der sich um „Rhetorik“ dreht. Eine Aufgabe besteht darin, eine Motivationsrede zu entwerfen, die die Schülerinnen und Schüler dann vor den Anderen halten müssen. Die Jugendlichen sollen ein Gespür dafür entwickeln, wie es ist, vor einer Gruppe zu stehen. Wie verhalte ich mich? Wie präsentiere ich etwas? Wir üben die Jugendbegleiter-Tätigkeit in der Gruppe, damit die Jugendlichen für ihre spätere Tätigkeit ausgerüstet sind.

Online-Redaktion: Mit wie vielen Schulen kooperieren Sie?

Proß: Derzeit sind es elf, wobei sich meine Einsatzzeiten völlig unterschiedlich aufteilen. Seit Beginn dieses Projekts haben wir erkannt, dass wir von starren Modellen wegkommen müssen. Früher hat die Evangelische Kirche ein Angebot gemacht und gesagt, dass alle kommen können, und sich dann gewundert, dass immer weniger kamen. Wir schauen uns heute stattdessen an, welches Angebot am besten zur der Schule passt.

Wir klären ganz konkret mit den Schulleitungen, was ihre Schule benötigt. Das kann dann bei der einen Schule sein, dass ich fünf ganze Tage über ein halbes Jahr verteilt durchführe, während ich an einer anderen an einem Nachmittag in der Woche zwei Stunden lang arbeite. Bei Realschulen kann es wiederum ganz anders sein, nämlich dass ein Angebot im Rahmen des regulären Unterrichts stattfindet. Realschulen haben im Lehrplan das „Themenorientierte Projekt Soziales Engagement“, und dazu passt die Jugendbegleiter-Ausbildung natürlich ideal.

Online-Redaktion: Gestaltet sich auch der Kontakt mit den Schulen so unterschiedlich? Sind Sie zum Beispiel bei der einen Ganztagsschule nahe dran am Kollegium und der Schulleitung, während Sie an einer anderen kaum jemanden aus der Schule treffen?

Proß: Das kann ich gar nicht sagen, denn die meisten Programme führen wir in kirchlichen Räumen durch. Wir haben im Lauf der Zeit gemerkt, dass die Schülerinnen und Schüler im Schulgebäude konditioniert sind. Es macht wirklich einen frappierenden Unterschied, ob sie in einem Schulgebäude oder an einem außerschulischen Lernort lernen. Sie verhalten sich je nach Ort anders. Ich selbst halte mich in der Schule nur zu konkret vereinbarten Terminen auf, um etwas zu besprechen oder zu reflektieren.

Online-Redaktion: Wie stehen Sie als Anbieter außerschulischer Bildung insgesamt zur Ausweitung des Schultags durch die Ganztagsschulen?

Unterricht in der Grundschule an der Landsberger Straße in Herford (NRW)
Grundschule an der Landsberger Straße in Herford (NRW) © Britta Hüning

Köble: Wir beobachten die Entwicklung mit Interesse. Für uns hat die kirchliche Jugendarbeit jenseits der Schule weiterhin ihre Berechtigung. Aber sie sollte quasi eine Abteilung einrichten, um ihre Angebote, die Kontakte und die Kompetenzen der Kirche in die Schulen zu tragen. Wir bekommen allerdings auch mit, dass manche Eltern und Kinder klagen, dass die Schule den gesamten Alltag bestimme. Das geht uns zu weit. Da möchten wir schon noch, dass ein zeitlicher Korridor bleibt, in welchem die Schülerinnen und Schüler Zeit für sich haben.

Proß: In Baden-Württemberg ist die Ganztagsschule gerade durch den verstärkten Ausbau im Grundschulbereich im Aufbruch. Viele Grundschulen organisieren sich in der offenen Form mit freiwilligen Angeboten am Nachmittag. Dort steht für die Eltern die Erledigung der Hausaufgaben an erster Stelle, und für die außerschulischen Partner bleibt dann oft nur noch die letzte Stunde des Tages übrig, um sie mit Angeboten zu füllen, bei denen sich die Schule dann nach einem Tag des Stillsitzens hauptsächlich Bewegung wünscht. Das macht es für Angebote mit einem Profil wie dem unseren schwierig. Da würden wir uns lieber eine durchgehende Rhythmisierung mit einem Gesamtkonzept von 8 bis 16 Uhr wünschen. Und danach sollten die Schülerinnen und Schüler auch wirklich frei haben.

Online-Redaktion: Wie reagieren Sie auf den Ausbau der Ganztagsgrundschulen?

Köble: Wir halten die Kooperation mit den Grundschulen für genauso sinnvoll wie im Sekundarbereich. Wir stellen allerdings fest, dass es schwierig ist, die Kirchengemeinden zu bewegen, auf die Schulen zuzugehen. Schlicht, weil es oft an Personen fehlt, die diese Arbeit leisten könnten. Und unser Herr Proß ist bereits jetzt schon ausgelastet. Wir haben nun angedacht, die Aktivität von Kirchenchören zum Beispiel in die Schulen zu bringen. Aber auch da müssen wir schauen, was personell machbar ist.

An zwei oder drei Standorten ist es uns schon gelungen, die Arbeit der Diakoninnen und Diakone mit ihrer Jungschar in die Schule zu verlagern. Das sind aber noch ganz kleine Pflänzlein, die wachsen müssen. Die Kirchen haben durch uns inzwischen mitbekommen, dass etwas entsteht und müssen nun nachziehen. Wobei wir alle unter einem großen Finanzdruck stehen.

Proß: Mit Beginn des nächsten Schuljahres werden wir in Esslingen mit zwei bis drei konkreten Projekten in Ganztagsgrundschulen beginnen. Ich hoffe auf gelingende gute Beispiele, mit denen wir dann weiter werben können.

Ich sehe meine Aufgabe auch darin, den Entscheidungsträgern in den Kirchengemeinden die neuen Möglichkeiten, die sich in der Kooperation mit den Ganztagsschulen auftun, vor Augen zu führen. Ich rege an zu überlegen, ob nicht Diakone oder andere Personen zur Verfügung stehen, Angebote in den Schulen zu machen. Das ist ein längerer Prozess, der nicht von heute auf morgen umzusetzen ist. Auf jeden Fall haben wir uns auf den Weg gemacht, und ich bin gespannt, was sich in den nächsten Jahren alles entwickeln wird.

 

 

Literaturhinweise

Ministerium für Kultus, Jugend und Sport: Rahmenvereinbarung „Kooperationsoffensive Ganztagsschule. Ganztagsschule öffnen – Netzwerke bilden – Kinder und Jugendliche stärken“ (2014, PDF)

Matthias Spenn & Dietlind Fischer (2005). Ganztagsschulen gemeinsam entwickeln. Ein Beitrag zur evangelischen Bildungsverantwortung. Münster: Comenius-Institut.

Susanne Michaelsen (2007). "…damit ich mich nach der Schule nicht hetzen muss."
Eine Schülerbefragung zu Konfirmandenunterricht und Ganztagsschule. In Loccumer Pelikan, 1, S. 34–36.

Seit 2009 haben auf www.ganztagsschulen.org regelmäßig Bildungsministerinnen und Bildungsminister in Interviews die Entwicklungen beim Ausbau der Ganztagsangebote in ihrem Land erläutert. Alle Interviews finden Sie in der Rubrik „Bildungpolitik: Interviews“.

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