Kuttersegeln im Ganztag: "Heute würde man es Inklusion nennen" : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Joachim Bertram betreute viele Jahre für den Wassersport-Verein Hemelingen die AG Kuttersegeln an der Wilhelm-Olbers-Schule in Bremen. Er berichtet von seinen Erfahrungen.
Online-Redaktion: Was motivierte Sie 2008, die Kooperation zwischen Ihrem Verein und der Wilhelm-Olbers-Schule zu übernehmen?
Joachim Bertram: Ich war von der Idee sofort begeistert. Und das aus sehr persönlichen Erfahrungen. Ich bin in einem Waisenhaus groß geworden. Wir sind im Sommer stets zum Zelten gefahren. Dort gab es einen Bootsverleih, und wir halfen da öfter ein bisschen aus. Als Dank durften wir manchmal segeln. Mein Faible für die Natur, das Wasser und diesen Sport war geboren. Seit 1960 gehöre ich dem Wassersport-Verein Hemelingen an. Ein eigenes Boot besitze ich seit 1962. Die Motivation, mit Jugendlichen zu arbeiten, resultiert unter anderem daher, dass mir als Kind von vielen Menschen geholfen worden ist, auch von unserem Verein. Ich finde, davon ein wenig zurückzugeben, schadet nicht.
Online-Redaktion: Hemelingen bietet sich dafür besonders an?
Bertram: Ja, in unserem Stadtteil gibt es viele Jugendliche, die Unterstützung benötigen, Hemelingen ist ein sozialer Brenpunkt, Fördergebiet des Programms „Soziale Stadt“. Deshalb habe ich die vielen Jahre auch nicht nur mit den Schülerinnen und Schülern der Wilhelm-Olbers-Schule, sondern auch mit dem benachbarten Jugendhaus Hemelingen der Kinder- und Jugendhilfe zusammengearbeitet. Folgerichtig werden Projekte wie die AG Kuttersegeln und andere aus verschiedenen Töpfen, wie „WIN“ (Wohnen in Nachbarschaften) im Rahmen des Quartiersmanagements und des Landesprogramms „Lokales Kapital für soziale Zwecke", gefördert.
Online-Redaktion: Wie hat alles konkret begonnen?
Bertram: Im ersten Jahr ganz klein. Drei Kinder kamen im Sommer einmal wöchentlich, und wir haben gemeinsam den Kutter, der sich in keinem guten Zustand befand, instand gesetzt. Es wurde dann auch gesegelt und im Winter weiter am Boot gearbeitet. Schon im zweiten Jahr wuchs das Projekt. Wir erhielten Geld, unter anderem mit dem erklärten Ziel, Jugendliche auf den Übergang Schule-Beruf vorzubereiten – sie fit dafür zu machen.
Online-Redaktion: Es ging also um viel mehr als um den Segelsport?
Bertram: Will man es genau nehmen, dann war der Sport ein Anlass für intensive soziale Arbeit mit den Kindern. Ich habe jedes Jahr rund zehn Jugendliche betreut. Sie stellten einen Querschnitt der Gesellschaft dar. Es waren Leistungsstarke wie Leistungsschwache dabei, Korpulente und Schlanke, Jugendliche aus dem achten Schuljahr, die nicht schreiben und rechnen konnten, Kinder mit Autismus, sogar spielsüchtige Jugendliche hatten wir schon.
Online-Redaktion: Und die haben sie alle unter einen Hut gebracht?
Bertram: Heute würde man es wohl Inklusion nennen. Ja, ich habe jedes Kind im Blick gehabt. Neben einen, der sich nicht traute, das Boot zu steuern, habe ich mich gesetzt und ihn angeleitet. Steuermann zu sein, bedeutet viel mehr, als den Kurs des Bootes zu bestimmen. Wer im übertragenen Sinne am Steuer sitzt, muss lernen „laut“ zu sein, aus sich herauszugehen und sich durchzusetzen. Das stärkt das Selbstbewusstsein und das Verantwortungsgefühl. Auf so einem Boot lernen die Kinder und Jugendlichen, sich einerseits anpassen, gleichzeitig aber auch führen zu können.
Online-Redaktion: Was ihnen im Berufsleben sicher zugutekommt?
Bertram: Auf jeden Fall. Ich will aber nicht verschweigen, dass es angesichts der unterschiedlichen Herkunft und Potenziale auch sehr schwierig war, dem Auftrag gerecht zu werden. Also auf diese Weise einen Beitrag zum erfolgreichen Übergang von der Schule in den Beruf beziehungsweise in die Lehre zu leisten. Natürlich gilt das nicht für alle Kinder und Jugendlichen. Aber zu mir kamen auch solche, die noch nie die Weser gesehen hatten. Sie hatten einfach keinen Zugang zur Natur. Viele waren nicht in der Lage, über einen Steg zu gehen.
