„Gemeinsames Verständnis von Ganztagsqualität“ : Datum: Autor: Autor/in: Stepahn Lüke
Der kommende Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder, ein gemeinsames Verständnis von Qualität in multiprofessionellen Teams und gute Fachkräfte – diese Themen bewegten auf der didacta in Köln.
Anders als vor zwei Jahren zog die Bildungsmesse didacta in diesem Jahr wieder deutlich mehr Interessierte in die Kölner Messehallen. 63.000 Gäste wurden gezählt. Themen rund um den Ganztag in Deutschlands Schulen lockten dabei viele an die Ausstellungsstände und zu den Diskussionsforen. Auf besonderes Interesse stieß der Auftritt der Kooperationsgemeinschaft Ganztag. Zu dieser haben sich der Ganztagsschulverband mit der Akademie für Ganztagspädagogik, der Bundesarbeitsgemeinschaft Bildung und Erziehung in der Kindheit (BAG BEK) e.V. und der Impulse Akademie, die 2021 die Fachtagung des Amtes für Schule und Bildung in Freiburg „Qualität im Ganztag – Kinder außerunterrichtlich begleiten“ unterstützt hatte, zusammengeschlossen.
Große Resonanz beim Ganztagsschulverband
Am Stand der Kooperationsgemeinschaft äußerten viele Gäste ihre Zufriedenheit darüber, dass der Ganztag hier die Sichtbarkeit erhielt, die an anderen Stellen auf der Messe vermisst werde. Die Gespräche machten den großen Bedarf an Vernetzung, guten Beispielen und den Transfer der Themen im Ganztag deutlich. Immer wieder wurde beispielsweise die Kooperation zwischen Schule und außerunterrichtlichen Partnern als Baustelle genannt. Die Informationsmaterialien am Stand stießen auf so großes Interesse, dass die meisten davon nach dem Ende der didacta vergriffen waren. „Es besteht eigentlich kein Zweifel, dass wir im kommenden Jahr wiederkommen“, kündigte Dr. Volker Titel von der Akademie für Ganztagspädagogik stellvertretend für die Kooperationsgemeinschaft an.
Extrem gut besucht war auch der Fachtag „Bildung neu denken“ der Kooperationsgemeinschaft. Ina Kaul, Professorin für Soziale Arbeit an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst (HAWK) Hildesheim stellte unter der Überschrift: „Was brauchen große Kinder? Qualität aus Kindersicht im Ganztag“ die entwicklungspsychologischen Bedürfnisse der Kinder dar und betonte, dass Bildung als fortlaufender Prozess zu begreifen sei, sich selbst und andere wahrzunehmen, zu verstehen und zu reflektieren, über die Aneignung von Wissen hinaus. Sie präsentierte unter anderem die Ergebnisse der Studie „Ganztag aus Kinderperspektive von Kindern im Grundschulalter“ (2021) von Bastian Walther, Iris Nentwig-Gesemann und Florian Fried. Ziel eines guten Ganztags sei es demnach, dass Kinder sich als „selbstwirksam“ erfahren und dass der Ganztag ein Lern- und Lebensort ist, der Bildung ermöglicht.
