Im Wendepunkt des Oderbruchs : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf

Vielen Gemeinden und Schulen geht langsam, aber sicher ihr wichtigster Schatz - die Kinder und Jugendlichen - zur Neige. Das betrifft besonders auch Regionen in den neuen Ländern: Familien ziehen weg, Jugendliche suchen zunehmend Lehrstellen in den alten Ländern. Gegen das fortgesetzte Schrumpfen in den ländlichen Regionen helfen gute Ganztagsschulen, lokale Bildungslandschaften und schulische Innovationen, wie das Beispiel der Oberschule Letschin verdeutlicht. Denn ohne pädagogische Fähigkeiten und professionelles Engagement kann man die Eltern und Kinder kaum von den Vorzügen ihrer ländlichen Region überzeugen.

Als Cathleen, 15 Jahre, das Klassenzimmer betritt, in dem ihre Lehrerinnen soeben Auskunft über ihre Schule geben, wirkt sie schüchtern: Der Neuntklässlerin fällt es nicht leicht, mal im Mittelpunkt zu stehen. Cathleen war einige Zeit auf dem Gymnasium, doch gerne erinnert sie sich nicht daran zurück: "Die Leute dort waren nicht offen und sind nicht auf einen zugekommen." Ihre Talente blieben unentdeckt, sie musste das Gymnasium verlassen.

Angenehme Erinnerungen verknüpft sie dagegen mit ihrem ersten Schultag an der Oberschule Letschin: "Die Mitschüler kamen gleich auf mich zu und haben sich für mich interessiert." Das positive Schulklima begleitet Cathleen bis heute, es stärkt ihr Selbstbewusstsein und Wohlbefinden. Natürlich fällt die gute Atmosphäre, die man zwischen den Kindern und Jugendlichen und den Erwachsenen wahrnimmt, nicht vom Himmel.

Professioneller Ganztag in strukturschwacher Region

Einen starken Anteil daran haben die Lehrerinnen, die an diesem Tag mit Birgit Kronfeldt, Annette Gewinner, Birgit Siebert und Doreen Gbur vertreten sind - und die eine zugleich herzliche und fachlich kompetente Ausstrahlung vermitteln. Darüber hinaus gibt es mit der Schulsozialarbeiterin Jana Behrend eine Fachkraft, die neben der Förderung der sozialen Fähigkeiten den Kontakt zum Elternhaus aktiv mitgestaltet.

Gerade im strukturschwachen Oderbruch sind die Eltern darauf angewiesen, dass sie für ihre kleinen und großen Kinder auf Einrichtungen zurückgreifen können, die eine ganztägige Bildung und Erziehung ermöglichen und die Kinder und Jugendlichen von Klasse eins bis zehn unter einem Dach unterrichten. Für die rund 100 Schülerinnen und Schüler gibt es eine verlässliche Halbtagsschule mit Hort (Grundschule) sowie einen vollgebundenen Ganztagsbetrieb für die Sekundarstufe I.

Durch die Zusammenlegung der Grundschule mit der Sekundarstufe zu einem Schulzentrum kommen einige gravierende Änderungen auf die Kinder und Jugendlichen sowie die Lehrkräfte zu. Doch einschneidende Veränderungen ist man hier ohnehin gewöhnt. Umbaumaßnahmen sollen neue Unterrichts- und Lernformen ermöglichen, die die einzige Schule der Gemeinde in eine moderne, möglichst zukunftsfeste Bildungseinrichtung transformieren, so Birgit Kronfeldt, die Ganztagsbeauftragte der Schule.
 
Im nächsten Jahr erwarte man für die Sekundarstufe I immerhin eine Steigerung der Schülerzahl auf 140, was angesichts der ländlichen Lage der Schule und der demografischen Entwicklung der Region eine kleine Sensation darstellt. Der positive Trend kann auch als Bestätigung für das Konzept der Oberschule gesehen werden, welches das Land Brandenburg im Jahr 2005 auf den Weg gebracht hat.

Zusammenhalt statt Verdrängungswettbewerb

Vor allem für Schulen in ländlicher Lage mit großem Einzugsbereich und langen Anfahrtswegen ist dies von besonderem Interesse, weil es die Zusammenarbeit der Schule mit der Gemeinde sowie den außerschulischen Partnern in Gestalt von Vereinen oder den Arbeitsagenturen nachhaltig stärkt. Kein Kind verloren zu geben, bedeutet in diesem Zusammenhang, das Potenzial der lokalen Bildungslandschaft auszuschöpfen, damit jedes Kind seine Talente entdecken kann und auf Ausbildung und Berufsleben vorbereitet wird.