In unserer AG haben sie viele dieser Dinge gelernt, sie haben sich überwunden, haben Mut und Selbstbewusstsein entwickelt. Alles Voraussetzungen für einen gelingenden Einstieg ins Berufsleben. Aber wir haben die Zeit auch genutzt, sie fit für die Bewerbung zu machen, ihnen unterschiedliche Berufsbilder nahezubringen, über die Folgen von Arbeitslosigkeit und Krankheit oder einer zu kleinen Rente aufzuklären.
Online-Redaktion: Die Jugendlichen hatten dafür ein offenes Ohr?
Bertram: Berufsvorbereitung und alles, was damit zu tun hat, wird auch in der Schule geleistet. Vielleicht lag es ja an den kleinen Gruppen, an dem sehr persönlichen, engen Kontakt, dass sie in der AG besonders bereit waren, zuzuhören, zu fragen, Interesse zu entwickeln. Wichtig war allerdings auch, dass es klare Regeln gab und Disziplin, Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit verlangt wurde. Wer fünf Minuten nach dem geplanten Start unserer Segeltour nicht da war, hatte halt Pech. Das passierte jemandem aber höchstens einmal, danach war er immer rechtzeitig am Boot.
Online-Redaktion: Was befähigte Sie zu dieser Arbeit?
Bertram: Ich glaube, es war die Mischung aus der Erfahrung der eigenen Kindheit, dem Studium der Elektrotechnik, meine Führungsaufgabe im Betrieb und nicht zuletzt die eigenen Kinder und Enkel.
Online-Redaktion: Was müssen Mitglieder von Sportvereinen mitbringen, um eine Arbeitsgemeinschaft an einer Ganztagsschule leiten zu können?
Bertram: Das mit Abstand Wichtigste ist der gute Draht zu Kindern und Jugendlichen. Man sollte sich in sie hineinversetzen können, verstehen können, was sie bewegt. Darüber hinaus ist privates zeitliches wie finanzielles Engagement – in meinem Fall für Material - erforderlich. Es sind ja nicht nur die Stunden der AG, die anfallen. Sie müssen diese vor- und nachbereiten. Sie müssen sich Zeit für Gespräche mit den Jugendlichen und für Absprachen mit der Schule nehmen. Meine AG dauerte offiziell vier Stunden pro Woche. Gearbeitet habe ich acht. Aber immer gerne.
Online-Redaktion: Welche Voraussetzungen sollten seitens des Vereins für die Kooperation mit Ganztagsschulen erfüllt sein?
Bertram: Optimal ist natürlich, wenn ein enger Draht zwischen Schulleitung, Kollegium und den Leitungen von Arbeitsgemeinschaften besteht. Dann kann man sich regelmäßig über die Kinder und Jugendlichen austauschen und gemeinsam überlegen, wie man sie am besten fördert. Wichtig ist meines Erachtens auch ein konkreter Ansprechpartner, so wie ich ihn in einer Lehrerin der Wilhelm-Olbers-Schule fand. Gleichzeitig muss man Verständnis für die Lehrkräfte haben. Sie übernehmen so viele Aufgaben, da bleibt manchmal für die Einzelne oder den Einzelnen wenig Zeit, und die Schule ist froh, wenn die Arbeitsgemeinschaften reibungslos ablaufen.
Online-Redaktion: Was hatte der Wassersport-Verein Hemelingen von der Kooperation?
Bertram: Ich denke, es sind zwei Dinge. Zum einen konnten wir – auch mit öffentlichen Geldern – unseren Kutter instand setzen. Das zweite dürfte schwerwiegender sein: Oft wird unser Verein in der Presse und Öffentlichkeit durch seine Leistungsfähigkeit und Bundesligazugehörigkeit wahrgenommen. Durch Projekte wie die Zusammenarbeit mit der Ganztagsschule wird auch sein soziales Engagement wahrgenommen.
Online-Redaktion: Sie würden die Aufgabe wieder übernehmen?
Bertram: Wenn ich jünger wäre, auf jeden Fall. Doch mit 74 Jahren sollten andere in die Bresche springen. Ich hoffe, dass unser Kutter bald wieder auf Fahrt geht.
Kategorien: Kooperationen - Kulturelle Bildung
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