Kolping-Bildungswerk: Soziales Lernen im Ganztag fördern : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Das Projekt „wir.“ des Kolping-Bildungswerks Köln fördert das soziale Lernen in Ganztagsschulen. Matthis Green koordiniert das Programm. Er ist überzeugt: „Selbsterfahrung ist wertvoller als vorgefertigte Verhaltensmuster.“

Online-Redaktion: „wir.“ ist ein Projekt zur Förderung sozialen Lernens. Wer hat es konzipiert und warum?

Matthis Green: „wir.“ wurde im Kolping-Bildungswerk Köln von Psychologen, Sportwissenschaftlern und Kulturpädagogen entwickelt, weil es viele einsame Kinder gibt. Neid, Ausgrenzung und Konkurrenzdruck in Klassen und Ganztagsgruppen treten mal mehr, mal weniger auf. Im wir. lernen Kinder die eigenen Gefühle offen anzusprechen, sich gegenseitig zu helfen und sich besser zu verstehen.

Online-Redaktion: Warum wenden Sie sich speziell an Ganztagsschulen?

Green: Das Kolping-Bildungswerk Köln ist Träger von Übermittags- und Nachmittagsangeboten und Kooperationspartner von insgesamt 30 Grundschulen und weiterführenden Schulen. Davon sind vier Ganztagsschulen. Hier wurden in der Vergangenheit viele Erfahrungen gesammelt, sodass das Projekt auf spezielle Themen und spezielle Bedürfnisse des Ganztags eingehen kann. „wir.“ hat hier den positiven Nebeneffekt, dass es Lehrkräfte und pädagogisches Fachpersonal enger zusammenbringt und so besser miteinander verzahnt.

Online-Redaktion: Wen sprechen Sie mit Ihrem Projekt an?

Green: „wir.“ versucht, nachhaltig zu wirken. Deswegen sollen alle Beteiligten und Bezugspersonen, die mit den Kindern zu tun haben, einbezogen werden. Das bedeutet: die Schulkinder, Schulklassen und Gruppen des Offenen Ganztags, die Lehrer und Gruppenleitungen, die mit den jeweiligen Klassen im Alltag arbeiten, aber auch die Eltern. Sowohl Lehrer als auch Gruppenleitungen sind während des „wir.“-Projekts anwesend. Zunächst als stille Beobachter und später in der Stundenreflexion mit den Coaches. Die Eltern werden durch regelmäßige Elternbriefe über den Verlauf des Projekts informiert.
Ziel ist es, dass alle Bezugspersonen der Kinder informiert sind und Themen aus dem Projekt aufnehmen und thematisieren können. Hier wird das Prinzip verfolgt: Erleben, Reflektieren, Erinnern, Erinnern, Erinnern.

Online-Redaktion: Wie läuft „wir.“ ab?

Green: Ein „wir.“-Projekt umfasst zehn bis zwölf Termine und dauert etwa ein Halbjahr. Einmal pro Woche kommen die Coaches in die Schule und führen das Projekt mit einer festen Klasse oder Gruppe durch. Die „wir.“-Stunden haben eine immer wiederkehrende Struktur. Erst einmal müssen die Kinder überhaupt ankommen und den Übergang vom Schulalltag in die „wir.“-Stunde finden. Dazu ist zunächst freies Spiel und Bewegung im Raum angesagt. Mit dem Blitzlicht und einem ersten Sitzkreis wird dann die Stunde eröffnet. Jeder kommt jetzt einmal zu Wort, um sein Befinden und seine Gefühle äußern zu können. Gleichzeitig bekommen die Coaches die Möglichkeit, einen ersten Eindruck von der Gesamtstimmung zu erhalten.

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In der Arbeitsphase, dem Herzstück der Stunde, spielen, üben und diskutieren die Kinder gemeinsam mit den Coaches zu den Themen Wahrnehmung und Gefühle, Selbstbild und Selbstbewusstsein, Kommunikation und Umgang mit Konflikten, Kooperation und Integration. Praktisch bedeutet das, dass im Anschluss an ein Spiel immer wieder kurze Gesprächsrunden stattfinden, in denen noch einmal überlegt wird, was gerade passiert ist. Am Ende der Einheit kommen Kinder und Coaches zusammen, um die Stunde zu beenden. Der gemeinsame Abschied ist somit ebenfalls ein festes Ritual. Im Anschluss wird die Stunde zwischen Coaches, Lehrkräften und Ganztagspädagogen reflektiert.

Online-Redaktion: Was und wie lernen die Schülerinnen und Schüler in diesem Projekt konkret?

Green: Wichtig ist uns zunächst, dass die Kinder der Klasse miteinander in Kontakt kommen können. Auf ganz natürliche und spielerische Weise wird den Kindern gezeigt, wie wichtig es ist, miteinander zu reden und offen füreinander zu sein. Da geht es einmal darum, ehrlich zu sich selbst zu sein, also sich selbst einschätzen zu können, in sich hineinhorchen und über sich selbst sprechen zu können. Zu wissen, wer man ist, was man kann  oder eben auch nicht kann und warum man gut und wichtig ist, aber auch, warum die anderen um einen herum wichtig sind und was sie für tolle Qualitäten haben.

