Ganztagsschule im Verband : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Elisabeth Reinert leitet den Ganztagsschulverband Schleswig-Holstein. Die engagierte Pädagogin im Unruhestand berichtet im Interview über ihren Verband und die Suche nach neuen Mitstreiterinnen und Mitstreitern.

Online-Redaktion: Frau Reinert, Sie haben sich scherzhaft als Dinosaurier an Ihrer Ganztagsschule bezeichnet...

Elisabeth Reinert © Ganztagsschulverband

Elisabeth Reinert: Ich habe 32 Jahre an einer sehr lebendigen Ganztagsschule, an der Holstentor-Gemeinschaftsschule in Lübeck gearbeitet, bin durch vielerlei Geschicke der Schulentwicklung gegangen, habe verschiedene Schulleitungen und Landesregierungen und die eine oder andere Reform erlebt. Da fühle ich mich schon so ein bisschen wie ein Dinosaurier. Ich bin sehr gerne an dieser Schule gewesen und habe mit Freude mit dem Schulleitungsteam und dem Kollegium zusammen vielerlei Dinge entwickelt und umgesetzt.

Online-Redaktion: Wie sind Sie auf das Thema Ganztagsschule aufmerksam geworden?

Reinert: Bereits in meiner Studienzeit an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main habe ich ein Praktikum an einer Ganztagsschule gemacht. Dort habe ich auch schon den Ganztagsschulverband kennen- und schätzen gelernt. 1987 kam ich an die Holstentor-Schule, das war damals die einzige Ganztagsrealschule in Schleswig-Holstein mit einem teilgebundenen Angebot. Von Klasse 5 bis 10 waren jeweils zwei Züge im gebundenen Ganztag bis 15.40 Uhr.

Online-Redaktion: Wie konnten Sie sich einbringen?

Reinert: Wir haben ein Team aus vier Lehrkräften gebildet, um das Ganztagsangebot konzeptionell, organisatorisch und inhaltlich weiterzuentwickeln. Zum Beispiel haben wir die Angebote der Mittagsfreizeit durch Bewegungs- und Kreativangebote ergänzt und verfeinert. Wir wollten die Angebote der Arbeitsgemeinschaften immer wieder abwechslungsreich und schülerorientiert gestalten. Eine Frage war zum Beispiel, wie man den Ganztag in den Klassen 9 und 10 gestaltet, in denen die Schülerinnen und Schüler schon andere Interessen hatten. Das führte schließlich zur Reduzierung des verpflichtenden Ganztags auf die Jahrgänge 5 bis 8.

Auch hat uns beschäftigt, wie wir möglichst alle Lehrerinnen und Lehrer in den Ganztag einbeziehen können. Für uns war es wichtig, eine verlässliche Verzahnung von Vor- und Nachmittag zu installieren. Es ist uns gelungen, mit möglichst wenig unterschiedlichen Lehrkräften pro Klasse ein schönes, für die Schülerinnen und Schüler tragendes Beziehungssystem aufzubauen. Wir haben erreicht, dass nicht nur ein Mittagessen angeboten wurde, sondern dass es drei Essen zur Auswahl gibt. Wir haben Caterer gewechselt und die Räume für das Mittagessen kind- und jugendgerechter gestaltet. So entstand unter anderem eine Terrasse, auf der die Schülerinnen und Schüler bei schönem Wetter draußen essen können.

Online-Redaktion: Welche Schlüssel sehen Sie für eine gute Schulentwicklung, gerade auch im Ganztag?

Reinert: Wenn ich darauf schaue, was wir an der Holstentor-Gemeinschaftsschule erreicht haben, dann sehe ich grundsätzlich Kreativität, Ausdauer und Beharrlichkeit als Grundlagen an. Es ist wichtig, dass die Schulleitung innovativ ist und sich auf den Weg macht, den Ganztag zu entwickeln. Dazu muss sie Partner gewinnen. Entscheidend ist der Draht zum Schulträger, insbesondere wenn es um Räume und Ausstattung geht. Natürlich gehört ein engagiertes Kollegium dazu, das die Entscheidungen mitträgt.

Es sollten Konferenzen stattfinden, die sich exklusiv dem Thema Ganztag widmen. An der Holstentor-Gemeinschaftsschule hatten wir immer am Anfang des Schuljahres eine Ganztagskonferenz, an der auch alle nichtschulischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter teilnahmen. Eine gute Schulentwicklung sollte ebenso durch die Partizipation von Schülerinnen und Schülern und von Eltern getragen werden. Nicht vergessen dürfen wir eine gute Personalausstattung in einem multiprofessionellen Team, mit gut ausgebildeten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Online-Redaktion: Was zeichnet für Sie eine Ganztagsschule aus?

Unterricht
Holstentor-Gemeinschaftsschule: Inklusiver Unterricht in Doppelbesetzung. © Holstentor-Gemeinschaftsschule

Reinert: Ich würde es beschreiben mit „Lernen über den Lehrplan hinaus“. Der Anspruch, den ich persönlich an die Ganztagsschule stelle, ist eine hohe Qualität. Neben Unterrichtsinhalten, qualifizierten Abschlüssen und erfolgreichen Übergängen müssen kulturelle Bildung, Entwicklung von Sozialkompetenz, Befähigung zur Selbstständigkeit, Partizipation und Inklusion stehen. Das alles lässt sich mit mehr Zeit und einem rhythmisierten Schultag, der Vor- mit Nachmittag verbindet, besser realisieren.