Christoph Bülau, Erziehungswissenschaftler an der Universität Leipzig und 2. Vorsitzender des Ganztagsschulverbands e.V., wies aus der Perspektive der Schulentwicklungsforschung darauf hin, dass Ganztag nicht in erster Linie die meist zusätzlichen, freiwilligen Angebote am Nachmittag meint. „Wenn wir an die dringend notwendige Veränderung der Lernkultur, die Konzeptentwicklung, die Öffnung der Schule, die Raumgestaltung, die Rhythmisierung, oder das Arbeiten in multiprofessionellen Teams denken, wird deutlich, dass Ganztag ein Synonym für Schulentwicklung insgesamt ist.“
„Normalität“ Ganztag
Die Vorsitzende des Ganztagsschulverbands Eva Reiter, selbst Ganztagskoordinatorin der Grund- und Stadtteilschule Alter Teichweg in Hamburg, zeigte anhand ihrer Schulpreisträger-Schule, wie ein umfassendes Verständnis von guter Ganztagsschule als gutem Ort gelingen kann. „Wenn Gäste zu uns an die Schule kommen, um im Ganztag zu hospitieren, müssen wir unseren Schülerinnen und Schülern immer erst einmal erklären, was das sein soll. Unsere Kinder kennen nämlich keinen Unterschied zwischen Unterricht, Ganztagsangeboten und Angeboten von Kooperationspartnern. Bei uns ist das einfach eine Schule, und zwar für alle.“
Um die wichtige Personalfrage ging es im Teil „Notlösung oder Chance? – Qualifizierung für Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger im Ganztag“. Ulrike Glöckner von der impulse akademie und Dr. Anna-Maria Seemann von der Akademie für Ganztagspädagogik zeigten auf, warum im Ganztag viele Menschen tätig sind, die keine formale pädagogische Qualifikation mitbringen. Sie berichteten anhand einiger Beispiele, welche Möglichkeiten zur Qualifizierung für diese derzeit angeboten werden und welche Inhalte die Qualifizierungskurse haben. Abschließend skizzierten sie einige offene Fragen, die für Anbieter von Weiterbildungen immer noch bestehen, wie die des Fachkräfteangebots und auch die Frage der Anerkennung von Weiterbildungen. Sie diskutierten mit den Teilnehmenden deren Erfahrungen und Lösungsideen. Zukünftig beantwortet werden müsse, welche Umfänge einer Qualifizierung notwendig und angemessen sind.
Ein Blick auf die KMK-Empfehlungen
Den Abschluss des Fachtages bildete eine Podiumsdiskussion, die den Titel des Fachtages „Bildung neu denken“ aufgriff. In deren Mittelpunkt stand die Qualität des Ganztags und dabei insbesondere die im Oktober 2023 von der Kultusministerkonferenz verabschiedeten „Empfehlungen zur Weiterentwicklung der pädagogischen Qualität der Ganztagsschule und weiterer ganztägiger Bildungs- und Betreuungsangebote für Kinder im Grundschulalter“.
An dem von Ulrike Glöckner und Volker Titel moderierten Podium beteiligten sich neben Florian Fabricius von der Bundesschülerkonferenz und Matthias Ritter-Engel, Referent im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Inés Günther, die stellvertretende Leiterin der Schulkindbetreuung im Adolf-Reichwein-Bildungshaus der Stadt Freiburg, Helmut Klemm, der Schulleiter der Eichendorffschule Erlangen, sowie die Erziehungswissenschaftlerin Katja Tillmann von der Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF) des Forschungsverbunds Deutsches Jugendinstitut / Technische Universität Dortmund.