Der brandenburgische Bildungsminister Holger Rupprecht begründete die landesweite Initiative Oberschule (IOS) wie folgt: "Es gab keinen anderen Weg, um unter den Bedingungen eines Flächenlandes mit rapide sinkenden Schülerzahlen ein Netz von weiterführenden Schulen aufrecht zu erhalten, das es jeder Schülerin und jedem Schüler erlaubt, den gewünschten Abschluss in vertretbarer Entfernung anzustreben." Wichtig ist die Verbesserung der Anschlussfähigkeit an die nachfolgenden Bildungsgänge sowie die Vorbereitung der Schülerinnen und Schüler auf das Berufsleben.

"Initiative Oberschule" in Brandenburg

Eine innovative Rolle spielt dabei die Einbindung der Schulen in die Gemeinde. Rund 25 Millionen Euro stehen für das Programm zur Verfügung, mit denen die Schulen ergänzend zum Unterricht Konzepte entwickeln, "um den Schülerinnen und Schülerinnen bessere Schulabschlüsse zu ermöglichen, ihre Ausbildungsfähigkeit zu erhöhen und ihr Selbstbewusstsein zu stärken" (Bildungsserver Brandenburg). Drei regionale Partner stehen der IOS mit Rat und Tat landesweit zur Seite: der "Projektverbund Praxislernen in IOS", der Verein "Netzwerk Zukunft. Schule und Wirtschaft in Brandenburg" sowie der "Projektverbund kobra.net - Kooperation in Brandenburg". 

Die finanziellen Mittel, die die Schulen aus dem IOS erhalten, richten sich nach der Schülerzahl, während die Schulen aufgefordert werden, spezifische Maßnahmen zu entwickeln, die an dem pädagogischen Konzept der Schule ausgerichtet sind. Im Schulamtsbereich Eberswalde/Frankfurt (Oder) ist ein freier Träger mit der fachlichen und finanziellen Steuerung der Angebote beauftragt.

Der freie Träger schließt mit der Schule, dem staatlichen Schulamt sowie den Trägern der Angebote entsprechende Verträge. Das Angebot beinhaltet einen umfassenden Katalog von Maßnahmen, der von der Berufsorientierung (Servicelernen, Praxislernen) über die Stärkung von Schlüsselqualifikationen wie Persönlichkeitsentwicklung und soziales Lernen bis hin zur Qualifizierung der Lehrkräfte und der Entwicklung der Schule als Gesamtsystem reicht.

Bindung an Schule und Lebenswelt

Natürlich muss sich die Oberschule gegen das Vorurteil zur Wehr setzen, dass sie alle Schülerinnen und Schüler aufnimmt, die "übrig" bleiben. Wichtig sei allerdings, dass leistungsschwächere Kinder durch starke Schüler mitgezogen werden, erläutert Birgit Siebert, Mathe- und Physiklehrerin. Vor diesem Hintergrund hat die Oberschule Letschin ein integratives Modell des Unterrichts eingeführt, in dem Schülerinnen und Schüler mit Haupt- oder Realschulabschluss binnendifferenziert in A- und B-Klassen unterrichtet werden.

kommissarische Schulleiterin und ihr Vorgänger
Stabwechsel an der Letschiner Schule: die neue kommissarische Schulleiterin und ihr Vorgänger.

Methodenvielfalt soll an der Oberschule den Frontalunterricht zunehmend aufweichen und die individuelle Förderung sowie die Entwicklung der Teamfähigkeit jedes Kindes ermöglichen. Die Stichworte dazu lauten: Stationenlernen, "Count down Tage" oder "Lions Quest"-Sozialtrraining. Schulinterne Fortbildungen (SCHILF), aber auch die fachliche Weiterbildung genießen in dem Kollegium einen hohen Stellenwert.

Je heterogener die Schülergruppen sind, desto größer die Anforderungen an Diagnostik und Didaktik. Die Unterschiede manifestieren sich für Siebert recht deutlich: So machten manche Schüler lediglich das, was man ihnen sage, sie entwickelten wenig Eigeninitiative. Dagegen wiesen andere eine höhere Lernmotivation und ein größeres Selbstbewusstsein auf.

Zwischen Betriebsluft und Schule als Lebensraum

Der gebundene (verpflichtende) Ganztag, den die Schülerinnen und Schüler beginnend von Klasse 7 bis zur Klasse 10 besuchen, erlaubt die stärkere Verzahnung von Unterricht, Berufsorientierung und sozialem Lernen. Rund 32 Wochenstunden sind dem Unterricht vorbehalten, um die Jugendlichen in Theorie und Praxis zu stärken. Hinzu kommen für jeden Schüler ca. vier Ganztagsstunden. Ein Berufswahlpass, der das Praxislernen dokumentiert, wird in allen Jahrgangsstufen durchgeführt.

