"Ganztagsschulen gewinnen einen neuen Blick auf das Kind" : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Dr. Günter Warsewa, Dr. Ulrike Baumheier und Claudia Fortmann von der Universität Bremen untersuchen in ihrem vom BMBF geförderten Forschungsprojekt die "Stadtteilbezogene Vernetzung von Ganztagsschulen".

Online-Redaktion: Dr. Baumheier, im vergangenen Jahr haben Sie einen Aufsatz über die "Erfahrungen mit lokalen Bildungsnetzwerken in Großbritannien und den Niederlanden" veröffentlicht. Sind diese Länder in der Etablierung solcher Netzwerke weiter als Deutschland?

Ulrike Baumheier: Es gibt dort längere Erfahrungen mit quartiersbezogenen Konzepten der Vernetzung von Schule und Stadtteil. Wir haben uns beispielsweise intensiv mit den Vensterscholen im niederländischen Groningen beschäftigt. Dort arbeitet man seit etwa 15 Jahren mit einem kommunalen Konzept, anhand dessen in jedem Stadtteil eine Vensterschool - ein Netzwerk von mindestens einer Grundschule mit anderen Partnern - geschaffen worden ist..

In Großbritannien gibt es seit fünf Jahren das Programm "Extended Schools", das ebenfalls darauf abzielt, Schulen stärker mit anderen Partnern in der Kommune zusammen zu bringen.

Online-Redaktion: Kann Deutschland diese Erfahrungen für den Aufbau eigener Bildungslandschaften nutzen?

Baumheier: Wir können uns ansehen, welche Erfolgsbedingungen und Faktoren beim Aufbau der Bildungsnetzwerke entscheidend gewesen sind und welcher Unterstützung es durch die Kommunen bedarf. Natürlich lässt sich manches nicht eins zu eins übertragen - allein schon deshalb nicht, weil sich das System der Jugendhilfe und der sozialen Sicherung in den Niederlanden und Großbritannien von unserem unterscheidet.

Online-Redaktion: Welche Philosophie speist das Konzept lokaler Bildungslandschaften?

Baumheier: Der deutsche Städtetag definiert lokale Bildungslandschaften als neue Governanceformen in der Bildungspolitik, nämlich als "vernetzte Systeme von Bildung, Erziehung und Betreuung". Schule, Kita, Familienberatung, Polizei, Sportvereine, Kultureinrichtungen und weitere Partner sollen im Sozialraum zusammenarbeiten und  Bildungs- und Lernprozesse auf der Grundlage der individuellen Potentiale des Individuums und deren Förderung in der Lebensperspektive organisiert werden. Eltern und Familien sollen als zentrale Bildungspartner einbezogen werden.

Online-Redaktion: Mit ihrem Forschungsprojekt "Stadtteilbezogene Vernetzung von Ganztagsschulen" untersuchen Sie an der Universität Bremen Bildungslandschaften in Deutschland. Wie sind Sie zu dieser Fragestellung gekommen?

Baumheier: Die erwähnten internationalen Beispiele zeigen uns, dass die Intensität und Qualität von Kooperation und Vernetzung von Schule und Stadtteil nicht nur vom Engagement der Schule und der Partner, sondern auch stark von durch Kommune und Land gesetzten Rahmenbedingungen abhängig sind. Wir untersuchen, wie Ganztagsschulen in ihren Quartieren mit anderen Institutionen zusammen arbeiten und welche Faktoren auf den drei Ebenen Quartier, Kommune und Land diesen Prozess unterstützen können.

Dazu ist es notwendig, unterschiedlich strukturierte Quartiere, aber auch verschiedene Kommunen und Bundesländer zu vergleichen. Deshalb bearbeiten wir sechs Fallstudien in Bremen, Dortmund und Essen. In jeder dieser Städte untersuchen wir ein Netzwerk in einem sozial benachteiligten und in einem sozial privilegierten Quartier.

