Gut für die Ganztagsschule: Kirchliche Jugendarbeit : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
2014 startete in Baden-Württemberg die "Kooperationsoffensive Ganztagsschule". Landesschülerpfarrer Dr. Wolfgang Ilg und Projektreferent Oliver Pum im Interview über den Beitrag der kirchlichen Jugendarbeit.
Online-Redaktion: Sie konstatieren für die evangelische Jugendarbeit eine große Dynamik. Können Sie einige Beispiele nennen?
Wolfgang Ilg: In Baden-Württemberg haben wir kürzlich eine große Studie mit dem Titel „Jugend zählt“ über die kirchliche Arbeit mit Kindern und Jugendlichen durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass die kirchliche Arbeit in den vielfältigen Bereichen, sei es in der klassischen Jugendarbeit, der Kinderchorarbeit oder der Konfirmandenarbeit, sehr aktiv ist. Da verschiebt sich manches in den Angebotsformen, aber die Nachfrage ist sehr hoch und stabil. Ein Fünftel aller evangelischen Kinder und Jugendlichen nehmen regelmäßig an solchen Angeboten teil. Allerdings spüren auch wir den demografischen Wandel: Es gibt weniger Kinder und Jugendliche, und dazu nimmt auch noch der Anteil von evangelischen ab.
Ein Bereich, der massiv angewachsen ist und sich in den letzten sieben Jahren mehr als verdoppelt hat, sind die schulbezogenen Angebote. Das liegt natürlich auch an der Ausdehnung der Schulzeit durch die Ganztagsschulen und G8. Die Evangelische Kirche hat darauf reagiert und gesagt, dass wir da sein wollen, wo die Lebensräume der Kinder und Jugendlichen sind. An vielen Orten ist eine Veränderungsbereitschaft zu spüren.
Oliver Pum: Ich finde es wichtig, dass wir uns als Kirche verstehen, die sich in Bewegung setzt, die vor Ort geht und nicht wartet, bis die Kinder und Jugendlichen zu ihr kommen. Und wir als Kirche müssen uns auch hinterfragen, wo wir in einer pluralen Gesellschaft unseren Platz finden. Umgekehrt öffnen sich die Ganztagsschulen in das Gemeinwesen und verharren nicht in einem geschlossenen System.
Online-Redaktion: Geht die zeitliche und räumliche Verlagerung Ihrer Angebote auch mit inhaltlichen Veränderungen einher?
Ilg: Der Ansatz der kirchlichen Jugendarbeit lautet, dass wir das Beste für junge Menschen suchen, nicht für uns selbst. Es geht uns nicht darum, die Institution Kirche zu beleben oder Mitglieder zu gewinnen, sondern wir wollen Kinder und Jugendliche hilfreich begleiten und ihre Lebensfragen thematisieren. Da bringt die kirchliche Jugendarbeit viele Kompetenzen und Erfahrungen mit, auch im Gestalten von Freiräumen. Das tut der Ganztagsschule gut.
Online-Redaktion: Wie groß sind die Berührungspunkte mit Ganztagsschulen in ihrer täglichen Arbeit?
Pum: Das ist von Schule zu Schule unterschiedlich, weil auch die Ganztagskonzepte ganz unterschiedlich sind. Im besten Fall findet viel Kommunikation auf unterschiedlichen Ebenen statt, in Gesprächen mit der Schulleitung und den für den Ganztag zuständigen Personen. Da gibt es regelmäßige Auswertungsgespräche. Und die besten Angebote sind auch in der Regel diejenigen, die Schule und außerschulische Partner gemeinsam entwickeln. Bei langfristigen Projekten hängt ganz viel von der Kommunikation ab, auch über die organisatorischen Fragen hinaus. Das hat viel mit Beziehungen zu tun und dem Wunsch, beiderseits die Potenziale so einzubringen, dass echte gemeinsame Projekte entstehen.
Online-Redaktion: Welche Beispiele der Zusammenarbeit sind besonders gelungen?
Pum: Da gibt es zum Beispiel in Langenburg eine Schule, an der ein Mitarbeiter der kirchlichen Jugendarbeit Ganztagsangebote der Schule koordiniert und Ansprechpartner für die vielen Mitarbeiter der Jugendarbeit ist, die dort am Nachmittag die unterschiedlichsten Angebote machen. Er kann bei Problemen helfen, Informationen weitergeben und einfach das persönliche Gespräch suchen.
Ein Klassiker ist noch immer die Jungschararbeit, also die Gruppenarbeit mit musischen, kreativen und sportlichen Angeboten, die in vielen Ganztagsschulen sehr gut läuft. Mir gefällt besonders das Projekt „Lese-Omis“, wo ältere Damen gemeinsam mit Grundschülern lesen. Woanders gibt es die Möglichkeit, in Kooperation mit der Musikschule ein Blasinstrument zu lernen und dann im kirchlichen Posaunenchor mitzuspielen.
Online-Redaktion: Vernetzen sich die Kooperationspartner aus der kirchlichen Jugendarbeit untereinander?
Ilg: Auf Landesebene arbeiten wir sehr gut mit den Katholischen Diözesen und mit der Badischen Landeskirche zusammen, und darüber hinaus mit dem Landessportbund und anderen Partnern. Auf lokaler Ebene tauschen sich die katholische und evangelische Jugendarbeit aus und entwickeln gemeinsam Projekte. An dieser Stelle setzt auch unsere Arbeit ein: Wir organisieren dreimal im Jahr unsere „Vernetzungstreffen Jugendarbeit und Schule“. Da treffen sich die Akteure wie Jugendreferenten, Schulleitungen, Schuldekane und andere, um Erfahrungen auszutauschen und voneinander zu lernen.