Die lebhafte Diskussion, in die auch Fragen aus dem Publikum einbezogen wurden, beschäftigte sich unter anderem mit Fragen der Bund-Länder-Zuständigkeiten, die durch das Grundgesetz vorgegeben sind. Bezogen auf die KMK-Empfehlungen wurde beispielsweise die Wichtigkeit des Zusammenspiels der Systeme Schule und Jugendhilfe betont, die sich auch auf ministerieller Ebene wiederfinden müsse. Souverän beantwortete Matthias Ritter-Engel die Frage, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn die Empfehlungen gemeinsam mit der Jugend- und Familienkonferenz der Länder (JFMK) erarbeitet worden wären. „Ich schaue lieber auf das halbvolle Glas. Ich freue mich über das Papier, das absolut Jugendhilfe-kompatibel ist.“
Des Weiteren ging es um Fragen der Fachkräftegewinnung und -qualifikation, wozu JFMK und KMK im Oktober 2023 die Einsetzung einer gemeinsamen Arbeitsgruppe beschlossen haben. Auf die Bedeutung der Schülerpartizipation für die Entwicklung des Ganztags konnte Fabian Fabricius pointiert hinweisen. Den Schlusspunkt setzte Helmut Klemm aus Erlangen, dessen Eichendorffschule den Deutschen Schulpreis 2023 gewann, mit seiner Antwort auf die Frage aus dem Publikum, ob denn die gebundene Form des Ganztags die bessere sei: „Ja. Eindeutig ja. Ich kann mir nicht vorstellen, wie man mit einer Halbtagsschule plus Betreuung am Nachmittag die Potenziale des Ganztags erschließen kann.“
Qualifiziertes pädagogisches Personal für den Ganztag
Auf große Resonanz stieß auf der didacta schließlich auch eine Veranstaltung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW): die von Martina Schmerr und Alessandro Novellino moderierte Diskussion „Multiprofessionelle Teams im Ganztag – verschiedene Perspektiven auf gemeinsame Ziele“. Als Gäste begrüßten sie ebenfalls eine Vertreterin des Bundesfamilienministeriums, die Leiterin des Referats 515 – Ganztagsbetreuung von Grundschulkindern Marion Binder sowie Doreen Siebernik vom GEW-Hauptvorstand und wiederum die Bildungsforscherin Katja Tillmann. Einen Schwerpunkt der Gesprächsrunde stellte der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder ab 2026 dar.
Dabei spielte die Frage nach dem pädagogischen Personal und dessen Zusammenarbeit eine gewichtige Rolle. Katja Tillmann legte ein Stück weit den Finger in die Wunde als sie anmerkte: „Wir wissen gut Bescheid über das Personal und seine Qualifikation in der Kinder- und Jugendhilfe. Aber es existiert keine Übersicht darüber, wer im Ganztag arbeitet.“ Nach ihren Erkenntnissen wäre die Zahl nicht pädagogisch qualifizierter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Ganztag deutlich höher als in anderen Bereichen der Jugendhilfe.
Tillmann: „Diese pädagogischen Laien sind nicht schlecht. Aber sie sollten aus unserer Sicht mindestens eine pädagogische Grundausbildung erhalten.“ Marion Binder stimmte ausdrücklich zu und verwies darauf, dass das Institut für Soziale Arbeit e.V. in Münster und die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung vom BMFSFJ den Auftrag erhalten hätten, ab März eine solche Basisqualifikation zu entwickeln.
Wunsch nach konkreten Praxisbeispielen
Binder ging ebenfalls auf die KMK-Empfehlungen zum Ganztag ein und gestand: „Vor einiger Zeit hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass es eine solche Zusammenfassung eines gemeinsamen Verständnisses von Qualität gibt.“ Sie verwies auf den bevorstehenden Ganztagskongress des BMBF und des BMFSFJ am 20. und 21. März in Berlin. Dort werde es ganz konkret um die Zusammenarbeit multiprofessioneller Teams gehen. Auf diese und da speziell auf die pädagogischen Fachkräfte bezog sich Doreen Siebernik. Sie meinte: „Wir brauchen gutes, qualifiziertes Personal mit pädagogischen Kenntnissen und nicht nur Menschen mit dem Herz am rechten Fleck.“
Ein Praxisbeispiel gelingender Kooperation präsentierte schließlich die Johanniter Unfall-Hilfe. Unter dem Motto „Guter Ganztag bei den Johannitern“ zeigte André Lukas, Fachbereichsleiter bei der Johanniter-Unfall-Hilfe, Regionalverband Östliches Ruhrgebiet, einige Gelingensfaktoren für die Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfe und Schule auf und stellte unter anderem Einsatzmöglichkeiten von Freiwilligendienstleistenden im Ganztag auf. Kommentar eines Gastes: „Solche Beispiele sollten auf der didacta viel häufiger dargestellt werden.“
Kategorien: Kooperationen
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