Online-Redaktion: Wie ist Ihre Wahl auf diese drei Städte gefallen?

Baumheier: Die Städte sollten in ihrer Größenordnung vergleichbar sein. Unser Fokus liegt auf dem Grundschulbereich - und da sind Bremen und Nordrhein-Westfalen wegen Ihrer unterschiedlichen Ganztagsschulkonzepte interessant: Die Hansestadt verfolgt ein gebundenes Konzept, während das Flächenland auf offene Ganztagsschulen setzt. Wir möchten herausfinden, ob die unterschiedlichen Organisationsformen Unterschiede in der Zusammenarbeit bedingen.

Die Schulen schließlich sind in Kooperation mit den Schul- und Jugendämtern ausgesucht worden. So luden in Dortmund und Bremen unsere Kooperationspartner Ganztagsschulen jeweils zu einer Informationsveranstaltung ein, auf der wir unser Forschungsprojekt vorstellten und Schulen ihr Interesse an einer Mitwirkung äußern konnten.

Online-Redaktion: Welche Kriterien legten Sie der Auswahl der Schulen zu Grunde?

Baumheier: Uns war wichtig, dass die Schulen über eine längere Ganztagsschulerfahrung verfügten und man daher einen Entwicklungsprozess nachvollziehen konnte. Und wie erwähnt sollten die Schulen in einem sozial unterprivilegierten und in einem sozial privilegierten Stadtteil liegen.

Online-Redaktion: Welche Fragestellungen verfolgen Sie mit Ihrer Studie?

Baumheier: Das Thema "Schule und Stadtteil" ist auch ein Bestandteil der großen, bundesweiten Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG). Dort untersucht man die Einbindung von außerschulischen Partnern. Wir weiten diesen Blick auf die institutionelle, sozialräumliche Vernetzung der Schule im Stadtteil. Durch diesen qualitativen Ansatz haben wir die Möglichkeit, sehr genau auf Gelingens- und Misslingensbedingungen zu schauen.

Uns leiten dabei zwei zentrale Fragen: Welchen Einfluss hat die Ganztagsschulentwicklung auf Vernetzung und Kooperation von Schulen im Stadtteil? Und welche Faktoren auf landespolitischer, kommunaler und Stadtteilebene befördern und behindern die Vernetzung von Ganztagsschulen mit dem Stadtteil? Am Ende soll unser Projekt Empfehlungen für Schulträger und Länderressorts ableiten, wie eine gezielte Unterstützung am besten gelingen kann.

Online-Redaktion: Wie führen Sie die Studie durch?

Baumheier: Wir verwenden einen Methodenmix: Wir führen Experteninterviews mit Vertretern von Land und Kommunen. Sehr ausführlich sprechen wir mit den Schulen, deren Partnern, Stadtteilvertretern und Eltern. Das wird durch Fokusgruppen ergänzt: Wir brachten in den einzelnen Quartieren jeweils die Vertreter der Schulen und der Partner zusammen und erhielten einen guten Überblick über den Stand der Kooperation, über Hemmnisse und fördernde Faktoren. Das ergänzen wir durch eine Dokumentenanalyse und teilnehmende Beobachtungen in Vernetzungsgremien.

Online-Redaktion: Wie viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stehen Ihnen zur Verfügung?

Baumheier: Unser dreiköpfiges Team ist bewusst interdisziplinär zusammen gesetzt. Unser Projektleiter Dr. Günter Warsewa ist Stadtsoziologe, meine Kollegin Claudia Fortmann ist Diplompädagogin und ich bin Verwaltungswissenschaftlerin.

Online-Redaktion: An welcher Stelle stehen Sie derzeit in Ihrem Projekt?