In der achten Klasse, wenn es Zeit wird, Perspektiven jenseits der Schule zu entwickeln, ist ein 14-tägiges Praktikum im Rahmen des Praxislernens vorgesehen. Der Ablauf des Praktikums gestaltet sich wie folgt: Ein Tag Orientierung, danach in der ersten Woche ein täglicher Wechsel des Betriebes. Erst in der zweiten Woche legen sich die Schülerinnen und Schüler auf ein Berufsbild fest.

Die verbindliche Berufsorientierung beginnt in der neunten Klasse. Nun müssen die Schülerinnen und Schüler im Bereich Elektrotechnik, Kosmetik, Krankenpflege oder Verwaltung ein Schülerbetriebpraktikum absolvieren können. Die Kooperationspartner auf dem Gebiet der Berufsorientierung sind die Arbeitsagentur und das Bildungswerk der Wirtschaft in Heinickendorf.

Sie vermitteln die Schülerinnen und Schüler in enger Zusammenarbeit mit den Lehrkräften an die Betriebe. Um die Verzahnung von Unterricht und Betrieb zu verbessern, bekommen die Jugendlichen Praxislernaufgaben mit in die Betriebe. Für Cathleen hat sich der Besuch Oberschule doppelt bezahlt gemacht: Verwaltungsfachangestellte bei der Bundespolizei möchte sie gerne werden. Allerdings ist ihr bewusst, dass sie sich dafür in Rechtschreibung noch deutlich verbessern muss.

Für alle Fälle hat sie aber schon Plan B parat: eine Ausbildung als Krankenschwester. Sie strebt einen krisenfesten Job an. Dass die Berufsorientierung für eine zukunftsfeste Bildung und für ein selbstbestimmtes Leben nur die halbe Miete ist, dies hat sich spätestens nach PISA rumgesprochen. Immer mehr kommt es auf die Schlüsselqualifikationen oder die "weichen" Kompetenzen an.

Hier schlummern oft die wahren Talente von Jugendlichen wie Cathleen oder Paul, die es aus verschiedenen Gründen nicht aufs Gymnasium geschafft haben. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund hat sich Cathleen für ein Engagement im Jugendbeirat der Gemeinde Letschin entschieden. Nun muss sie öfter in der Öffentlichkeit auftreten und sich für die Interessen der Gleichaltrigen einsetzen.

Die Schule als Erzieher

Ihren Schulfreund Paul, ebenfalls 15 Jahre alt und Schüler der neunten Klasse, hat sie oft an ihrer Seite. Auch Paul hat erkannt, dass ihn die Übernahme von Verantwortung in schulischen Dingen voranbringt. Die Ganztagsschule ist für ihn zu einem Ort geworden, an dem er - während seine Eltern den Lebensunterhalt der Familie auf einer Obstplantage verdienen - Unterstützung von den Lehrkräften bekommt und viele Bildungs- und Freizeitangebote nutzen kann.

Im Rahmen des Ganztags gibt es die Arbeitsgemeinschaften "Jung und Alt" in Kooperation mit dem Seniorenheim, Jugend-Rotkreuz, Kreatives Gestalten, Feuerwehr, Fußball, Musik-Club oder Theater und Rezitation. Ein Theaterprojekt gemeinsam mit der Werner-Stephan-Oberschule Berlin-Tempelhof wurde im Schloss Trebnitz aufgeführt.

Der Bürgermeister im Boot

Ein Markenzeichen der Oberschule Letschin ist die enge Zusammenarbeit mit dem Bürgermeister Michael Böttcher. Dieser hat die Bildung längst zur Chefsache erklärt und sich einen Namen damit gemacht, dass er in Sachen Bildung und Betreuung - Ganztag und Kita - eng mit der Nachbargemeinde Golzow kooperiert. Als Schulträger hat Böttcher erreicht, dass er ganz im Sinne der Aachener Erklärung des Deutschen Städtetages nun auch für die Bildung mitverantwortlich zeichnet.

Der Bürgermeister ist nicht nur Mitglied des Schulfördervereins, sondern er sitzt auch mit Stimmrecht in der Schulkonferenz: "Mit der Integration in die Schule kommt man viel näher an die Themen der Schule heran und erfährt, was die Eltern, die Lehrerinnen und Lehrer und die Kinder bewegt." Letschin ist ein Beispiel, wie viel professionelles Engagement, aber auch Herz notwendig ist, um aus schwierigen Rahmenbedingungen den Wendepunkt ins Positive zu erreichen.

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