Online-Redaktion: Wie schätzen Sie die Ganztagsschule in Schleswig-Holstein insgesamt ein?

Reinert: Hier gibt es überwiegend offene Ganztagsschulen. Die zahlenmäßige Entwicklung ist positiv. Es gibt den offenen Ganztag von der Grundschule bis zum Gymnasium. Diese Entwicklung ist durch das IZBB-Programm, bei dem in Schleswig-Holstein 135 Millionen Euro investiert wurden, und die Arbeit der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ angeschoben und stark unterstützt worden. Gebundene Ganztagsschulen gibt es allerdings nur 30. Da dürften es nach Auffassung unseres Verbandes gerne mehr werden.

Ganz aktuell gibt es seit dem 1. Januar 2020 die Richtlinie „Ganztag und Betreuung“ in Schleswig-Holstein. Die Richtlinie des Bildungsministeriums unterstützt die Idee von der Schule als Lern- und Lebensort und strebt den Ausbau des offenen Ganztags und ganztägiger Betreuungsangebote in der Primarstufe an. Besonders bemerkenswert ist, dass sogenannte Perspektivschulen, das sind gebundene Ganztagsschulen in einem schwierigen sozialen Umfeld, nun zusätzliche Personal- und Zeitkontingente erhalten. Hier hat sich in den vergangenen Jahren das Bewusstsein entwickelt, dass es sich lohnt, an diesen Standorten gezielt mehr zu investieren.

Online-Redaktion: Welche Anfragen werden an Sie als Landesverband herangetragen?

© Ganztagsschulverband

Reinert: Gerade in den letzten Jahren äußerten Schulleitungen, aber auch Lehrkräfte, pädagogische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Kooperationspartner einen sehr viel höheren Bedarf an Zeit. Lehrkräfte brauchen hauptsächlich mehr Zeit, um sich austauschen und gemeinsam etwas umsetzen zu können. Die Beanspruchung ist in den vergangenen 20 Jahren nochmals immens gewachsen. Man muss sich klarmachen, dass Schule nicht immer nur nett und leicht ist und alles so läuft, wie man es gerne hätte, sondern es viele Konflikte zu händeln und Interessen auszugleichen gilt, das beginnt bei der Erfüllung der Stundentafel. Für manche Lehrkräfte ist der Spagat zwischen Wissensvermittlung, Inklusion und erzieherischen Aufgaben bis zur Belastungsgrenze beanspruchend.

Die theoretische Diskussion über Lehrergesundheit ist eine Sache. Die konkrete Umsetzung, beispielsweise die Ausstattung mit Lehrerarbeitsplätzen oder mehr Zeit für Absprachen mit Schulsozialarbeit, Jugendhilfe, Kooperationspartnern und Eltern, eine andere. Die durch Corona bedingten Einschränkungen im Schuljahr 2020/2021 haben einmal mehr deutlich gemacht, wie wichtig das Angebot Ganztagsschule mit verlässlichen Beziehungen und einem täglichen warmen Mittagessen für viele Kinder und ihre Familien ist.

Online-Redaktion: Ihnen ist wichtig, dass der Landesverband Schleswig-Holstein neuen Schwung erhält?

Reinert: Ja. Wir haben uns schon 1997 in Lübeck während eines Bundeskongresses des Ganztagsschulverbandes gegründet. Und momentan liegt unser Landesverband etwas im Dornröschenschlaf, denn Vorstandsmitglieder haben aus verschiedenen Gründen aufgehört. Als kommissarische Leiterin biete ich den Schulen und anderen Institutionen weiter Fachgespräche und Beratungen auf Nachfrage an. Doch ich suche nach neuen Unterstützerinnen und Unterstützern, um unseren Verband wiederzubeleben. Wenn dieses Interview dazu beiträgt, würde ich mich sehr freuen!

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Zur Person:

Elisabeth Reinert, Jg. 1953, leitet kommissarisch den Ganztagsschulverband Schleswig-Holstein. Nach Kindheit und Jugend im Ruhrgebiet absolvierte sie ein Lehramtsstudium für die Sekundarstufe I in den Fächern Geografie, Sozialkunde und Kunst sowie ein Zusatzstudium Pädagogik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Anschließend war sie Lehrerin an einer Gesamtschule in Frankfurt am Main. 1980 wurde sie in Schleswig-Holstein Lehrerin an einer Förderschule Lernen mit zusätzlichen Aufgabenbereichen und 1987 Lehrerin an der Holstentor-Realschule bzw. Gemeinschaftsschule in Lübeck. Sie war Mentorin für das Fach Kunst und Koordinatorin für Ganztag und Berufsorientierung. 2019 wurde sie als Koordinatorin in den Ruhestand verabschiedet.

Im Ganztagsschulverband ist sie Mitglied des Bundesvorstandes sowie Landesvorsitzende in Schleswig-Holstein.

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