Baumheier: Das Projekt ist auf zwei Jahre angelegt und endet im Dezember 2009. Die beschriebenen methodischen Schritte sind durchgeführt und die empirischen Erhebungen weitgehend abgeschlossen. Im Moment werten wir das Material aus. Im Herbst werden wir unsere bisherigen Ergebnisse in den Untersuchungsstädten vorstellen und mit den Akteuren mögliche Schlussfolgerungen und Empfehlungen diskutieren.

Online-Redaktion: Können Sie bereits Tendenzen aus dem ausgewerteten Material erkennen?

Baumheier: In den von uns untersuchten Quartieren war nicht die Gründung der Ganztagsschule die Inititalzündung für die Vernetzung von Schule und Stadtteil. Alle Schulen in unserer Fallstudie haben bereits vorher in unterschiedlichen Ausmaßen mit Partnern im Stadtteil zusammen gearbeitet. Trotzdem kann man einen positiven Einfluss durch die Ganztagsschule auf die Entwicklung feststellen: Der verlängerte Schultag bietet die Möglichkeit, wenn nicht sogar die Notwendigkeit, zusätzliche Partner einzubinden.

In vielen Fällen beschränkt sich die Beziehung zwar auf eine Dienstleistungsebene: Die Schule kauft ein Musikangebot ein, oder Vereine bieten Sport in der Schule an. Es gibt aber auch Beispiele, bei denen sich dies zum verstärkten inhaltlichen Austausch weiter entwickelt hat. Wenn ein Jugendhilfeträger als Träger des Ganztags hinzukommt, wird dieser von den Schulen als wichtigster Partner wahrgenommen.

Man kann ebenfalls feststellen, dass mit der Ganztagsschulentwicklung neue Themen und Perspektiven in die Schulen gekommen sind: Wir hören aus manchen Schulen, dass sie sich jetzt verstärkt mit familienpädagogischen Themen und Fragen des sonderpädagogischen Förderbedarfs auseinander setzen. Die Schulen gewinnen einen neuen Blick auf das Kind, und dies führt zu neuen Anknüpfungspunkten zu anderen Institutionen im Stadtteil, die über entsprechende Kompetenzen in diesen Themengebieten verfügen.

Online-Redaktion: Welche Rahmenbedingungen begünstigen die Entwicklung stadtteilbezogener Vernetzung?

Baumheier: In unseren Fallstudien ist die Vernetzung in sozial benachteiligten Quartieren immer stärker als in anders strukturierten Quartieren. Der Problemdruck ist dort höher und führt zu der Einsicht, dass eine Institution allein nicht in der Lage ist, mit den vielfältigen Problemen der Kinder und ihrer Familien fertig zu werden.

Häufig gibt es in solchen Bezirken einen Quartiersmanager, der Vernetzung und Kooperation initiiert und organisiert. Wir haben festgestellt, dass solchen Koordinatoren eine große Bedeutung insbesondere bei der Verstetigung von Kooperationen zukommt.

Auf der kommunalen Ebene scheint es wichtig zu sein, dass auch dort eine Koordination zwischen den verschiedenen beteiligten Fachpolitiken, insbesondere zwischen Bildung und Jugendhilfe, stattfindet. Die Dortmunder Ganztagsgrundschulen werden zum Beispiel von einem ämterübergreifenden "Familienprojekt" betreut, was die Akteure in den Quartieren als sehr positiv bewerten.

Unterstützungs- und Serviceleistungen durch die Kommune werden allgemein als hilfreich empfunden. Dazu gehören gemeinsame Fortbildungen für Lehrer und pädagogische Mitarbeiter oder die Organisation von Treffen zum Erfahrungsaustausch.

Online-Redaktion: Wie würde denn die wesentliche Empfehlung lauten, die sie - aus diesen Erkenntnissen gewonnen - geben könnten?

Baumheier: Wichtig erscheinen mir sowohl die horizontale Koordination zwischen den verschiedenen Fachpolitiken als auch eine gut funktionierende vertikale Koordination zwischen Stadtteil, Kommune und Land.

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