Im Endeffekt geht es darum, wie schön es sein kann, in einer Klasse gemeinsam Erfahrungen zu sammeln, älter zu werden und als Gemeinschaft zusammenzuwachsen. Die meisten Kinder haben einen großen Bewegungsdrang, den wir ansprechen, herauskitzeln und fördern wollen. Unsere Stunden sind deshalb immer bewegungsintensiv, allerdings auf eine andere Art, als die Kinder es aus dem Sportunterricht kennen. Die Bewegung ist eher Mittel zum Zweck. Wir versuchen damit die Neugierde der Kinder zu wecken, um sie zu animieren, sich aktiv an den spielerischen Aufgaben zu beteiligen und mitzumachen. Und nach den Spielen setzen wir uns zusammen und haben Zeit, uns über das, was gerade passiert ist, zu unterhalten.

Online-Redaktion: Welche Intention prägt die „wir.“-Stunde?

Green: Es geht nicht zwangsläufig darum, dass die Gruppe oder Klasse eine Aufgabe besonders gut löst. Es gibt kein Richtig oder Falsch. Es geht um den Weg, der dabei beschritten wird. Die Kinder sollen in unseren Spielen ihre eigenen Erfahrungen sammeln, ohne dass ihnen eine Lösung oder eine bestimmte Verhaltensweise übergestülpt werden. Dadurch, dass nach den Spielen immer darüber geredet wird, was gerade passiert ist, bekommen alle die Möglichkeit, ihr eigenes Verhalten, aber auch das Zusammenspiel der Gruppe einmal zu überdenken.

Wir versuchen, das Bewusstsein der Kinder auf das Erlebte zu lenken, um anschließend gemeinsam Alternativen zu finden, Ansichten und das Verhalten weiterzuentwickeln. Etwas, das man sich selber überlegt hat, merkt man sich einfach besser. Und wenn man als Klasse gemeinsam an einer schwierigen Aufgabe gearbeitet hat und alle merken, dass sie zusammen immer besser werden, wird nicht nur das Selbstbewusstsein der einzelnen Kinder gestärkt, sondern es entwickelt sich auch ein besserer Klassenzusammenhalt.

Online-Redaktion: Wie profitieren die Lehrkräfte von dem Projekt?

Green: Die Lehrkräfte bekommen die Möglichkeit, ihre Klasse mal aus einer ganz anderen Perspektive wahrzunehmen und einfach nur zu beobachten, wie sich die Kinder in der „wir.“-Situation verhalten. Dadurch, dass die Verantwortung für das Gruppengeschehen bei den „wir.“-Coaches liegt, können sich die Lehrkräfte voll und ganz auf diese Aufgabe konzentrieren.

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Zudem unterstützt „wir.“ die Verknüpfung von Schule und Ganztag, da auch die Gruppenleitungen des Ganztags in die Beobachterrolle schlüpfen. Somit entsteht zwischen Lehrkräften und Gruppenleitung ein Austausch über Kinder und Beobachtungen aus dem Gruppenalltag, sodass sich insgesamt ein umfassenderes Bild der Klasse und der einzelnen Kinder aus drei verschiedenen Perspektiven ergibt.

Online-Redaktion: Kann die Ganztagsschule besonders gut soziales Lernen fördern? Wenn ja, warum?

Green: Gerade im System Ganztag ist es besonders wichtig, dass die Kinder soziale Kompetenzen erlernen, da sie durch den langen Tag an der Schule sehr viel Zeit in Gruppensituationen erleben. Entsprechend viel Gelegenheit bietet eine Ganztagsschule auch, soziales Lernen zu fördern. Durch die Verzahnung von Schule und Ganztag bietet sich die Gelegenheit, den Kindern in unterschiedlichen Lernsituationen positive Rückmeldungen zu ihrem Verhalten zu geben, die nicht immer nur von der gleichen Person kommen.

Online-Redaktion: Reicht ein einmaliges Projekt wie „wir.“ aus, um soziales Lernen zu verinnerlichen?

Green: Die Nachhaltigkeit des Projekts zu sichern, ist ein wichtiges Anliegen für uns. Während der Projektphase versuchen die Coaches bereits, den Rahmen dafür zu schaffen. So werden über die regelmäßigen Reflexionsgespräche im Anschluss an die Stunden Berührungspunkte für Lehrkräfte und Ganztagspädagogen geschaffen.

Nach Projektende wird in einer größeren Gesprächsrunde mit der Schulleitung, der Kolping-Projektkoordination, den Lehrkräften, Ganztagspädagogen und den Coaches ein Resümee gezogen, und es werden kommende Schritte besprochen. Dabei geht es ganz konkret darum, wie die gelernten Inhalte über das Projekt hinaus verinnerlicht werden können. In vielen Klassen werden die Ergebnisse aus der Abschlussstunde in Posterform aufgehängt, sodass die Lehrerin oder der Lehrer die Klasse immer wieder daran erinnern kann.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Gespräch!

Das nach dem Priester, Publizisten und Sozialreformer Adolph Kolping (1813-1865 Köln) benannte Kolping-Bildungswerk ist einer der größten freien Träger der beruflichen Bildung und umfasst bundesweit 200 Einrichtungen. Es ist insbesondere auch in der Jugendsozialarbeit tätig. Die Ideale Kolpings sind für den Diözesanverband Köln wegweisend: „Jeder Mensch ist wertvoll, jeder Mensch braucht Gemeinschaft und jeder Mensch braucht eine Aufgabe im Leben.“ Das Kolping-Bildungswerk gestaltet derzeit in zwölf Grund- und Förderschulen den Offenen Ganztag und bietet in Gymnasien und Realschulen Übermittagsbetreuungen in Kooperation mit den jeweiligen Schulen an.

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