Es gibt viele gute, etablierte Programme, die in der Fläche angekommen sind und von denen man etwas abschauen kann. So zum Beispiel das Schülermentorenprogramm, das wir seit über zehn Jahren im Auftrag des Kultusministeriums durchführen. Diesen Bereich halten wir aber auch für ausbaufähig. Von der Schulverwaltung wünschen wir uns da mehr Impulse für gemeinsame Fortbildungen von Lehrkräften und Jugendreferenten. Nur über die Begegnung und über die Beziehung gelingt es, ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln.
Online-Redaktion: Welche Intentionen stehen hinter Ihrem Projekt „Kirche – Jugendarbeit – Schule“, das auch wissenschaftlich begleitet wird?
Ilg: 2011 beschloss die Württembergische Landessynode, also quasi das Kirchenparlament, dieses Projekt, das noch bis nächstes Jahr läuft. Man sah die große Dynamik, die im schulbezogenen Bereich entsteht, und hat in weiser Voraussicht das Projekt zur Beratung und Vernetzung eingerichtet. Das ist die Stelle von Oliver Pum. Das Projekt läuft sehr erfolgreich. Inzwischen sind fast alle Kirchenbezirke von ihm besucht worden. Zusätzlich hat die Kirche ein Budget von knapp 350.000 Euro bereitgestellt. Damit können 26 Förderprojekte unterstützt werden. Das waren sehr wichtige Initiativen, die jetzt auf eine Verstetigung angewiesen sind.
Die wissenschaftliche Begleitung haben wir von Anfang an mitgedacht. Die Universität Tübingen hat vor Ort Interviews mit den Beteiligten geführt. Im Oktober 2016 werden die Ergebnisse im Buch "Jugend gefragt" veröffentlicht. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass solch ein Projekt sehr hilfreich ist, es werden aber auch Stellen identifiziert, bei denen noch weiterer Bedarf besteht: Das betrifft zum Einen die Finanzierung, zum Anderen die Qualifizierung von Haupt- und Ehrenamtlichen. Das deckt sich auch mit den von Oliver Pum aus der Praxis berichteten Erfahrungen.
Pum: Die Forschungsergebnisse geben uns wichtige Hinweise, uns weiterzuentwickeln. Ein wesentlicher Bereich ist die Aus- und Fortbildung, in die die Erfahrungen aus den Praxisprojekten einfließen sollen. Dann zeigt uns die Forschungsbegleitung, dass wir zwar unglaublich vielfältig in unserer Angebotspalette sind und flexibel auf die Bedarfe der Schülerinnen und Schüler eingehen können, dass genau das aber im Vorfeld der Kooperation manchmal nicht unbedingt von Vorteil ist. Wenn der Sportverein oder die Musikschule auf die Ganztagsschule zukommt, weiß die Schule, was sie erwartet. Unsere Vielfalt macht es manchmal unübersichtlich. Wir werden daher unser Profil schärfen und verlässliche Ansprechpartner für die Schulen vor Ort bestimmen müssen.
Online-Redaktion: Herr Ilg, Sie haben auch an der Rahmenvereinbarung „Kooperationsoffensive Ganztagsschule“ mitgewirkt. Sind Sie mit dem Ergebnis zufrieden?
Ilg: Wir sind von Anfang an mit anderen außerschulischen Partnern in einem sehr guten Miteinander beteiligt gewesen. Es war aber für alle Beteiligten auch ein Lernprozess. Man muss sich vor Augen halten, dass die Schulverwaltung bis jetzt nur eine Schule kannte, die zentral steuerbar ist. Wenn Schulen nun kooperieren sollen, dann erfordert das eine andere Sichtweise, auch das Eingehen der Schulen auf die Bedürfnisse der Partner.
Mit dem Ergebnis der Rahmenvereinbarung sind wir sehr zufrieden. Im Gesetz steht jetzt der Hinweis, dass Ganztagsschulen mit außerschulischen Partnern zusammenarbeiten sollen. Es gibt auch die Möglichkeit, die Qualität durch die Monetarisierung von Lehrerwochenstunden zu gewährleisten. Die Ganztagsschulen können außerschulische Partner einstellen, womit endlich die bisherige Praxis beendet wird, dass Kooperationspartner die Zusammenarbeit aus eigenen Mitteln finanzieren müssen.
Das geht in die richtige Richtung. Nun steht an, dass die für die Grundschule geltenden Regelungen auch auf die Sekundarstufe ausgeweitet werden, wie es im Koalitionsvertrag verankert ist. Qualität sollte aus unserer Sicht auch durch Hauptamtlichkeit sichergestellt werden.
Online-Redaktion: Was bleibt aus Ihrer Sicht noch zu tun?
Ilg: Unsere Forderungen haben wir zusammen mit anderen Verbänden, mit dem Landeselternbeirat und mit dem Landesschülerbeirat im vergangenen Jahr in einem Papier formuliert. Wir wünschen uns zum Beispiel einen noch stärkeren Aufforderungscharakter. Manche Ganztagsschulen sind noch sehr zögerlich, was die Monetarisierung betrifft, sie wissen nicht, was da auf sie zukommt. Um die Monetarisierung umzusetzen, braucht es Budgets oder eine Mindestquote. Auch würden wir uns ein Jahresgespräch als Mindestkommunikation wünschen. Unsere Aufgabe ist es, die wachsende Zahl der Ganztagsschulen mit der gewohnten Qualität und Verlässlichkeit zu begleiten.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Kategorien: Ganztag vor Ort - Lernkultur und Unterrichtsentwicklung
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